Nach einer Dante-Lektüre

[157] Aus schwarzgewordnem Bronze-Gruftendeckel

Sind die berühmten schweren alten Verse,

Kalt anzufühlen, unzerstörbar, tragend

Den Toten-Prunk, schwarzgrüne Wappenschilde

Und eine Inschrift, ehern auf dem Erz,

Die denken macht, doch keinen Schauer gibt.

Du liest und endlich kommst du an ein Wort,

Das ist, wie deine Seele oft geahnt

Und nie gewußt zu nennen, was sie meinte.

Von da hebt Zauber an. An jedem Sarg

Schlägt da von innen mit lebendgen Knöcheln

Das Leben, Schultern stemmen sich von unten,

Der Deckel dröhnt, wo zwischen Erz und Erz

Die schmalste Spalte, schieben Menschenfinger

Sich durch und aus den Spalten strömt ein Licht,

Ein Licht, ein wundervolles warmes Licht,

Das lang geruht im kühlen dunklen Grund

Und Schweigen in sich sog und tiefen Duft

Von nächtigen Früchten – dieses Licht strömt auf,

Und auf die Deckel ihrer Grüfte steigen,

Den nackten Fuß in goldenen Sandalen,

Die tausende Lebendigen und schauen

Auf dich und auf das Spiel gespenstiger Reihen

Und reden mehr als du begreifen kannst.

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 157-158.
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