Verse, auf eine Banknote geschrieben

[93] Was ihr so Stimmung nennt, das kenn ich nicht

Und schweige still, wenn einer davon spricht.

Kann sein, daß es ein Frühlingswogen gibt,

Wo Vers an Vers und Bild an Bild sich flicht,

Wenns tief im Herzen glüht und schäumt und liebt ...

Mir ward es nie so gut. Wie Schaum zerstiebt


Im Sonnenlicht mir jede Traumgestalt,

Ein dumpfes Beben bleibt von der Gewalt

Der Melodie, die ich im Traum gehört;

Sie selber ist verloren und verhallt,

Der Duft verweht, der Farbenschmelz zerstört,

Und ich vom Suchen matt, enttäuscht, verstört.


Doch manchmal, ohne Wunsch, Gedanke, Ziel,

Im Alltagstreiben, mitten im Gewühl

Der Großstadt, aus dem tausendstimmgen Chor,

Dem wirren Chaos, schlägt es an mein Ohr

Wie Märchenklang, waldduftig, nächtigkühl,

Und Bilder seh ich, nie geahnt zuvor.


Das Nichts, der Klang, der Duft, er wird zum Keim,

Zum Lied, geziert mit flimmernd buntem Reim,

Das ein paar Tage im Gedächtnis glüht ...

Mit einem Strauß am Fenstersims verblüht

In meines Mädchens duftig engem Heim ...

Beim Wein in einem Trinkspruch flüchtig sprüht ...


So faß ich der Begeistrung scheues Pfand

Und halt es fest, zuweilen bunten Tand,

Ein wertlos Spielzeug, manchmal – selten – mehr,

Und schreibs, wo immer, an der Zeitung Rand,

Auf eine leere Seite im Homer,

In einen Brief – (es wiegt ja selten schwer) ...
[94]

Ich schrieb auch schon auf eine Gartenbank,

Auf einen Stein am Quell, daraus sie trank,

Auf bunte Schleifen buntre Verse schier,

Auf einer Birke Stamm, weißschimmernd, blank,

Und jüngst auf ein zerknittert Stück Papier

Mit trockner Inschrift, krauser Schnörkelzier:


Ein Fetzen Schuld, vom Staate aufgehäuft,

Wie's tausendfach durch aller Hände läuft,

Dem einen Brot, dem andern Lust verschafft,

Und jenem Wein, drin er den Gram ersäuft;

Gesucht mit jedes erster, letzter Kraft,

Mit List, in Arbeit, Qualen, Leidenschaft.


Und wie von einem Geisterblitz erhellt,

Sah ich ein reich Gedränge, eine Welt.

Kristallklar lag der Menschen Sein vor mir,

Ich sah das Zauberreich, des Pforte fällt

Vor der verfluchten Formel hier,

Des Reichtums grenzlos, üppig Jagdrevier.


Der Bücher dacht ich, tiefer Weisheit schwer,

Entrungen aus des Lebens Qualenmeer,

Der Töne, aus der Sphären Tanz erlauscht,

Der Bilder Farbenglut, Gestaltenheer,

Der Becher Weins, daraus Begeistrung rauscht,

All' für das Zauberblättchen eingetauscht.


Der harten Arbeit untertän'ge Kraft,

Erlogner Liebe Kuß und Leidenschaft,

Die Jubelhymne und des Witzes Pfeil,

Was Kunst und was Natur im Wettkampf schafft,

Feil! alles feil! die Ehre selber feil!

Um einen Schein, geträumter Rechte Teil!


Und meiner Verse Schar, so tändelnd schal,

Auf diesem Freibrief grenzenloser Qual,

Sie schienen mir wie Bildwerk und Gezweig

Auf einer Klinge tödlich blankem Stahl ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – –

Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 1: Gedichte, Dramen, Frankfurt a.M. 1979, S. 93-95.
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