Der Oheim

[103] Ich habe die früheren Abschnitte mit Federn geschrieben, welche kurze Spalten hatten und vorn mehr breit als spitz abgekappt waren, gegenwärtig schnitt ich mir ein halbes Dutzend mit langen Spalten und nachgiebigen Spitzen. Einige darunter haben auch Zähne.

»Wozu diese kleinliche Bemerkung?«

Dazu, Herr Doktor, um Ihnen zu erklären, warum »Mein Oheim« anders geschrieben wird, als der »Avisbrief« und auch anders als die Knabenerinnerungen und die Familie.

»Sie hangen also von Ihrer Feder ab?«

Jawohl, Herr Doktor, sie ist ja mein Handwerkszeug. Der Jäger hängt von seinem Gewehr ab, der Fischer von seiner Angel, der Kaufmann von seinem Gelde, der Schneider von seiner Schere, der Philosoph von seinem System, der Aristokrat von seinem Rittertum, der Offizier vom Exerzierreglement, der Pietist von seinem Herrgott. Es hängt alles in der Welt von seinem Handwerkszeuge ab und die rechte Kunst besteht nur darin, das Handwerkszeug immer in gutem Stande zu erhalten, oder vielmehr in dem Stande, wie er sich für das gerade vorliegende Geschäft schickt.

Manches Handwerkszeug ist einfacher Art, zum Beispiel das des Philosophen, des Aristokraten, des Pietisten. Wird das System, das Rittertum, der Herrgott nur jeden Samstag blank gescheuert, so können damit jene Ouvriers schon wieder eine Woche lang zurechtkommen, der Philosoph kann das Leben in seiner Mausefalle einfangen, der Aristokrat sich blähen und bei Gelegenheit Speichel lecken, der Pietist Engelchen greifen, die Komödie verdammen und mit Gottes Hilfe Rehbraten essen. Beschwerlicher schon hat es der Schneider, er braucht große und kleine Scheren, der Jäger gar ist Büchsen benötigt und leichter Flinten, auch Schrotes[104] von verschiedenen Nummern, am meisten aber ist ein Sittenschilderer mit seinem Handwerkszeuge geschoren. Er muß Schwanenfedern haben, Rabenfedern, Stahlfedern, harte, weiche, stumpfe, spitze Federn, zuweilen auch Federn mit Zähnen, wenn die Sitten danach sind.

»Mein Geist regiert meine Feder.«

Deshalb wächst auch auf Ihren Domänen nur Windhafer.

»Sie scheinen des trockenen Tones satt, und der großen Verheißungen in der Einleitung müde zu sein.«

Nein, Herr Doktor. Aber der Weltgeist stimmt keinen trockenen Ton an, er schlägt zu gleicher Zeit alle Töne an, von dem Brummbaß der Kanonen bis zum Diskant der Pickelflöten hinauf, er stellt in demselben Salon Schlachtstücke und Farcen aus, er ist der moderne Tragiker, der auch in den ernstesten Katastrophen dem Grazioso seine Mission erteilt.

Ein Mann, der im Begriff ist, de bonne foi an seinen Schreibtisch zu treten, setzt sich weiter gar nichts vor, als die Feder gerade so zu schneiden, daß sie den Ton ungefähr treffen kann, den der Weltgeist bei der und der Passage anschlug. Die in der Dämonologie Erfahrenen wollen aber behaupten, in die Hand führen bei dieser Aktion allerhand Geisterlein, magnetisierten das Messer und von diesem aus den Kiel.

Zuweilen steckt der Weltgeist die Könige in das bunte Kleid. Karl der Zehnte hatte es an, als er bei schönem Abendwetter im Juli 1830 auf den Balkon seines Schlosses trat, sich des sanften Windes erfreute und sprach: der ist gut für meine Flotte von Algier. – Er gemahnt uns, wie Falstaff, da er im Garten des Friedensrichters Schaal war, von Pistol die fröhliche Botschaft empfing und ausrief: »Laßt uns Pferde nehmen, wessen sie auch sind; die Gesetze Englands stehen mir zu Gebote!« – Ich habe es nicht mit einem Grazioso so vornehmen Rangs, auch mit keinem, der Ordonnanzen brütete, oder nach fremden Pferden verlangte. Mein Grazioso war ein Bürgerlicher und ein Unschuldiger, aber ein Grazioso war er doch inmitten der großen Welttragödie und des ernsten Familiendramas.[105]

Er gehörte zu den Artikeln, die auf dem Lager nachgerade ganz eingegangen sind. Jede einigermaßen wohlassortierte Familie vor dreißig, vierzig Jahren besaß mindestens ein solches Exemplar, winklicht, in allerhand Spinnweben verfangen, kunterbunt. Wo sind sie geblieben? Wo ist die Komik des Lebens geblieben? Der Teufel hat sie nicht geholt. Der Verstand entführte sie. Das Lächerliche ist nach der noch immer brauchbarsten Definition ein Kampf mit dem Verstande; lange stand das Treffen im Gleichgewicht, endlich hat der Verstand gesiegt und die Triebe, Neigungen, Gedanken, die ihm das Widerspiel hielten, in den Sack gesteckt.

Es wurde sonst einem armen Teufel, wenn er auch mehr als gewöhnlichen Mutterwitz besaß, so schwer gemacht. Ein Poet, ein Nichtphilister war ein Familienunglück. Was sollten sie beginnen, wenn sie nicht geradezu Genies waren? Sie gingen unter die lächerlichen Figuren, wurden Sonderlinge, zuletzt komische Alte. Wo ist die Wiese, das Feld, der Wald für den Nachwuchs heutzutage? – Den ärmsten Teufeln wird es jetzt so leicht gemacht. Meistenteils sind komische Figuren verdorbene Talente. Woher sollen sie sich rekrutieren in einer Zeit, die nicht einmal ein Talentchen umkommen läßt, sondern bei jedem Quentlein Witz, Phantasie, Wissen gefällige Hebammendienste leistet? Seht die Legion junger Doktoren der Philosophie, auf einige Schulbrocken etabliert, von denen doch jeder noch sein Auditorium findet, den Froschlaich der Versemacher mit dem adäquaten Verleger ***, die großen Farbenkasten, Akademien geheißen, voll mittelmäßiger Maler, die nichts vermögen, als ihre Modelle abschreiben und doch diese Munda als Bilder verkaufen, die Herde abgerichteter Virtuosen, die – die – ich würde außer Atem kommen, wenn ich alle jetzt zur Blüte gebrachte Keimlein vom Ysops-Range aufzählte!

Herr Doktor, Sie, dessen Geist seine Feder regiert, erzählen Sie mir bei Gelegenheit Ihre Lebens- und Bildungsgeschichte. Ich will Ihnen von meinem Oheim Yorick erzählen. Sie wissen aus Ihrem Hamlet, welches Amt Yorick bei dem alten Könige von Dänemark bekleidete. Ich versichere Sie,[106] daß Sie kein Oheim Yorick werden, auch wenn Ihre Fräulein Schwester heiraten sollte.


Mein Oheim Yorick wäre, hätte ihn ein Graf oder ein reicher Patrizier erzeugt, ihm die besten Lehrer gehalten, und ihn nachher mit Wechseln und einem Führer versehen, durch Europa reisen lassen, wahrscheinlich ein bedeutender Mann, gewiß wenigstens ein geistreicher Mäzen geworden. Da aber nur ein armer Schulrektor sein Vater war, den er noch als Knabe verlor, da er auf dem Hallischen Waisenhause über Tertia nicht hinausgelangen konnte, weil er sich sein Stückchen Brot suchen mußte, und da er dann in Europa nichts weiter zu suchen hatte, als dieses Stückchen Brot, so wurde er eben nur mein Oheim Yorick.

Ich will es machen, wie Tristram Shandy es mit seinem Onkel Toby machte, ich will ihn beschreiben, dadurch daß ich sein Steckenpferd beschreibe.

Die Art der Schilderung, welche darin besteht, daß man sagt, was ein Ding nicht sei, scheint mir eine ganz vortreffliche zu sein. Der Zuhörer hat immer ein gewisses Vakuum in der Seele, von einigen Erwartungen umrandet, und indem man nun von diesen Erwartungen eine nach der anderen absticht; etwa wie der Gärtner auf seinem Beete das Loch erweitert, darin ein Baum treiben soll, desto größer wird das Vakuum, desto heißer die Begierde, es ausgefüllt zu empfinden, desto zufriedener später das Gemüt über jede noch so mäßige Füllung.

Ich will deshalb, Herr Doktor, zuvörderst Ihr Vakuum erweitern, und Ihnen vertrauen, was meines Oheims Steckenpferd nicht war.

Mein Oheim Yorick pflegte uns Kindern, nachmaligen jungen Leuten (denn seine Erzählungen blieben verschiedene Perioden hindurch dieselben) in seiner energischen Manier zu erzählen, er habe, als er Anno 1777 aus der Pforte des Hallischen Waisenhauses in die Welt getreten sei um Ökonom zu werden, acht ostensible Stücke in seiner Ökonomie besessen und mehr nicht, nämlich 1) einen runden groben[107] Hut; 2) einen Rock von schwarzem Kommißtuch; 3) eine Weste von demselben Stoff mit zinnernen Knöpfen; 4) ein Paar kurzer, gelber, lederner Inexpressibles; (der Oheim nannte dieses Stück deutsch;) 5) ein Paar schwarzer wollener Strümpfe; 6) ein Paar Hackenschuhe mit Zinnschnallen; 7) das Hallische Gesangbuch; 8) einen Kamm. – Von diesen acht Stücken habe er aber Nummer 7, das Gesangbuch, im ersten Wirtshause liegenlassen, denn er sei sich noch mit Schauder bewußt gewesen, wie oft er daraus unter freiem Himmel bei Winterfrost, wenn ein Missionar vom Waisenhause entlassen worden, mit den anderen Knaben, halbverklommen habe singen müssen.

Der Ideenkreis, auf den sich diese Erzählung bezog, gehörte nicht zu seinem Steckenpferde, denn er trug sie jederzeit ganz grimmig und giftig vor und spuckte dabei aus.

Er hatte sich während seiner kümmerlichen Jugend durch Fleiß und Rechtlichkeit so empfohlen, daß die Sterne ihm auf einmal günstig zu schimmern begannen. Ihm wurde, als er noch in seinen besten Jahren war, die Pachtung eines großen Staatsgutes zuteil, welches unter der französischen Herrschaft in das Los des Herzogs von Dalmatien fiel. Sowohl der König von Preußen als der Herzog von Dalmatien waren ihm gelinde Pachtherrn; man sah auf den sicheren Mann und nicht auf tausend Taler Pachtschillinge mehr. Er lebte daher wie ein Farmer von Old-England bequem und aus dem vollen, sah seinen Weizen vom fettesten Boden mit Vergnügen einfahren, fuhr selbst in seinem Landauer spazieren, und legte, wenn er einhundert Taler auf die Pacht einrollte, eine ebenso große Rolle für sich zurück.

Dies war der Beruf meines Oheims, aber nicht sein Steckenpferd.

Er war ein sehr korpulenter Mann und trug in der Regel einen kornblumfarbigen Leibrock mit Messingknöpfen.

Weder der Rock, noch seine Korpulenz machte ihm aber besondere Freude. Als Steckenpferd war also keines von beiden anzusehen.

Er war der Tourist der Familie. Nach Leipzig zur Messe reiste er wenigstens alle zwei Jahre. Tief in Thüringen war[108] er eingedrungen, ja sogar einmal bis nach dem Fränkischen hin geschweift, nach Bad Liebenstein. Dort hatte er einen innerlich illuminierten Berg gesehen, wie er sich ausdrückte. Auch zum Kongresse von Erfurt im Jahre 1808 war er gereist, und mit den beiden Kaisern im Theater gewesen; obgleich er zu dieser Freude sich in seidene Strümpfe bequemen müssen, das erstemal in seinem Leben. Napoleon, sagte er, habe aus seinem Fauteuil nicht ein Auge von der Darstellung abgewendet, wovon die gleiche Aufmerksamkeit aller Zuschauer die Folge gewesen. »Wie Talma spielte«, sagte er, »das war was Krasses«; er wollte damit die Erhabenheit des Spiels bezeichnen. Wir bekamen eine Nachahmung des berühmten Tragikers von ihm zu schauen, worüber uns vor Verwunderung die Haare zu Berg standen. In diesem wiederholenden Abbilde stach besonders der mit weit geöffneten Augen, zitternden Gesichtsmuskeln, donnernder Stimme vorgetragene Ausruf: »O mon père!« hervor.

Allein er setzte seinen Reiseberichten hinzu: der Wein sei in den Gasthöfen geschwefelt, man bekomme darin nur enge und schlechte Betten, müsse von dem unausstehlichen Gedränge bei festlichen Anlässen leiden und freue sich, wenn man sein Haus wieder erblicke. Er reiste aus Pflicht, um der Gefahr des Versauerns zu entgehen, auf seinem Steckenpferde ritt er aber unterwegs nicht.

Er liebte, seinen jugendlichen Zuhörern die ungeheuerlichsten Geschichten zu erzählen von ausgetretenen Bächen, von Wolkenbrüchen, von fremdartigem Getier, welches ihm in den Wäldern um sein Pachtgut aufgestoßen. Die alte Holzzelle, so hieß das Amt, war vor der Säkularisation ein Jungfrauenkloster gewesen; der Oheim hatte bei seinem Antritt ein zugeschüttetes Verlies aufnehmen lassen und darin wenigstens ein Dutzend Skelette von eingemauerten Nonnen gefunden. Schade, daß auch kein Knöchlein aufbewahrt geblieben war, da wir so gern etwas von diesen Schlachtopfern der Klosterzucht gesehen hätten! Er besaß einen Brunnen, über dem ein eigenes Haus sich erhob, in den Felsen gehöhlt, nur mittelst eines großen Tretrades zu benutzen, von wirklich[109] schauerlicher Tiefe, aber dem Oheim genügte diese Tiefe nicht, er behauptete, es gehe da unten von dem abgründlichen schwarzen Wasserspiegel ein Kanal nach dem süßen und salzigen See bei Seeburg. Von Jahr zu Jahr versprach er, sich mit uns in den Abgrund hinunterzulassen und unter den Bergen weg nach den Seen zu kahnen. Es ist aber nie etwas daraus geworden. Endlich trug der Oheim zu öfterem außerordentliche Dinge von seiner Brautfahrt und Anwerbung vor, bei welcher Romanze jedoch die Tante, die eine sehr ernste und gehaltene Frau war, das Zimmer zu verlassen pflegte.

Diese historisch-poetischen Übungen waren ein Splitter von des Oheims Steckenpferde; aber nicht der ganze Gaul.

Mich will bedünken, Herr Doktor, Ihr Vakuum sei jetzt groß genug geworden, Sie seien beinahe ganz leer. In diese Grube senke ich meines Oheims Steckenpferd.

Das Steckenpferd meines Oheims Yorick war, Steckenpferde zu haben. Ich will mich darüber deutlicher machen.

Ein jeder Mensch sollte billigerweise eine Jugend haben und seine Jugend genießen. Es ist einer der seltsamsten Mängel in einem Lebenslaufe, wenn der rechte Schimmer der ersten Tage fehlt, man kann sagen, daß alle späteren Bewegungen des Lebens dann etwas von den Zuckungen haben, die der Galvanismus hervorruft. Was für eine Jugend nun die hatte sein müssen, welcher die Ausstattung durch die acht beschriebenen Stücke zuteil geworden war, läßt sich unschwer erraten. Und gleichwohl hatte der arme Schelm im schwarzen Waisenhäuserrock empfunden, er habe Witz, Munterkeit, Sinne, Lust zu genießen, Drang zu lernen und zu erfahren. Glückliche Menschen hatten es sich vor seinen Augen an den wohlbesetzten Tafeln des Lebens schmecken lassen, er aber war genötigt gewesen, immer seitwärts vorbeizuschleichen und sich den Mund zu wischen. Ein ärgerlichlustiger Humor, ein verdrießliches Lachen bemächtigte sich seiner Seele. Das Leben rumorte ihm in den Gliedern und warf sich ihm, da es keinen rechten Ausbruch tun durfte, auf die Nerven.

Als er daher in Fülle und Wohlleben kam, setzte er sich[110] vor, das Versäumte nachzuholen. Nicht, daß er ausgerufen hätte: Jetzt will ich jung sein! sondern es machte sich ganz natürlich. Die versetzte Kindheit und Jugend trat an ihm gleichsam wie ein Ausschlag hervor. Alle Possen, Abenteuerlichkeiten, Gelüste, Schwabenstreiche, welche andere Menschen in ihren frühen Jahren abschäumen, drangen unserem Vierziger über die Haut und waren noch nicht erschöpft, als meine Erinnerung begann, wo der Oheim denn doch sein halbes Jahrhundert hinter sich hatte. Wir lebten in protestantischen Landen und deshalb hatte er kein wunderlicher Heiliger werden können, aber ein wunderlicher Kauz war er geworden, so wunderlich, wie Natur, die Enkelin Gottes, welche vom Großvater den Ernst, von sich selbst aber die Launen hat, nur je einen zu formieren imstande gewesen ist.


Er war der Puck, der Prospero, der Graf Hoditz unserer Jugend. Wenn wir als Kinder vom Anhaltschen aus in die Mansfeldschen Berge hineinfuhren an ausgewaschenen Stellen vorbei, die uns Abgründe bedünkten, wenn wir später als Studenten die Straße von Halle her über den salzigen und süßen See hinaus gewandert waren und nun in die grüne Hügelspalte eindrangen, an deren oberem Saume Holzzelle lag, so wehte es uns aus den Wipfeln der Waldbäume, von den engen und tiefen Seitenpfaden des Forstes an wie lauter Ahnung, Lust, Freiheit. Darauf zeigte sich das weiß und rote, weite, mauerumgebene Amt mit seinen Gärten, Höfen, Scheuern und Stallungen. Das geräumige Wohnhaus, worin eine Familie mit zwanzig Kindern vollaus Platz gehabt hätte, der Oheim aber mit der Tante kinderlos horstete, tat seine gastliche Pforte auf, gab uns bunte Erinnerungen, buntere Hoffnungen. Das Amt lag ganz einsam, die nächsten Menschenwohnungen waren über eine halbe Stunde entfernt, nach Eisleben hatte man eine starke Meile. Als Fouqué Mode geworden war und wir die »Fahrten Thiodolfs des Isländers« gelesen, nein! nicht gelesen, verschlungen hatten, nannten wir im Winter das durch unwegsame Schneelager von der Welt geschiedene Paar: Oheim Nefiolf und Base Gunhild.[111]

Aber im Sommer war es schön und lustig im alten Nonnenkloster, dem schon seit einem Säculo alle drei Gelübde fehlten. Nach der einen Seite liefen vom Amte die herrlichsten Kirschplantagen aus, die von weißschimmernden hellgrün-zitternden Birkenhölzchen umstanden waren; nach der andern Seite trat man aus dem Garten unmittelbar in die fettesten Wiesen. Sie senkten sich einige hundert Schritte weit zu Tale und der Eichen- und Buchenwald bot seine Schatten. In dem stach da und dort spitzes Geklipp hervor, Steinbrüche rissen sich dicht am Wege senkrecht abgeschnitten auf, hohe Mauern standen an einer einsamen Stelle wie Fingerzeige in verschollene Zeiten da, unten im Grunde aber rieselte zwischen Waldblumen ein Wässerlein, welches aus einer übermauerten Grotte, eiskalt und perlenklar entsprang, und der Nonnenbrunnen hieß. Man legte dieser Quellflut besondere heilende Kräfte bei; ich weiß nicht, wie es sich damit verhielt, gewiß aber war es, daß ihr Duft und Schaum das Erwachen zärtlicher Triebe förderte. In den Buchen umher fand sich mancher verschlungene Namenszug eingeschnitten, von einem Herzen umgeben, mancher Knabe und manches Mädchen liebten dorthin spazierenzugehen, und der Oheim, obgleich er an Liebessachen gern sein heiseres Schrauben und seinen schwerschrötigen Spott übte, störte doch eigentlich jene Baumbelustigungen und Promenaden nie, sondern führte eher, wenn er jemand dort unten im Nonnengrunde sah, seine übrige Gesellschaft andere Wege. »Denn«, pflegte er zu sagen, »es ist zum Verwundern, wieviel Heiraten schon bei mir gestiftet worden sind! Muß wohl am Boden liegen. Mag die Sache ihren Fortgang haben!«

Dort war also das Terrain, auf welchem der Oheim seine Steckenpferde tummelte. Er hatte eine außerordentliche Freude daran, allerhand Anlagen und Bauwerke zu machen. So waren nach und nach eine Festung, eine Eremitage, ein Tempel der Diana, ein Theater im Freien, ein Rittersaal, eine Rennbahn, und ein Belvedere entstanden. Von einer Teufelsbrücke wurde viel gesprochen, sie kam aber nicht zustande. Eine Neptunsgrotte, die im weiteren Verfluß des Nonnenbrunnens errichtet worden war und eigentlich mit[112] einer Fontäne hatte verbunden werden sollen, geriet in Vernachlässigung. Ich habe sie daher nur noch wenig kenntlich gesehen. – Wer nach diesen Andeutungen für des Oheims Kasse besorgt sein möchte, dem kann ich den Trost geben, daß mein Oheim Yorick von seiner Jugend her wußte, wie schlecht trocken Brot schmecke und das Wörtlein Armut mehr scheute als Gift und Pestilenz. Er hielt daher seine architektonischen Steckenpferde am Zügel des Etats, und befolgte aus Sparsamkeit das große Gesetz der Kunst, alles symbolisch zu nehmen, nach der Figur: pars pro toto zu verfahren und mit Andeutungen zu wirken.

Am vollständigsten ausgebaut war die Festung, d.h. sein Schlafgemach, welches er gegen Überfälle von Räubern verwahrt hatte. Auch sie war eine reine Phantasiefestung, ohne militärisches Bedürfnis entstanden. Er schützte zwar die einsame Lage des Amtes, als Grund dieser Fortifikation vor, allein ich glaube nicht daran. Denn er war ein starker Mann, der keine Furcht kannte, überdies hielt die Landespolizei die Augen auf und man hörte nichts von Banden oder gefährlichen Einbrüchen. Ich meine daher, daß Oheim Yorick mit der Festung nur seiner Laune ein Fest gegeben hatte. Mancher Räuberroman war in den Stunden der Muße sein Tröster gewesen, seine Einbildungskraft hatte alle die Szenen durchgespielt, in welchen der Haufen durch die Türen eindringt, an den Fenstern emporklimmt, Schüsse fallen, Säbel klirren, Pechfackeln die düstere und entsetzliche Gruppe beleuchten. Er wollte den Genuß haben, abends, wenn er sich zur Ruhe gelegt, diese Auftritte vor dem Einschlummern seiner Seele im süßen Gefühle vollkommener Sicherheit auszumalen. Zu dem Ende hatte er das Gemach mit einer doppelten, eisenbeschlagenen Türe, welche inwendig noch ein vorgeschobener Querbalken verteidigte, und die Fenster mit zollstarken Traillen rüsten lassen. In die Decke war eine Öffnung gebrochen, um, wenn die Festung dennoch aller Verteidigung ungeachtet erstürmt worden, mittelst einer Leiter, die immer in der Nähe stand, einen Abzug nach dem Boden zu haben. Es versteht sich, daß es nicht an Waffen in diesen Umwallungen fehlte. Ein Paar geladener Pistolen[113] hing über dem Bette des Oheims, eine Jagdflinte und ein Pallasch dienten als Verstärkung jener Schutz- und Trutzmittel.

Die ehemaligen Nonnen seiner Domäne hatten den Oheim in das Mittelalter verlockt. Er war durch sie auf die Ritter gekommen, kannte Hasper a Spada, Brömser von Rüdesheim und Adolf, Raugrafen von Dassel. Durch den größten Teil des oberen Stockwerks dehnte sich ein großer Saal aus, der ehemalige Rempter. Mein Oheim wollte seinen Rittersaal besitzen. Er ließ einen Maler von Eisleben kommen und trug diesem auf, ihm einen Rittersaal zu malen. Der Meister machte ein bedenkliches Gesicht, denn das deutsche Altertum war damals noch nicht so recht bis zu dem Volke durchgedrungen, ersetzte aber durch kühnen Mut, was ihm an Wissenschaft gebrach, strich den Saal graugelb an, machte unten einen grüngekollerten Wandfuß und malte oben verteufelte Schnörkel hin. Der Oheim war mit der Arbeit zufrieden, ließ vom Zimmermann einen einzigen Pfeiler zuhauen, diesen weiß in Leimfarbe anstreichen, in der Mitte des Saales unter die Decke stoßen und ihn durch ein Wappen von des Malers eigener Erfindung auszieren. Dieses künstlerische Streben brachte einen recht ehrwürdigen Rittersaal zustande, in dessen weitem, hallendem Raume wir oft seelenfroh gewesen sind.

Mein Oheim wollte aber nicht einseitig sein. Der heiteren Welt der Griechen ließ er ebenfalls ihr Recht widerfahren. Sein Dianentempel stand am Ende der Kirschplantagen, vor einem der Birkenhölzchen. Der Oheim wußte sich viel damit, wie wohlfeil ihm dieses klassische Altertum aus alten Latten und Pfosten zu stehen gekommen sei. Die Göttin fehlte darin, weil sie, sagte er, aus Pappe gegen den Regenschlag nicht halte, aus Holz aber zu teuer werde. Desto besser schmeckten die Kirschen darin, die in unendlicher Fülle und Güte umher wuchsen.

Nach diesen Proben wird man sich auch ohne meine Hilfe die Eremitage, das Theater im Freien, die Rennbahn und das[114] Belvedere vorstellen können. Es war alles, wenn auch nicht groß gedacht, doch wohlgemeint, und ich sage daher von der Eremitage nur, daß an ihr nichts einsam war, als ihr Name. Denn sie war ein Mooshäuschen mit Borke bekleidet mitten im geselligen Baum- und Küchengarten. Und vom Belvedere sage ich, daß man von dort die köstlichste Aussicht bis weit in die güldene Aue hatte, die nichts verloren haben würde, auch wenn das Belvedere gefehlt hätte.


Im Rittersaale tummelte sich der junge Schwarm, oder bremsete in den weiten grünen Räumen zwischen Dianentempel, Eremitage und Belvedere hin und her. Die Familie, die Freunde, die näheren Bekannten waren reichlich mit Nachkommenschaft gesegnet, zuweilen trieben da droben an dreißig junge Leute ihr Wesen, die natürlich nicht alle in Betten untergebracht werden konnten, sondern zu Nacht Streulager empfingen. Mit den Studenten hatte der Oheim ein besonders nahes Verhältnis. Es studierte fast alles aus der Familie in Halle, und da dieser akademischen Jugend die Vorratskammern des Amtes werter waren, als den Israeliten die Fleischtöpfe Ägyptens, so fehlte es jahraus jahrein nie an Zuspruch von der Hochschule. Auf diese Weise hatte der Oheim sechs bis sieben der kurzlebigen akademischen Generationen an sich ab- und heruntergelebt und wußte die verschiedenen Epochen genau zu charakterisieren. In seinen Schilderungen war jedoch weniger von Fleiß und Wissen, sondern mehr vom »flotten« Wesen die Rede. Der Oheim unterschied die flottesten von den flotteren, flotten und nicht flotten Jahrgängen des studierenden Wachstums. Letztere nannte er »Teekessel«. Mit denen wollte er nichts zu tun haben, sie kamen auch späterhin, wenn sie gemachte Männer waren, nie ohne Seitenhiebe bei ihm durch. Denn er begehrte Spaß von den jungen Leuten, ihr übriges ging ihn so viel nicht an.

Man findet viele ältere Personen, die zu den Schalkspossen der Jugend nicht sauer sehen, man trifft da und dort auch wohl einen muntern Alten, der sich in einen Schwank gefällig einläßt, selten aber wird einer, der in den Ruhestand[115] gehört, sein, welcher den Anführer der Jugend zu allen Schwänken macht. Mein Oheim Yorick ließ sich dieses Kommando nicht nehmen. Er stiftete Sackhüpfen in der Rennbahn, er ließ mit verbundenen Augen nach dem Topfe schlagen, und ging mit gutem Beispiele voran, er munterte zum Klettern in die Bäume auf und arbeitete unermüdlich, vom Schweiße seines Antlitzes betrieft, im Fache der Attrappen, deren Zweck und Ziel denn war, daß einer, der die Sache noch nicht kannte, Schläge von unsichtbarer Hand erhielt, oder einen mehlweißen Mund bekam, oder mit Wasser bespritzt wurde. Letzteres geschah, wenn der Oheim »Zauberer« spielte. Er hatte dann ein großes Bettlaken um sich hangen, ließ den zu Mystifizierenden mit trügerischkabbalistischen Worten in ein Becken voll Wasser schauen, worin ein fernes Bild erscheinen sollte, und patschte ihm, wenn jener sich tief über das Gefäß bückte, das Wasser in das Gesicht. Das Resultat dieser Zauberei war gewöhnlich, daß der Magus nasser wurde, als sein Opfer, was aber die Lust daran nicht verdarb. Vielmehr wiederholte der Oheim bei jedem Besuche sein täuschendes Wasserbeschwören, denn es gab immer deren, die noch nicht naß gemacht worden waren. Zuweilen richtete er die sogenannte ägyptische Finsternis an. Diese bestand darin, daß er abends, wenn das Haus ganz voll war, plötzlich sämtliche Lichter auslöschte, die Küche verschloß, damit niemand zu dem Feuer auf dem Herde gelangen konnte, und nun in dem Dunkel durch gewaltiges Läuten mit der großen Hausglocke das Signal zu einem allgemeinen Getümmel, zum wildesten Tasten, Tappen und Spektakulieren gab. Er selbst pflegte sich aber, um seine Glieder sicherzustellen, bei dieser Belustigung zeitig einen wohlverwahrten Versteck zu erkiesen, aus dem wir ihn dann, wenn endlich wieder Licht ward, sich schüttelnd vor Lachen, hervorzogen. Daß ein solcher Anreiz unter lauter grüner Zuzucht wie der Funke in einer Pulverkammer war, läßt sich begreifen. Wir suchten auf das beste seinem Vertrauen zu entsprechen, die durch den Zauberspiegel Genäßten wußten ihm reichlich zu vergelten; man legte ihm die Schlüssel weg und tat äußerst unschuldig bei seinem[116] Suchen, man ließ ihn, wenn er gegen Mittag in der Festung aus dem Morgenhabit in den kornblumfarbigen Frack gleiten wollte, lange nicht dazu kommen, weil die Räuberbande unaufhörlich die Festung stürmte, sich in den Besitz der Falltüre vom Boden aus gesetzt hatte und die Leiter hinuntersenkte, um in das Innere einzudringen. Einmal hatten wir vor Tagesanbruch aus den Wagen, Pflügen, Eggen, Walzen und allem sonstigen Ackergeräte des Gutes im Hofe eine ungeheure Konfiguration errichtet, welche ihm, als er am Morgen das Fenster öffnete, einer in Knittelversen als ein Symbol seines Standes auslegte. Der Redner war ganz in Stroh gekleidet, trug einen Kranz von Klatschrosen und nannte sich die blonde Demeter, wir andern aber hingen malerisch verteilt, in entsprechenden vegetabilischen Masken als die Repräsentanten der Getreidearten, der Rappsaat und des Turnips zwischen den Stockwerken des Gerüstes. Anfangs ging die Sache gut, nachher aber bekam sie ihr Schlimmes und wäre beinah zu Unfrieden ausgeschlagen. Denn wir hatten in unserem Eifer die Allegorie des Landbaus so fest mit Stricken und Ketten verschnürt, daß ein halber Tag darüber hinging, bevor der Verwalter und die Knechte sie wieder in ihre sinnlichen Bestandteile zerlegt hatten. Der Oheim, dessen Wirtschaft hierdurch und zwar gerade in der drangvollsten Erntezeit unersetzliche Stunden verlor, sah jener Analyse mit grimmigen Zornesworten zu. Ceres aber und sämtliche Cerealien hielten es für gut, Waldeinsamkeit zu suchen. Wir saßen wie die Ebräer im Exil auf Belvedere zusammen und sahen nach der güldenen Aue, als in der Mittagsstunde unser verstimmtes Oberhaupt in unsern Kreis trat, uns eine derbe Strafrede hielt und mit der Weisung schloß, in Zukunft mit unserer Laune ihm Wagen und Pflug zu verschonen. – Das Gewitter hatte mit diesem Schlage sich zwar entladen, es folgte ihm aber ein grauer Regenhimmel, denn es ging einige Tage nun sehr nüchtern und scherzlos auf Prosperos Insel zu. Das war einer der Fälle, in welchen der Oheim sich plötzlich erinnerte, daß er denn doch ein alter, verständiger Mann sei. Sie kamen zuweilen vor und dann ließ sich schlimm mit ihm verkehren.[117]

Er gab Bälle, veranstaltete Musiken im Freien, ließ, wenn das Wetter besonders schön war, am Dianentempel oder bei dem Nonnenbrunnen speisen. Aber alles das wäre noch nichts gewesen ohne seine Kunstliebe. Diese führte zu den höchsten Entfaltungen des dortigen Lebens.

Der Oheim besaß eine ausnehmende Kunstliebe. Sie richtete sich jedoch, wie es damals noch allgemein stattzufinden pflegte, hauptsächlich auf das Schauspiel. Er ließ kein Theater, welches ihm abreichbar war, unbesucht. Ich erinnere mich, daß er einstmals, als Iffland in Magdeburg Gastrollen gab, um vier Uhr nachmittags in das Parterre ging, um einen Platz zu bekommen. Er hatte aber doch schon nur einen Stand gewinnen können, und war nun bis zehn Uhr abends die sechs Stunden hindurch auf seinen alten, müden Füßen verblieben. Halbtot und fast aufgelöst von Hitze und Gedränge kam er zurück, seine Züge waren schlaff geworden, übrigens aber fühlte er sich froh und begeistert von dem Friedländer, den Iffland an jenem Abende gegeben hatte.

Es war Herkommens in der Familie, ihre Feste mit allerhand Theatralischem zu feiern. Der Oheim hatte sich bei solchen Gelegenheiten vielfältig versucht. Für die Krone seiner Leistungen erklärte er selbst einen Genius, den er zu einer Hochzeit geliefert hatte. Dieser Genius war der Liebesgöttin aus einem Rosenbusche vorangeschwebt und hatte dem Paare verblümt zu erkennen gegeben, was für Gaben die Göttin, die selbst nicht sprach, dem neuen Bunde zudenke. Der Oheim war damals schon über dreißig; »das tat aber nichts«, sagte er, »ich war dennoch der einzige, der den Genius mit Würde sprechen konnte. Zum Überfluß hatte ich in meiner Rolle einige Worte angebracht, worin ich sagte, heute sei ein Tag, ein Tag so schön, ein Tag so ernsthaft und wichtig, daß kein dummer Junge von Genius an einem solchen Tage seine Sache hätte machen können.«

Die meiste Schwierigkeit hatte ihm das Kostüm verursacht. Niemand konnte ihm sagen, wie ein Genius sich eigentlich zu Hause trage. »Endlich«, rief der Oheim, »gab mir die Rolle Aufschluß![118]

Von der Milchstraße herab komme ich an diesem schönen Tage –

Halt, dachte ich. Milchstraße! Milch – Milchflor. In Milchflor will ich gehen, weil der überhaupt so eine unschuldige Tracht ist, die für ein höheres Wesen paßt. Ich kaufte mir also zwölf Ellen Milchflor und der Schneider mußte mich ganz darin einnähen vom Kopf bis zu den Füßen. Meinen Zopf ließ ich mir aufbinden, das Haar flog mir lang um die Schultern und ich sah ganz ›pompös‹ aus, machte auch einen großen Eindruck.« – An letzterem war nicht zu zweifeln. Denn der Oheim besaß rötliches Haar, welches einen herrlichen Abstich gegen den weißen Milchflor gegeben haben muß.

Als wir heranwuchsen, gingen die artistischen Bestrebungen der Jugend bei dem Oheim teils den älteren Gang, teils bogen sie auch schon in die neuere Literatur- oder Kunststraße ein. Zu den Darstellungen älteren Stempels gehörten verschiedene Schäferspiele; ein Genre, welches er besonders liebte. Er ließ nicht leicht einen Geburtstag vorüber, ohne auf dem Theater im Freien oder im Rittersaale einen Myrtill mit seiner Daphne, einen Menalk und eine Chloe zu produzieren. Diese Stücke entstanden, wie die Poesie der Urzeit; ein bestimmter Verfasser war selten ermittelbar, das dichtende Volk brachte sie hervor. Außerordentlich war besonders eins, dessen Darstellung in die Olympiade des Jahres 1810 oder 1811 fiel. Es traten darin mehrere herkömmliche Arkadier auf, dann die Göttin Hygiea, als eine völlig neue Figur aber ein junger Mensch in abgeschabtem grauem Rock, der sich sehr kläglich gebärdete, weil seine Eltern zu nahe dem Schlachtfelde von Aspern gewohnt hatten und total abgebrannt waren. Hygiea hatte eine Beziehung auf den Gefeierten, denn er war kürzlich von einer schweren Krankheit erstanden, wie sich aber der junge Mensch mit seinen abgebrannten Eltern in die Fabel verflocht, ist mir entfallen.

Bei den Vorbereitungen zu diesem Stücke wurde mir eine Aufklärung niederschlagender Art. Der Geschäftsträger des Herzogs von Dalmatien, Monsieur d'Imbert, ein feiner,[119] schöner Franzose, war gerade, wie alljährlich mehrere Wochen geschah, zum Besuche auf dem Amte. Er hatte schon früher einige unserer Darstellungen gesehen, und sich dabei leidend verhalten. Diesmal aber griff er tätig ein. Das Stück sollte im Rittersaale gegeben werden, bedurfte also der Lampen. Da sah ich des Abends kurz vor dem Beginn, als ich schon mein arkadisches Gewand trug, Monsieur d'Imbert still umhergehen und die angezündeten Lampendochte herabschrauben, so daß der Schauplatz fast von des Oheims ägyptischer Finsternis erfüllt wurde. Man achtete nicht auf die Sache und das Stück nahm seinen halbunsichtbaren Verlauf. Ich fragte am andern Morgen Monsieur d'Imbert um den Grund seines Verfahrens und erhielt zur Antwort, daß man immer zwischen den Darstellungen durch Künstler und denen durch Dilettanten unterscheiden müsse. Bei den ersteren könne es nicht hell genug sein, bei den letzteren aber liege es im wohlverstandenen Interesse aller, wenn man so wenig als möglich sehe. Monsieur d'Imbert gab diese Erklärung ohne alle Satire in der größten Höflichkeit; mich aber verletzte sie doch sehr, denn ich hatte mit allen übrigen gemeint, daß wir unsere Sachen so meisterhaft machten, um den großen Kronleuchter des Théâtre français nicht scheuen zu dürfen. – Nachmals, wenn ich die Gesellschaftsbühnen bei hoch und niedrig sah, mußte ich oft an Monsieur d'Imbert und seine Lampenlöschungs-Theorie denken.

Der neueren Kunstentwicklung gehörten dagegen mimisch-plastische Darstellungen an. Wir beschränkten uns nicht, wie die Händel-Schütz, auf einzelne Sphinxe, Karyatiden, Madonnen und Magdalenen, sondern führten ganze Gedichte in dieser Manier auf. Lichtwehrs


Tier und Menschen schliefen feste,

Selbst der Hausprophete schwieg,

Als ein Schwarm geschwänzter Gäste

Von den nächsten Dächern stieg ...


bot einen Reichtum von Katzenmotiven dar; Schillers Handschuh gab Gelegenheit, höhere Richtungen höherer Tierwelt vorzuführen. Im ersten dieser Gemälde spielte der[120] Oheim den vom Katzenlärmen erwachten Hausherrn, der mit einem Prügel im finstern Saale umherspringt; im letzten saß er als König Franz vor seinem Löwengarten, und winkte voll ruhiger Hoheit mit dem Finger. Zu keiner anderen Rolle wollte er sich in diesem Gedichte bequemen. »Wenn ich eine von den Bestien machte, so verlöre ich ganz den Respekt bei euch«, sagte er.


Alles in der Welt lebt sich einmal zu seinem Gipfel hinan, und so fand denn auch dieses Schnurrenwesen zuletzt eine Höhe, auf der es zum Abschluß kam und stehenblieb. –

Der erste Feldzug war vorüber, alle Glieder unserer Verbrüderung hatten gedient, der eine mehr, der andere minder. Wir lagen wieder unsern Studien ob, die Geister waren aber noch unruhig und schweiften in willkürlichen Bildern umher. Es war im Februar 1815. Plötzlich fiel es einem von uns ein, daß des Oheims Geburtstag bevorstehe, und einem andern, daß derselbe noch nie eigentlich recht feierlich begangen worden sei, und uns allen, daß wir die bisher übersehene Pflicht auf das ausbündigste nachleisten müßten.

Wir lebten nun ganz in den Vorbereitungen zu dieser Festesfeier. Stillschweigend war angenommen worden, daß nur etwas Ungemeines derselben würdig sei. Mir hatten die übrigen die Wahl des Stücks übertragen, ich stöberte in den Bibliotheken umher, fand ein Heft Possen von Julius von Voß für »lebende Marionetten« geschrieben, und darin: »Rinaldo und Armida«, die mir das Ungemeine, was Zeit und Gelegenheit verlangte, zu sein schien. Als ich es vorlas, gewann es sich auch den Beifall des ganzen Kreises. Das Ding war überschrecklich genug. Gottfried von Bouillon, der das Glas liebte und immer etwas aus der Fassung auftrat, rief an einer Stelle, wo er sich zum Ausruhen niederlegen wollte:


»Ihr Wagen Heu, fahrt mir aus dem Wege,

Dieweil ich hier mich schlafen lege!«


Armida apostrophierte den Abtrünnigen zum Schluß einer herzbrechenden Rede mit den Worten:
[121]

»Bleib hier

Bei mir

Du Tigertier!«


Kurz, es war alles schon gehörig gesalzen und gepfeffert darin. Allein den Spielern in diesem großen Drama genügte die Würze noch nicht, jeder setzte sich in seiner Rolle zu, was ihm an Kraftworten und Geistesblüten aufging. Mir wurde hierbei etwas bedenklich zumute, ich dachte an Ceres und die Cerealien. Deshalb schrieb ich einen Prolog, worin ich höchst ernsthaft auseinandersetzte, die Lehre unserer Tragödie gehe dahin, daß der weise Mann sich unter allen Umständen zu fassen wisse. Auch der Oheim habe sich unter schwierigen Umständen zu fassen gewußt, und das Stück sei daher vorzüglich geeignet, sein Wiegenfest zu verherrlichen. Es herrschte eine solche Begeisterung für die Rollen, daß ich leicht aus dem Gedichte fortbleiben konnte; man war sehr zufrieden mit meiner Genügsamkeit, die nur den Prolog für sich in Anspruch nahm.


In der Frühe eines rotklaren Wintermorgens machte sich die abenteuerliche Rotte auf den Weg. Es waren vierzehn Studenten im ganzen, welche sich neben und in den Gärten Armidens hören lassen wollten. Die meisten ritten, aber nicht in der Tracht vernünftiger Menschen, sondern in dem damaligen sogenannten »Wichs« d.h. in buntfarbigen schnürebesetzten Kolletten, weißgekollerten Lederbeinkleidern, Kanonenstiefeln, Stürmer auf dem Haupte. Ein großer Rumpelkasten von Wagen folgte mit den zusammengerollten Kulissen, dem Kostüm, mit kalten Braten, sauereingekochten Fischen, Kuchen, Gelees. Denn alles war auf die vollkommenste Überraschung berechnet, und selbst mit der Gesellschaft sollte der Oheim unvermutet angebunden werden. Um aber diese in der Eile von morgen bis abend zusammentrommeln zu können, um der Tante die Bewirtung möglich zu machen, hatten wir jene Festspeisen in Halle bereiten lassen, versteht sich auf Rechnungen, die neben den Gerichten im Wagen lagen, und dem Oheim[122] am Lendemain als nachträgliche Freude dargereicht werden sollten.

Wir waren trotz der Februarkälte warm durchheizt von Lust und Vergnügen und schon unterwegs brach die Posse aus.

Vor Langenbogen, einem Dorfe auf der Hälfte der Straße, sahen wir mehrere Bauern stehen, verwundert über den herannahenden bunten Zug. »Halt!« rief einer von uns; »wir wollen dem Volke weismachen, es sei der König von Sachsen, der in sein Land zurückkehre.« Wirklich war damals schon vielfältig davon die Rede, daß Friedrich August bald aus seiner Gefangenschaft entlassen sein werde. Gesagt, getan! Einer, den wir den Alten nannten, weil er der Verständigste unter uns war, hing sich Gottfried von Bouillons Purpurmantel um die Schultern, setzte die Goldflitterkrone des Mohrenkönigs auf, nahm Zepter und Reichsapfel in die Hand, und ließ sein Pferd von zweien zu Fuß führen. Ein anderer, ein stämmiger, praller Lockenkopf sprengte als Reisestallmeister voran. Dieser hieß der Marquis. Er war bei Montmirail unter die französischen Kürassiere geraten, hatte bis zum Frieden in Limoges Kriegsgefangenschaft erduldet und jene Ehrenwürde von den Franzosen, ich weiß nicht durch welches Mißverständnis, empfangen. – Der Marquis rief den Bauern zu: »Hüte abgenommen! Der König von Sachsen kommt.« – Die Bauern nahmen wirklich ganz verdutzt ihre Hüte ab bis auf einen, der vor Erstaunen nicht dazu kommen konnte, sondern mit offenem Munde und starren Augen den im Purpurmantel angaffte. Als dieser neben ihm vorbeiritt, gab er dem Gaffenden einen leichten Schlag mit dem Zepter. »Kann Er nicht den Hut abnehmen, wenn eine Majestät durchpassiert?« sagte er mit einer solchen Würde, daß der Bauer nun nicht allein sein Haupt entblößte, sondern die Bedeckung zu Boden fallen ließ.

Als der Oheim von seinem Luginsland unsere Kavalkade ansichtig wurde, hätte er wohl nicht übel Lust gehabt, die Pforten schließen zu lassen, denn die Ahnung mochte ihm sagen, daß seinem Hause ein arger Wirrwarr bevorstehe.[123] Indessen drangen wir denn doch ein und brachten in gesetzter Fassung unsern Glückwunsch vor. Oheim und Tante musterten den Anzug der Reiter, der etwas vom Reitknecht, etwas vom Husaren hatte und in den übrigen Stücken nur sich selber glich. – »Was soll denn nun eigentlich heute losgehn?« fragte er nach einer Pause. – »Das ist eine Überraschung«, versetzten wir. Die Tante wurde beiseite genommen und durch den Anblick des Speisevorrates dem Komplotte zugeneigt. Sie fertigte auf der Stelle mehrere reitende Boten ab und lud aus dem Stegreife die ganze Nachbarschaft auf den Abend ein. Es war in ihr ein wundersames Talent, keinen Scherz zu verderben und dennoch das Uhrwerk des Hauses im regelmäßigsten Gange zu erhalten. – Ich machte mich mit einigen Arbeitsleuten an das Werk und richtete im Rittersaale die Bühne zu, womit ich bald fertig wurde, denn ich hatte bei einem früheren rekognoszierenden Besuche alle Dimensionen gehörig ausgemessen und jegliches in Schnüren, Rollen, Latten vorbereitet.

»Ich will wissen«, sagte der Oheim, als ich in das Zimmer zurückkehrte, »woran ich bin.« Er ging mit großen Schritten auf und nieder; die andern saßen oder standen stumm umher und ihre Verlegenheit kontrastierte mit den lächerlichen Jacken. – »Was spielt ihr heute abend? Hoffentlich ist es doch etwas Vernünftiges«, fuhr er fort, und sein Blick bezeugte, daß die Hoffnung auf Vernunft in ihm schwach war.

»Es ist ein Schäferstück«, versetzte einer kleinlaut, »und heißt ›Rinaldo und Armida‹.«

»Wenn es ein Schäferstück ist, so bin ich zufrieden«, versetzte er einigermaßen beruhigt. »Narrenpossen verbitte ich mir zu meinem Geburtstage. Übrigens habe ich nie von Schäfern gehört, die Rinaldo und Armida hießen.«

»Es ist ein Schäferpaar aus dem Morgenlande«, antworteten wir.

Wagen über Wagen rollten gegen die Dämmerung in den Hof. Die Bühne, diesmal nicht von Monsieur d'Imbert im wohlverstandenen Interesse aller verdunkelt, strahlte im blendendsten Lichte, so daß man jedes Fädchen an der dünn-grün-bemalten Leinwand sah, welche die berauschenden[124] Zaubergärten der schönen Verführerin darstellen sollte. Der Marquis hatte seiner Locken wegen diese übernommen und stand im blauen Taffentrock, rotem Spenzer, Schnabelschuhen da; würdig einer solchen Geliebten zeigte sich Rinaldo als gepuderter Chevalier mit Taubenflügeln, Haarbeutel, Galanteriedegen; Gottfried von Bouillon, der nicht viel vertragen konnte, hatte sich mittags auch noch so eine Art von Haarbeutel als Ergänzung der Maske zugelegt. Alle anderen waren ebenfalls auf das barockste ausstaffiert. – Auf einmal sah des Oheims Gesicht neben dem Vorhange durch. »Nie in meinem Leben werden daraus Schäfer«, sagte er, indem er zurückging.

Der ganze Rittersaal war voll von Mansfeldischen Nachbarn und Freunden. Väter, Mütter, Söhne, Töchter; ein höchst gespanntes Auditorium. Der Oheim nahm mit verlegener Würde in seinem Lehnsessel mitten vor den übrigen Zuschauern Platz und bereitete sich, das Rührende, was seiner Meinung nach kommen mußte, in Empfang zu nehmen. Die Musik begann.

Nach den letzten Tönen trat ich vor und sprach meinen Prolog mit dem größten Ernste, indem ich besonders auf die Stellen, die von des Oheims Fassung unter schwierigen Umständen handelten, die empfundensten Akzente legte. Ich bemerkte während meiner Rede, daß alles in das gehörige Fahrwasser kam. Der Oheim hörte mit Sammlung zu, im Saale vernahm ich schon ein leises Schluchzen da und dort.

Ich bin überzeugt, daß wenn die andern sich in ihrem Spiele etwas zu mäßigen verstanden hätten, das ganze Stück diesem Kreise als ein rührendes Drama vorübergegangen sein würde, denn die Stimmung war durchaus günstig für einen solchen Eindruck. Aber sie taten, wie es zu geschehen pflegt, des Guten zuviel, übertrieben und versetzten dadurch den König des Festes und seine Gesellschaft in die eigenste Lage.

Ich hatte mich, da es für mich hinter dem Vorhange nichts mehr zu tun gab, unter die Zuschauer gemischt. Den Oheim sah ich bei den Renommistereien Gottfrieds in seinem Sessel unruhig werden, ich hörte ihn, als Rinaldos Seelenqual begann,[125] laut murren, endlich als das Tigertier aus Armidens Lippen sprang, versteinerte er, sozusagen, und hielt sich in dieser starren Fassung unter schwierigen Umständen bis zum Schluß. Die Gesellschaft dagegen war durchaus in einem gespaltenen Zustande. Daß der Spaß nicht verstanden wurde, konnte hingehen, denn sie machten ihn zu toll. Nun aber wollten die einen fortschluchzen zur Ehre des Tages, ein innerliches Erschrecken aber hemmte sie in ihren Veranstaltungen. Die andern hätten wohl hin und wieder lachen mögen, hielten dies aber für unpassend und zwangen sich zu seufzen, wo möglich etwas zu weinen. Endlich lösten sich diese künstlichen Bestrebungen in ein allgemeines Ermatten auf, welches immer größer wurde, je mehr sich die Spielenden angriffen, und fast zur Lethargie gediehen war, als der Vorhang vor der unglückseligen Farce niederrollte.


Flöten und Geigen spielten lustige Weisen. Der Ball hatte angefangen, wir wurden aber von den Mansfeldern mit einigem Abscheu betrachtet und mancher empfing von den Mädchen einen Korb, wenn er zum Walzen aufforderte. Der Oheim zeigte sonderbar-verdrießliche Mienen, und sah uns nicht an, ausgenommen mich, dem er gleich nach dem Spiele die Hand drückte und sagte: »Du kannst nichts dafür, du hast deine Sachen gemacht, wie sich gehört.« – Nur der Pastor eines benachbarten Dorfes war unser Freund und Sachwalter geblieben. Dieser Mann machte die einzige Wintergesellschaft des Oheims aus, er kam im wildesten Eis- und Schneewetter zu ihm, um mit ihm Deutsch-Solo zu spielen, was des Pastors alleinige Lebensfreude war. Von den Schnee- und Eisgängen hatte er eine rote Nase bekommen, die auch im Sommer wie erfroren aussah, und von welcher der Oheim behauptete, der Pastor poliere sie sich mit einem Falzbeine, um eine glänzende Naturmerkwürdigkeit aufzuweisen, denn sie glänzte wirklich über die Maßen, diese Nase, in ihrer Blaurötlichkeit. – Er hatte der Darstellung mit ununterbrochener Andacht beigewohnt, als höre er die Gastpredigt eines Amtsbruders.

Der Pastor mit der Glanz- und Frostnase ging dem Oheim[126] nach und sagte begütigend: »Herr Oberamtmann, das war ein schönes Stück.« – »Herr Pastor, was soll ich von Ihnen denken?« erwiderte der Oheim. – »Ich versichere Ihnen«, fuhr der unerschrockene Begütiger fort, »das Stück war sehr schön, und wenn es an einigen Orten nicht so aussah, so war das Ungeschick der jungen Leute daran schuld, sie werden es das nächste Mal schon besser spielen.« – »Nichts als Ränke und Schwänke waren es!« fuhr der Oheim heraus. »Die Wiederholung schenke ich Ihnen.« – Der Pastor war unser Freund, weil er ohne uns heute seine Partie nicht gehabt hätte.

Es hatte eins geschlagen, die Gäste hatten sich entfernt. Wir standen im Rittersaale, wie ein zusammengeschossenes Bataillon auf dem Felde der verlorenen Schlacht. Der Oheim saß im Lehnstuhl, in dem er eine so unerwartete Feier erlebt hatte, und rauchte seine Nachtpfeife. Niemand hatte den Mut zu sprechen. Er zürnte, das war offenbar.

Dergleichen Momente höchster Spannungen bringen aber oft urplötzlich ihr Gegenteil hervor. Denn auf einmal nahm einer aus bloßer Verlegenheit, aber wie durch einen Gott unterwiesen, aus seiner Tasche Papiere, näherte sich dem Oheim und fragte schüchtern: »Lieber Onkel, wollen Sie die Rechnungen heute oder morgen haben?« – Der Oheim sah groß auf, nahm die Braten- und Küchenrechnungen, blickte hinein, blickte den Schüchternen an, der eine Kammerzofe der Armida gespielt hatte und in der Rolle steckengeblieben war, blickte auf unsere stumme und verlegene Schar – er wollte noch zorniger werden – es ging aber nicht, denn er war schon so zornig gewesen, als ein Mensch überhaupt sein konnte – er mußte also etwas anderes werden, nämlich lustig – ein gewaltiger Kampf arbeitete in seinen Gesichtsmuskeln, wir halfen den Wehen der Fröhlichkeit nach, brachen in Lachen aus; der Oheim stimmte ein, stand auf, zupfte mehrere am Ohre, was ein Zeichen seines besonderen Wohlwollens war, rief zwischen Lachen und Poltern: »Ihr seid doch ein nichtswürdiges Volk!« und ging mit den Rechnungen in seine Festung, um sich schlafen zu legen.

Am andern Morgen war das heiterste Wetter im Hause;[127] ungeachtet der Oheim verschiedene Strafreden hielt. – »Mußte denn die Person im blauen Taffentrock so brüllen? Mußte der Liebhaber sich gebärden wie ein Hanswurst? War das ein ordentlicher Held, ein Feldherr, der Gottfried?« sagte er. »Der allein«, fuhr er fort, indem er auf mich wies, »war vernünftig, nach dem hättet ihr anderen euch richten sollen.« – Die Geschichte dieses Tages trat in den Kreis seiner ungeheuerlichen Erzählungen. Er sagte es anfangs und glaubte es späterhin, an dem Stücke »Rinaldo und Armida« hätten vierzehn Studenten gearbeitet und umwechselnd einen Vers nach dem andern geschrieben. »Sie können also denken, was für Zeug das war!« fügte der Oheim hinzu. »Und damit wollten sie einen Geburtstag feiern.« – Er vermied seitdem derartige Festlichkeiten.

So waren ihm die Schnurren, die er selbst genährt, endlich über den Kopf gewachsen. Wir aber erfuhren vierzehn Tage später, daß in den Stunden, wo wir unsere Eulenspiegeleien getrieben, Napoleon von Elba entkommen sei. Das war wohl eine Konstellation tragischer und komischer Sterne zu nennen. Denn einige Monate später standen die meisten von uns bei Ligny.


Alter Oheim Yorick! Wenn man dich jetzt suchen will, so muß man durch einen Kreuzgang gehen auf den stillen Platz, von Spitzbögen und Pfeilern umschlossen, auf dem der Wind den Grashalm und die Staude dem Schlummer der Toten zubeugt. Du schläfst fest, und schwerlich kommen in deine Träume deine Steckenpferde und Schäferstücke. Rinald und Armiden hast du vergessen.

»Wo sind nun deine Schwänke? Deine Sprünge? Deine Lieder? Deine Blitze von Lustigkeit, wobei die ganze Tafel in Lachen ausbrach? Ist jetzt keiner da, der sich über dein eigenes Grinsen aufhielte? Alle weggeschrumpft« – –

Quelle:
Immermann, Karl: Memorabilien. München 1966, S. 103-128.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Memorabilien
Memorabilien (3)
Memorabilien (1)
Memorabilien, Volume 2...

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon