Sechstes Kapitel

[185] In der Lektüre und in den dadurch angeregten Gedanken störte ihn ein dumpfes Geräusch, welches vom Nebenhäuschen im Hofe heraufdrang. Er sah die Knaben des Rektors, welche schon abends zuvor im väterlichen Hause wieder eingerückt waren, auf den Stufen der Vortreppe übereinander sitzen, und hörte ihre Vorbereitung zu den morgen aufs neue beginnenden Lektionen. Da sie verschiednen Alters waren, so reichten sie von Quinta bis Prima hinauf und trieben folglich die Latinität von »alauda cantat« bis zum Exponieren des Virgil. Ganz laut wurden diese Studien betrieben, wodurch ein Geräusch entstand, nicht unähnlich demjenigen, welches in einer Judenschule zu tönen pflegt. Was Hermann in Erstaunen setzte, war, daß keiner den andern irrte, vielmehr jeder sein Pensum unter den fremden Beschäftigungen, die ihm vor dem Ohre klangen, fortlernte.

Nachdem dieses babylonische Sprachgemisch eine Zeitlang angehalten hatte, kamen zwei Söhne des Edukationsrats vorsichtig durch eine Hintertür geschlichen. Es war der Naturforscher und der Baumeister. Erstrer trug eine große Flasche, letztrer einen Topf und ein leinenes Säckchen. Sie sahen sich vorsichtig um, als fürchteten sie, bemerkt zu werden, und schlichen sodann zu den Lateinern.

Sobald diese jene bemerkten, warfen sie Bröder, Cäsar und Virgil weg, stießen ein Freudengeschrei aus und hielten mit den beiden Angekommnen ein heimliches Gespräch, wobei[185] von letzteren viel auf Flasche, Topf und Beutel gedeutet wurde. Nachdem einer darauf einen Spaten ergriffen hatte, zog der ganze Trupp durch die Hintertür nach dem wüsten Platze ab, welcher dort zwischen Scheunen der Nachbarn neben dem Garten lag. Durch die offne Türe sah Hermann sie noch an der Erde graben und wirtschaften, ohne gewahr werden zu können, was sie eigentlich vornahmen.

Im Verlaufe des Tages fragte er den Rektor, ob seine Söhne Grammatik und Autoren immer auf die Weise behandelten, welche er wahrgenommen hatte.

»Jederzeit«, antwortete dieser. »Sprache kommt her von Sprechen. Man kann sie nur laut lernen. An dem hörbaren Schalle prägt sich alles lebendiger ein; stilles Lesen und Memorieren ist nur ein halbes Werk.«

»Ich habe mich deshalb auch genötigt gesehen, die Jungen nach dem Nebengebäude zu verweisen, welches früher eine Waschküche war, denn im Hause war das Getöse nicht auszuhalten«, sagte die Rektorin.

»Es gab allerdings zuweilen multum clamoris«, sprach der Rektor gravitätisch. Hermanns Besuch bei dem Edukationsrate war ruchtbar geworden, und diese Nachricht gab zu allerhand Scherzen über diesen Mann und sein Erziehungswesen Veranlassung, worin besonders die Rektorin unerschöpflich war. Sie verschonte auch sein Zöpfchen nicht, welches er freilich, auffallend genug, noch trug, da doch dieser Zierat schon längst abgekommen ist, und meinte, er lasse es nach seinem Grundsatze von der Freiheit der Entwicklung stehn, weil die Haare nun einmal diese Richtung genommen hätten.

»Dieser sonst würdige Mann und mein Freund wird durch seine fast pueril zu nennenden Grillen noch einmal das größte Unglück herbeiführen«, sagte der Rektor. »Heute morgen vertraute mir der Apotheker, welcher hier vorbeikam, daß zwei seiner nebulonum, der sogenannte Naturforscher und der Architekt, in der Offizin fünf Pfund Eisenfeilspäne und eine große Flasche Vitriolsäure angekauft hätten. Was nun die Knaben damit Verderbliches beginnen wollen, mögen die unsterblichen Götter wissen.«[186]

Bei diesem Hin- und Herreden wurde Hermann, der sich nun auch noch an so manches aus den Gesprächen des Edukationsrats erinnerte, das sonderbarste Verhältnis offenbar, eins von denen, welche der deutschen Stuben- und Gelehrtenwelt eine so wunderliche Gestalt geben. Beide Schulmänner gingen von Prinzipien aus, die, jedes in seiner Art, etwas für sich hatten. Denn alle Bildung bestand ja von Anbeginn der Geschichte nur darin, daß man entweder durch einen mächtigen allgemeinen Begriff das Individuum zu steigern versuchte, oder sein besondres Innres erforschend, es zu entfalten suchte. Da sie nun aber diese Grundsätze auf die Spitze trieben, so sahen sie sich mit der Welt, welche eigentlich beide zu einer unbestimmten Mitte verflacht wissen will, in beständigem Widerstreite. Häufig kam der Fall vor, daß Eltern ihre Söhne dem Edukationsrate nach kurzer Frist wieder wegnahmen, »weil sie bei ihm nichts lernten«, und der Rektor war schon verschiedentlich von der obern Behörde scharf bedeutet worden, die Kräfte der Jugend weniger anzugreifen, und über das Studium der Alten nicht alles andre zu vernachlässigen.

Beide hatten aber beschlossen, fest zu beharren bei dem, was sie für wahr erkannten, beide fühlten sonach die Notwendigkeit, zu stets bereiter Polemik gerüstet zu sein. Das Bedürfnis, sich in dieser zu üben, hatte die Gegner zueinander geführt, und da sie nebenbei joviale rechtschaffne Männer waren, so schlich sich unter allem Streit und Hader eine aufrichtige Freundschaft ein, die sich schon durch verschiedne wesentliche Dienste, welche einer dem andern erwiesen, betätigt hatte. Freilich konnte ein Dritter bei ihren Zusammenkünften, welche wöchentlich regelmäßig einige Male stattfanden, davon nichts merken, denn diese gingen nie ohne hitzige Wortgefechte ab.

Zwischen ihren Häusern hatte sich überhaupt ein förmlicher kleiner Krieg ausgebildet, und es war ein eignes Idiom entstanden, welches dem Nichteingeweihten unverständlich war. So hatte Hermann bei dem Edukationsrate von den Alten, und bei dem Rektor von den Ständen, wie von lebenden Personen reden hören, und erst durch einige Fragen herausgebracht, daß mit dem ersten Ausdrucke die Söhne des Rektors und mit dem[187] zweiten die des Edukationsrats gemeint waren. Die Gattin des letztren tat sich viel auf den Einfall zugute, daß der Rektor alles Ernstes bedaure, seinen Hirten nicht Schweine hüten zu sehen, weil dieser in seiner gegenwärtigen Verfassung doch noch keine vollkommne Ähnlichkeit mit dem Homerischen Vorbilde zeige; die Rektorin dagegen nannte ihre rüstige Freundin wegen des schon berührten Stabes nie anders als die speerschwingende Minerva.

Das Geschick hatte noch außerdem für Mehrung der Verwicklungen gesorgt. Durch eine besondre Nemesis sah sich der Edukationsrat gezwungen, seinen Pastor, bei dem es denn doch nun einmal ohne Römer und Griechen nicht abgehen konnte, zu dem Widersacher auf das Gymnasium zu schicken. Lange hatte er sich gesträubt; der Knabe, welcher ohnehin keinen raschen Kopf hatte, war daher für seine Jahre zurückgeblieben und saß in einer unteren Klasse. Diesen Umstand verfehlte der Rektor nicht bei Gelegenheit gehörig aufzustechen. Im stillen hatte er sich vorgenommen, dem Pastor, sobald er nur erst die Rudimente hinter sich hätte, selbst alle mögliche Nachhülfe zu geben, ihn der Kanzel zu unterschlagen, aus ihm einen Philologen zu bilden, und so dem Gegner aus seinem eignen Blute den Rächer an den verachteten Klassikern zu wecken.

Dagegen erlebte der Rektor nun wieder an seinen Knaben manches Leidwesen. Ihnen war streng jeder Umgang mit den Söhnen des Edukationsrates untersagt worden, von welchen der Vater nur Zerstreuung und allerhand törichte Streiche besorgte. Aber die Alten fühlten eine unbezwingliche Neigung zu den Ständen, die immer etwas Neues vorzuweisen und anzugeben hatten, und befriedigten dieselbe auf hundert und aber hundert Schleifwegen. Gegenseitig wurden geheime Besuche abgestattet, denen der Edukationsrat mit stiller Schadenfreude nachsah, der Rektor dagegen durch einen Vorpostendienst, zu dem er sich selbst in Haus, Hof und Garten bequemen mußte, möglichst entgegenzutreten strebte.

Alles dieses störte indessen die Geselligkeit beider Familien nicht, und so war auch an dem Tage, von welchem hier die Rede ist, ein Abendessen im Garten des Rektors verabredet worden. Der Fischer hatte der Rektorin einen großen Hecht,[188] frisch aus dem Wasser gezogen, überbracht, welcher nicht allein verzehrt werden durfte.

Cornelie, welche das Lusthäuschen zum Empfang der Fremden aufschmückte, kam von ihrer Arbeit eilig zu Hermann und sagte leise zu ihm: »Bringen Sie doch heute etwas auf, worüber kein Streit entstehen kann. Ich weiß gar nicht, warum sie hier zusammenkommen, wenn sie immer miteinander Zwist haben wollen. Es hört sich so unangenehm zu.« Er ging und sann, wie er ihrem Gebote Folge leisten solle.

Als gegen die Zeit des Besuches der Rektor in das Lusthäuschen trat, sah ihm seine Gattin einige Verstimmung an. »Wir bekommen noch einen Fremden, der mir nicht ganz gelegen ist«, sagte er, »er übernachtet auf seiner Reise nach * in unserm Orte, und hat sich anmelden lassen. Er ist mir als Feind meines teuren, hochverehrten Johann Heinrich, und weil er, der Gelehrte, mit Süßduft und Modeschwatz den Chevalier, equitem, spielen will, äußerst widerwärtig, dennoch habe ich ihn, heuchlerischer Weltsitte gemäß, die auch den Biedern zwingt, willkommen heißen müssen.«

»Spricht er denn noch deutsch, oder schon nichts als Sanskrit und Prakrit?« fragte die Rektorin.

»Ich bitte dich, schweige. Bilem moves, ich möchte unartig werden, wenn mir bei seinem Anblicke die indischen Ungeheuer einfielen.«

Der Rektor befand sich, wie er immer pflegte, wenn er nicht ausging oder Schule hielt, im Schlafrock und Pantoffeln. Die Gattin ermahnte ihn, für heute, des fremden Gastes wegen, die bequeme Hauskleidung abzulegen, erhielt aber einen verneinenden Bescheid. »Das fehlte noch«, rief er, »daß ich um des alten Gecken willen, von ehrbarer Gewohnheit abweiche! Nein, deus haec nobis otia fecit. Wer mich nicht sehen will, wie ich bin intra privatos parietes, der bleibe haußen.«

Die Rektorin, welche bei aller Achtung und Liebe für ihren Mann dennoch einen Blick für seine kleinen Lächerlichkeiten hatte, und oft befürchtete, daß er dadurch den Spott Dritter über sich hervorrufen möchte, war über die Weigerung etwas verdrießlich. Wie die Frauen sind, die gern im Angenehmen und Unangenehmen beharren, sie brachte gleich noch ein Zwietrachtsthema[189] hervor. »Ich weiß nicht, was heute einmal wieder mit unsern Kindern sein mag«, sagte sie. »Sie lassen sich kaum blicken; wenn ich einen sehe, so verkriecht er sich, oder macht ein sonderbares Gesicht. Gewiß ist eine ausbündige Schelmerei und für uns ein tüchtiger Ärger unterweges. Wenn ich dich doch überreden könnte, den lauten Sprachunterricht einzustellen, damit ich sie wieder in das Haus nehmen dürfte. In der Waschküche sind sie unsrer Aufsicht entrückt, können tun, was sie wollen, und überdies habe ich jetzt mit der großen Wäsche wegen Mangels an Raum immer meine liebe Not.«

»Du häufest verkehrte Wünsche«, erwiderte der Gatte gehaltnen Tons. »Den lauten Sprachunterricht einstellen, hieße, von einem obersten leitenden Grundsatze abweichen, und dieses wirst du deiner großen oder kleinen Wäsche wegen wohl im Ernste nicht von mir verlangen. Was aber die heutige Unruhe der Knaben betrifft, so beruhige du dich darüber. Es ist morgen die große Klassenversetzung, der Quintaner und Tertianer rücken auf, Quarta und Sekunda bleiben sitzen. Praesentiunt, praesagiunt, spei timorisve pleni, das bringt sie so in Bewegung, und wenn du mehr Menschenkenntnis besäßest, so hättest du wohl den wahren Grund erraten können.«

Der letztere Vorwurf, mit welchem der Rektor, der sich für einen großen Menschenkenner hielt, gegen seine Gattin freigebig zu sein pflegte, traf sie empfindlich. Sie bezwang sich indessen dieses Mal und fragte ihn nach einer Pause mit einer gewissen scharfen Freundlichkeit: »Sage mir Väterchen, was hältst du von unsrem Gastfreunde?«

»Dieser Kandidat Schmidt hat leider mehr von der modernen ästhetischen als von der gründlich gelehrten Bildung abbekommen«, versetzte der Rektor. »Wenn er sich mir anvertraute, so wollte ich ihm wohl nachhelfen, denn er ist ein gescheiter, offner Kopf. Was sein Hiersein betrifft, so ist dieses nicht ohne geheime Absichten; er will unter der Hand etwas durchsetzen.«

»Hast du das gemerkt?« fragte die Rektorin, betroffen über den Scharfsinn ihres Manns.

»Freilich. Er will etwas über den Eutrop edieren, wozu es denn nun an allen Ecken und Enden fehlt. Da soll der Rektor[190] vorspannen. Deshalb bringt er das Gespräch einigermaßen in fastidium, beständig auf diesen Autor, und sucht mich auszuholen.«

Sie schöpfte Atem, im stillen überzeugt, daß, wenn sie auch in Nebensachen sich fügen müsse, ihr doch in den Hauptpunkten wohl die Herrschaft verbleiben werde. Indem sie ging, noch allerhand häusliche Besorgungen vorzunehmen, konnte sie sich nicht enthalten, ihrem Gatten Zurückhaltung über den Eutrop gegen den Kandidaten Schmidt anzuempfehlen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 185-191.
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