Fünfzehntes Kapitel

[645] Rasch war Hermanns Besserung vorwärtsgegangen. Neu war ihm die Welt geworden, er nahm von ihr zum zweiten Male Besitz, ausgerüstet mit allen Erfahrungen der früheren[645] Zustände. Unglück und Glück hatten ihre, bis zum Überlaufen vollen Schalen auf seinem Haupte ausgeleert; Stimmungen, wie sie durch solche Wechselfälle erzeugt werden, entziehn sich der Schilderung. Er fühlte, daß sein Geschick ihn jeder selbstsüchtigen Tätigkeit für immer entrückt habe, und daß er dennoch nur um so fester mit allen Fasern der Erde verwachsen sei.

»Wir würden nicht glauben, daß dergleichen erlebt werden könnte, hätte es uns nicht selbst betroffen«, sagte er nach diesen Tagen einmal zu Wilhelmi. »Wie hat mich der Wahn in wechselnden Gestalten, lächerlichen und schrecklichen, verfolgt! Als Zwanziger meinte ich fertig zu sein, und muß mich nun in den Dreißigen als Anfänger und jungen Schüler bekennen.«

»Du bist hierin nur der Sohn deiner Zeit«, versetzte Wilhelm!. »Sie duldet kein langsames, unmittelbar zur Frucht führendes Reifen, sondern wilde, unnütze Schößlinge werden anfangs von der Treibhaushitze, welche jetzt herrscht, hervorgedrängt, und diese müssen erst wieder verdorrt sein, um einem zweiten gesünderen Nachwuchse aus Wurzel und Schaft Platz zu machen. Wohl dem, der hiezu noch Kraft und Mark genug besitzt! Ich sage dir, blicke fröhlich vor dich hin, denn du kannst es.«

»Das tue ich auch«, erwiderte Hermann. »Mir ist fromm zu Sinne, obgleich ich nicht bete und den Kopf nicht hänge.«

Auch er machte einen einsamen Gang nach dem Hünenborne. Dort nahm er die Decke von der Gruft des Kindes – seines Kindes – und stand lange in die Betrachtung dieser Überbleibsel eines Lebens versenkt, welches, ihm unbewußt, von ihm entsprungen, und, ihm unbewußt, auch schon wieder in die dunkle Nacht zurückgesunken war, aus welcher die Geburten der Erde auftauchen. Er legte den Ring zu dem Skelette, und ließ dann ein fest umschließendes Gewölbe aufmauern, die Hand und den Blick der Neugier für immer von diesen Gebeinen abzuwehren. – »Das ist gut«, sagte Wilhelmi, der davon hörte; »nun sind die bösen Geister der Vergangenheit unter Salomos Siegel gelegt. Der Mensch bedarf solcher symbolischer Handlungen, um sich von einer Last[646] gänzlich zu befreien.« Er selbst hatte die Alte zu guten Leuten an einen einsamen Ort geschickt, wo sie in gehöriger Kost und Pflege ihre noch übrigen Tage zubringen sollte.

Unter den Angehörigen und Bekannten des Hauses herrschte die größte Freude. Alle nahmen den herzlichsten Anteil. Der gute Prediger und seine Frau, die Geschäftsleute, welche noch da waren, empfanden ein reines Behagen. Wilhelmi erhielt von seiner Frau unbeschränkten Urlaub, bei Hermann zu bleiben, bis dessen sämtliche Angelegenheiten geordnet wären. Der Arzt schickte einen Brief, der ein Dithyrambus war auf die Trüglichkeit medizinischer Prognose. Selbst die alte Nonne kam von ihrer Meierei herbeigewankt, dem Genesenen die Hand zu schütteln. Auch Theophilie hatte sich glückwünschend genaht. Ihr schien leicht und frei um das Herz zu sein, daß Hermann nun hier waltete. Sie sah verjüngt aus. Mit einem ihrer kecken Scherze stellte sie an ihn den Schlüssel zum Erbbegräbnis zurück.

Neben solchem Lichte begann freilich auch der Schatten sich schon wieder einzufinden, welcher keinem Gemälde des Menschlichen fehlen darf.

Hermann mußte, sobald er mit ruhigem Blicke seine wunderbare Lage übersehen hatte, über die ihm angefallnen Reichtümer sehr nachdenklich werden. Das alles gehörte ihm vor der Welt und von Rechts wegen, und doch war dieses Recht nur ein Schein, denn – er war nicht der Neffe seines Oheims. Durfte er gleichwohl der Wahrheit in diesem Falle die Ehre geben, das Verborgne enthüllen, und die Asche auch seiner Mutter noch im Grabe beunruhigen? Sein Innerstes empörte sich dagegen2.

Im Widerstreite der Pflichten wollte er wenigstens tun, was möglich war. Er ließ daher der Herzogin den Rückkauf der Standesherrschaft unter Bedingungen anbieten, welche das Geschäft einer Schenkung so ziemlich nahe brachten. Wilhelmi,[647] welcher die Unterhandlung leitete, hatte ihm aber bald die ablehnende Antwort der Dame zu eröffnen, da sie sich mit der ausgeworfnen Apanage begnügen könne, und jede Verwicklung in die Dinge der Erde scheue.

Auch einem Besuche, zu dem er um die Erlaubnis gebeten hatte, versagte sie sich. »Schwerlich wird sie dich jemals wiedersehn mögen«, äußerte Wilhelmi bei dieser Gelegenheit; »Frauen ihrer Art haben eine Unwiderruflichkeit der Stimmungen, ähnlich der Gnadenwahl. Wer ihnen einmal unangenehm geworden ist, bleibt es, auch wenn sie sich von der Nichtigkeit ihrer üblen Meinung überzeugt haben. Sie wird es dir nie vergeben, daß du Flämmchen auf ihrem Schlosse bei dir gehabt hast, obgleich sie durch den Arzt nun wohl wissen mag, daß die Sache damals die schuldloseste von der Welt war.«

Cornelie zog sich, je mehr Hermann der Welt und den Menschen anzugehören begann, wieder sichtlich von ihm und in ihr Innres zurück. Sie mied die Gesellschaft und ihn, wo sie konnte. Eine stille Verlegenheit war an ihr bemerkbar; es schien ihr an dem Orte, wo ihr Herz, durch gewaltsame Angriffe erschüttert, sich verraten hatte, unwohl zu sein. Hermann blickte zu ihr, wie zu einem höheren Wesen auf, er wagte keinen Wunsch, er erlaubte sich keine vertrauliche Benennung, er gestattete sich nicht, ihre Hand zu ergreifen.

Eines Tages sagte sie zu Wilhelmi, daß sie bereit sei, mit ihm abzureisen. Er stutzte. »Nun wollen Sie von hier fort? Nun?« fragte er. »Veränderliches Kind!«

»Und warum nicht? Ich bin hier nicht mehr nötig. Er ist gesund. Also lassen Sie mich in die Dienstbarkeit wandern, der ich von jetzt an doch verfallen bin.«

Wilhelmi sann nach. »Wir wollen der Standesherrschaft einen Besuch abstatten«, sagte er, »mein Freund und ich. Von dort kehre ich über diesen Ort nach * zurück, und dann können Sie mich begleiten, wenn Sie noch bei Ihrem Vorsatze beharren.«

Er ging zu dem Prediger und hielt mit diesem und mit dessen Gattin Beratung. Darauf schrieb er einen langen Brief an Johannen. Hermann hatte diese erst sehen wollen, wenn[648] noch einige Zeit verflossen wäre. Er sehnte sich, und scheute sich doch, mit der Schwester wieder zusammenzutreffen.

2

Sonderbare Zufälligkeiten, eine Folge der mit dem Jahre 1830 eingetretenen Umwälzungen, brachten den Herausgeber in den Besitz dieser Hausgeheimnisse, und machten die Veröffentlichung derselben ohne Nennung von Namen und Ort nach seiner Meinung wenigstens verzeihlich.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 2, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 645-649.
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