Eilftes Kapitel
Der Brief eines Erbprinzen rettet den Helden vor der Polizei

[598] »Wenn er nur erst sitzt, so wollen wir es bald herauskriegen« – mit diesen Worten betrat der Bürgermeister, den kein Waffenstillstand mehr hemmte, gefolgt von seinem Untergebenen, die Stube. – »Denn solche Angaben, wie ich zum Teil unten vor dem Fenster gehört habe, streiten gegen alle Wahrscheinlichkeit und dadurch lasse ich mich nicht irremachen«, setzte der entschlossene Mann hinzu und gab dem Polizeisoldaten Marzeters den Befehl, Münchhausen, wenn er nicht erwachen wollte, aufzuheben und fortzutragen. Marzeters näherte sich dem Bette. In diesem Augenblicke aber erwachte der ganze Enthusiasmus der Anhänger. Ohne an ihre Spaltungen zu denken, die unheimlichen Entdeckungen über des Freiherrn Persönlichkeit vergessend, scharten sich die Unbefriedigten und der Ehinger um das Lager, entschlossen zum äußersten Widerstande gegen die öffentliche Macht, welche ihnen den Helden ihrer Hoffnungen und Aussichten rauben wollte. Selbst Semilasso vergaß seinen Stand und stellte sich als Kamerad dicht neben den Ehinger, denn er dachte nur an sein Institut nach dem Muster von Trakehnen und an weiter nichts sonst. Vergebens war es, daß der Bürgermeister Gehorsam dem Gesetze forderte, die Interessenten riefen, dieser Mann sei über[598] dem Gesetze. Der Bürgermeister aber, der in seinem Amte nicht mit sich scherzen ließ, sagte zu Marzeters: »Der Kerls sind zu viele und wir stehen gegen die Übermacht, also lauft und holt Bauernhülfe, Landsturm aus der nächsten Nachbarschaft! Haben müssen wir ihn!« – »Ihn«, wiederholte Marzeters und lief fort. Auch die Drohung schreckte indessen die Anhänger nicht, ihre Mienen wurden nur noch entschlossener. Die Unbefriedigten krempelten ihre Rockärmel auf, der Ehinger schwang seinen schweren Prügel, Semilasso zog sogar einen türkischen Dolch, von dem er behauptete, er sei an der Spitze vergiftet. Alles redete durcheinander und die Szene schien sich zu einem Blutvergießen anzulassen, wenn die aufgebotene Hülfe wirklich herbeikam. In diesem Gewirre hatte sich der Schriftsteller dem Kopfende des Bettes genähert und der Freiherr flüsterte ihm aus seinem Schlummer unhörbar für die anderen zu: »Es hilft nicht, das letzte Mittel muß gebraucht werden, brauchen Sie es!« – Als nun das Getöse am heftigsten tobte und der Bürgermeister schon rief: »Da kommen ja die Bauern!« zog der Schriftsteller rasch einen Brief mit großem Siegel aus der Tasche und sprach mit lauter Stimme: »Im Namen des Hofes, in dessen geheimen Diensten ich zu stehen die Ehre habe, bitte ich um Ruhe und Gehör.«

Der Lärmen verstummte, das Siegel wurde besehen, von Semilasso und von dem Bürgermeister in seiner bedeutenden Eigenschaft anerkannt, von den anderen nicht bezweifelt. Der Bürgermeister rief den Bauern, die inzwischen vor dem Schlosse angekommen waren, zu, sie sollten unten warten, der Schriftsteller aber eröffnete der ganzen Versammlung, daß dieser Mann, an den sich so viele Forderungen und Erwartungen knüpften, fernerhin nicht mehr dem Privatleben angehören könne, am allerwenigsten ein Gegenstand polizeilicher Verfolgung sei, sondern zu hohen Dingen, zu einer öffentlichen Stellung berufen, nunmehr in eine ganz andere Spähre übergehe. Der geistreiche Erbprinz von Dünkelblasenheim wähle ihn nämlich zu seinem Gesellschafter und Vertrauten.

Obgleich nun das Gebiet, auf dem sich unsere Geschichte ereignete, nicht zu Dünkelblasenheim gehörte, und obgleich die Anwesenden, außer Semilasso, kaum früher von dem[599] Lande Dünkelblasenheim gehört hatten, so wirkte doch die bloße Erwähnung eines Hofes mit magischer Kraft auf die Loyalität sämtlicher Versammelten. Kein Wort wurde laut, in den Mienen sprach sich Hingebung und Unterwürfigkeit unter die Beschlüsse irgendwelches Erbprinzen aus; der Bürgermeister nahm seine Mütze ab.

Der Schriftsteller erbrach den Brief und las folgendes Berufungsschreiben vor:

»Ich erwarte Sie mit Ungeduld. Nie habe ich mich auf jemand so gefreut, wie auf Sie. Seitdem ich Sie im Bade zu * sah, nahmen Sie mir Kopf und Herz, wie eine Geliebte ein. Sie kennen die schwierigen Verhältnisse, unter denen Sie hier vorderhand auftreten müssen, der Oberkammerherr wird aber Ihre Schritte leiten, er beherrscht das Terrain und Sie dürfen ihm vertrauen. Ich mag nicht gern versprechen, hoffe aber, daß Sie mit mir zufrieden sein sollen, wenn die Toten ihre Toten begraben haben werden und das Leben an das Tageslicht kommt.

Münchhausen, hören Sie das Wort eines Mannes, dessen Hände leider noch gebunden sind: Ihnen wird er die Zukunft des Landes anbefehlen. – Inzwischen wollen wir über den alten Sauerteig lachen, schöne Plane bilden, einander von Tage zu Tage mehr werden. Sehen Sie in mir nicht den Herrn; ich bin stolz darauf, den geistreichsten und liebenswürdigsten Mann unserer Zeit meinen Freund nennen zu dürfen. Unser Unterhändler hat sich die Bürgerkrone damit verdient, daß er Sie hieher zu bringen wußte.«

Empfindungen verschiedener Art erregte dieses Schreiben. Erstaunen, Verehrung und Schmerz machten sich durch halbe Reden, Ausrufungen, Seufzer Luft. Am kürzesten faßte sich der Bürgermeister, denn nachdem er noch einmal das Siegel angesehen hatte, machte er vor dem Schläfer eine tiefe Verbeugung, bat den Schriftsteller, er möge, wenn der Freund des ihm unbekannten Erbprinzen aufwache, ein gutes Wort für ihn einlegen und ihm sagen, wie zart er sich benommen habe, denn Gunst am Hofe, liege dieser, wo er wolle, könne nicht und niemals schaden. Dann ging er hinunter, sagte zu den Bauern und zu Marzeters, sie möchten nach Hause gehen, es[600] sei ein Irrtum vorgefallen, der Fremde sei kein Vagabonde, sondern ein angesehener Mann und eine große Kreatur, und begab sich dann selbst nach Hause.

Aber die drei Unbefriedigten und der Ehinger Spitzenkrämer wehklagten, daß ihre Freude so kurz gedauert habe. Sie fragten auch mit niedergeschlagenen Blicken, ob denn alle Hoffnung verschwunden sei, daß der Wiedergefundene nicht dennoch der Captain Gooseberry von den Koralleninseln, oder der unsterbliche Hegel sein könne, und der Name Münchhausen nur eine Larve sei? worauf der Schriftsteller ihnen erwiderte, daß ihm zwar jene Charaktere problematisch zu sein schienen, daß aber dadurch der wunderbare Gehalt des außerordentlichen Mannes durchaus nicht geschmälert werde, daß man vielmehr fest glauben müsse, er werde halten, was er versprochen. Der Schriftsteller fügte tröstend hinzu, sie möchten demnach nur mit Vertrauen der Anweisungen auf Land in den Koralleninseln, wo die warmen und kalten Pastetenbäume wüchsen, sowie der abstrakten drei Formeln harren, er werde bei seinem großen Freunde die Sache in Anregung bringen, sobald dieser die ersten Wochen am Hofe überwunden habe. Münchhausen werde nach wie vor der Heiland der nach dem Unerhörten verlangenden Menschheit bleiben.

Damit mußten sich die abgewiesenen Interessenten nun freilich zufriedengeben, aber das Scheiden tat ihnen doch weh. Die drei Unbefriedigten waren noch bleicher geworden, als sie gewöhnlich aussahen; sie küßten dem schlummernden Meister die Hände. Karl Gabriel hauchte einen leisen Kuß auf seine Lippen und flüsterte: »O sei dennoch Hegel und gib uns die drei Formeln!« und dann gingen sie aus der Stube und hätten gern geweint, wenn sie vor Trockenheit dazu vermögend gewesen wären. Der Ehinger schlug mit seinem Stocke abermals sanft gegen die Fußsohlen des Freiherrn und sagte: »Adieu! – Ei, was werden die fünfzig Ehinger Freunde sagen!« und ging dann auch.

Semilasso war zurückgeblieben. – »Reifenschläger oder Nichtreifenschläger«, sagte er; »das Institut richtet er mir ein, das weiß ich, denn mag er den anderen Leuten etwas vorgeflunkert haben, mit mir meinte er es wahr, die Idee von der[601] Veredelung der Menschenrasse hatte ihn wahrhaft ergriffen.«

He took a french leave d.h. er wollte abziehen, wie Katz' vom Taubenschlag, doch unter der Türe wandte er sich um. Er näherte sich dem Schriftsteller und sagte: »Apropos, die Anstellung an dem Hofe, in dessen geheimen Diensten Sie zu stehen die Ehre haben, hat noch ein dessous des cartes, bekennen Sie das nur. Mir sind die Verhältnisse jenes Hofes so ziemlich klar, ich weiß, wie abhängig der Erbprinz ist, niemals hätte er gewagt sich selbständig einen Gesellschafter anzuschaffen, also muß der alte Herr seinen Konsens gegeben haben; wie aber paßt unser Held für den?«

»Nun freilich«, versetzte der Schriftsteller, »die Sache hat allerdings noch ihren Haken. Mit Ew. Gnaden kann man schon frei reden, Sie verstehen sich auf solche Feinheiten. Vor den geringen Leuten mochte ich nicht davon sprechen. Münchhausen wird nur anonymer Gesellschafter des Erbprinzen, eigentlich Geheimer Hühneraugenessenzbereiter bei dem alten regierenden Herrn ohne offiziellen Charakter wegen der Rücksichten, die auf den Obersanitätsrat zu nehmen sind.«

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 598-602.
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