Siebenzehntes Kapitel
Gedanken in einer Krypte

[626] Der Schriftsteller, welcher seinen Namen zu dieser Arabeskengeschichte hergegeben hat, weil eben kein anderer zu finden war, sah sich achtsam in der Krypte um. Dergleichen Krypten oder Klüfte finden sich unter vielen katholischen Kirchen.

Die Kirche, von welcher hier die Rede ist, gehörte sonst zu einer alten, reichen, nachmals aufgehobenen und endlich bis auf die Fundamente abgebrochenen Abtei. Sie ist daher alt, reichverziert, nur etwas in Verfall geraten. Neben dem Hochaltare und zu beiden Seiten desselben führen die unter einem Überbau befindlichen Stufen in die unterirdische Kirche. Durch Geräumigkeit und überallhin verteilte Zieraten entspricht sie dem oberen Tempel. Eine vierfache Reihe von kurzen, dicken Säulen trägt das Gewölbe, an den Kapitälern der Säulen sind bizarre Vogel-, Schlangen- und Menschenköpfe angebracht; hinter dem Altare, der sich in der Austiefung nach[626] Morgen befindet, erhebt sich das Kreuz und der Gekreuzigte hängt daran, Maria und Johannes stehen unten am Stamme des Kreuzes und diese ganze Gruppe ist von derber Faust mit grellen Zügen der Trauer und des Schmerzes in Sandstein ausgehauen, den man, in der Absicht zu verschönern, mit glänzend weißer Ölfarbe überstrichen hat. Ringsumher sind Seitennischen, in welchen die Passionsgeschichte in kleineren Darstellungen aus Holz oder Stein erscheint, untermischt mit Grabmonumenten der Äbte, deren einige diesen unterirdischen Ort zu ihrer Bestattung wählten. Die Steine, welche von einem Teile weggebrochenen Mauerwerks herrühren, liegen in einigen unordentlichen Haufen in dem düstersten Teile der Krypte umher, dazwischen liegen auch Pfeiler, welche schadhaft geworden waren und deshalb hölzernen Stützbäumen haben Platz machen müssen, und einer ist schief gegen die Wand gelehnt.

Auch hier verbreitete die ewige Lampe ein dämmerndes Licht, welches mit dem durch die kleinen Fensteröffnungen von außen einfallenden Tagesscheine verbunden, die wunderbarsten Schattenspiele um die Gruppe am Kreuz, um die Kriegsknechte, die den Heiland begleiten, um Simon von Cyrene, an den Gräbern, an den Pfeilern und ihren Kapitälern umher schuf, und selbst zwischen den Schutthaufen und den umgewandten Pfeilern dunkle geisterhafte Winkel errichtete. Die Züge des Schmerzes sahen in diesem Lichte noch schärfer und entsetzlicher aus, ein fürchterlicher Hohn schien von den Fratzen an den Kapitälern in sie hineinzuschreien; Schutt und Trümmer erschienen größer als sie waren.

Solche Krypten wurden als Grabeskirchen um die Gebeine der Märtyrer ausgetieft, über welchen sich die Kirchen der alten Zeit erhoben. Denn wie das Heidentum die Erfindungen des Lebens verewigte und die Stätten festlich bezeichnete, wo das Roß entsprang und der erste Ölbaum gepflanzt wurde, so hat das Christentum mit seiner Erfindung Besitz von der Erde genommen, mit dem Grabe. Erst das Christentum hat das Grab erfunden und seine süßen Zauber. Die morschen Knochen der Enthaupteten, Gepfählten und Gesteinigten machten, wo sie lagen, das Land in der Runde umher zinsbar und über dem[627] Erdreiche, welches das Blut der Zeugen gedüngt hatte, blühten die Riesenblumen, die Dome, auf, in welchen Andacht, Askese, Pracht des Kultus und die Magie der Künste wie ein berauschender Duft wallte und wehte. –

Geadelt wurden die Grabeskirchen durch den Gedanken an die Katakomben und Höhlen, in welchen die ersten Geschlechter der Bekenner den Auferstandenen feierten, durch den Gedanken an das Grab der Gräber, welches den Auferstandenen zu fesseln unvermögend gewesen war.

Der Wanderer erlebte an diesem einsamen Orte, wo alles Gespenstische, Schattenartige, Sonnenabgewandte der Religion sich zu einer Leichenorgie zusammengefunden hatte, eine jener Stunden, die er seine mystischen nennt, von denen er aber nachmals nur stammelnd Rechenschaft zu geben weiß. In diesen Stunden malt ihm seine Phantasie keine glänzenden Bilder vor, noch erlegt ihm der Verstand, der scharfe Schütz, einen haltbaren Satz, noch treibt ihm das Gefühl Tränen in das Auge, sondern er ist in den Dingen und sie sind in ihm. Ihr wesenhaftes Leben ist der Pulsschlag seines Blutes. – Indem er auf einem der umgestürzten Pfeiler saß, den Kopf auf den Arm gestützt, umspielt von den Schatten und Lichtern dieser Grabeskluft, war er in den frühen, buntgemischten Ursprungszeiten des Christentums und sah die Götter im Streite mit dem Lamme. Lamm und Olymp kämpften um die Seelen der gottverworrenen Menschen, die mit der einen Hand sich an dem geheiligten Zeichen der äußersten Schmach, mit der andern an den Hörnern des Altars anklammern. Sie essen das Fleisch und trinken das Blut des Gottes, um den neuen Bund in sich zu stärken; bis in die Grüfte der Toten wird der verwandelte Wein gespendet, um die Abgeschiedenen von Hades und Tartarus fernzuhalten und im Himmelreiche zu konsignieren, aber das hilft alles nichts, die Götter sind schlau und schleichen sich unter mancherlei Verkleidungen in das feindliche Lager, dort neckenden Mißverstand, Irren und Wirren anzurichten. Der Vogel der Juno spreizt sein Rad an den Wänden der Katakomben aus und schreit von Unsterblichkeit, Bacchus der Gott schickt seine Tiger, schleudert den Wurfspieß in den Weinberg des Herrn, Apoll erinnert sich, wie er bei Admeten die Schafe[628] gehütet, und maskiert sich als guter Hirte, frech zeigt sich sogar der Phallus in der Welt, welche Entsagung buchstabierend einlernt, das allerschwerste Wort, das Wort, immer wieder von der armen Menschenlippe vergessen.

Eigentümliches Kampfgewimmel, schwärmendes Larvenspiel der Vorstellungen! Wunder auf Wunder müssen geschehen, um die Macht des drängenden Paganismus abzuwehren; diese Zeiten, die man zu den einfachsten, geistigsten des Christentums hat umprägen wollen, sind die sinnlichsten, materiellsten; man will es mit Händen greifen, das Heilige, der Glaube hat sich in seinen eigenen Tiefen anstatt der Wolken, die Zeus versammelt, und der Furche, in welche Demeter das Korn sät, einen neuen Stoff erzeugt. Dieser Stoff ist die Träne, das Leiden, das Geheimnis, die Entzückung. Er schwelgt an dem Stoffe, er genießt ihn.

Und nun? – Wer mag die Strömung nennen, in welcher das Schiff unserer Tage fährt. Wer das Wort des Rätsels aussprechen, an dem die Geschlechter der Erde nagen? So viel ist richtig: der Tod und der Himmel sind zurückgewichen in den Hintergrund der Gedanken, und auf der Erde will der Mensch wieder menschlich heimisch werden. Heißt das: Er will das Fleisch bei Champagner und Austern emanzipieren? Nein. Heißt's: Die Erde soll ihm nur das Mistbeet sein, in dem er sich sein Gemüse zieht? Nein. – Sondern mit den Blitzen seines Geistes will er die Erde durchdringen, daß sie geistschwanger werde, er will sich an ihr eine Freundin seiner besten Stunden, eine ernste und doch heitere Gefährtin seiner reifsten und männlichsten Jahre gewinnen.

Und da wird wieder die Religion in das Mittel treten müssen. Denn die Weltgeschichte ist immer nur das Gewand der Gottesgeschichte. Aber wie? Der Atem der Zeit sauset, und wen er berührt, der weiß nicht, wie er gestern dachte, noch wie er morgen denken wird. Abgetan liegt das Mittelalter hinter uns mit seinen zwei Entdeckungen, der Hierarchie und der christlichen Kunst. Die Kunst büßt, wo sie sich jetzt gegen den Himmel wenden will, ihre Naivetät ein und mit der Naivetät hat eine Kunst ihre Jungfrauschaft verloren und mit ihrer Jungfrauschaft alles. Denn die Kunst wird nie ehrbare Hausfrau[629] und Mutter; sie ist entweder Jungfrau oder Metze. – Rom kann noch donnern und blitzen, es kann von mancher säuerlichen Stimmung ausgebeutet werden, es kann sogar noch großen Nutzen stiften durch Verbindung mit tüchtigen Welfen allzu tölpelhaften Ghibellinen gegenüber, aber sein Regiment ist vorbei, seitdem selbst mancher Bauer weiß, daß man der Sonne nicht gebieten dürfe, um die Erde zu laufen.

Also eine neue Entdeckung tut der Religion not, wenn das dritte Weltalter anbrechen soll. Wie, wenn es abermals etwas von einem heiteren Paganismus annähme? – Wenn das Formeln- und Dogmenwesen aufhörte, und die Satzungen des Tridentinischen Konzils und die Sätze der Symbolischen Bücher sich völlig und ehrlich antiquierten, anstatt die gegenwärtige fiktive Herrschaft noch so fortzuschleppen? Wenn die Sprüche des Evangeliums nicht mehr gebraucht würden, die Menschen und die Verhältnisse zu verwirren? Wenn jeder sich rechtschaffen überzeugte, das Christentum sei eine von Ewigkeit beschlossene und in Ewigkeit fortzeugende Tatsache, erhaben über die kleinliche Diplomatie, die sich in der Folgerung offenbart: das darf nicht zugegeben werden; denn sonst fällt auch das und das über den Haufen?

Der Geist der Geschichte muß allgemeiner die Geister durchdringen, als bisher geschehen ist. Die Kirchengeschichte muß die Menschen mehr belehren als der Katechismus und das Credo und das Symbolum. Sich inniglich und haltbedürftig als eines der letzten Glieder der großen Kette zu empfinden, die aus unzähligen Ringen besteht, unter denen auch die Sekten, die Ketzereien, der Krieg gegen die Waldenser und die Weihnacht zu Canossa so wenig fehlen dürfen als die Konzilien, die Gedanken der Kirchenväter und die Glaubenstaten der Reformatoren – das wird das neue Christentum sein, welches mit der Krippe zu Bethlehem im Busen des Gläubigen beginnt und in dessen letzten andächtigen Minuten die jüngste Offenbarung feiert. Die Erleber dieser neuen Konfession (denn Lippen werden nicht oft sie zu bekennen vermögend sein, weil dieses Dogma über das Wort hinausgeht) werden zugleich Katholiken sein und Protestanten und Quäker und Ketzer. Anfangs wird die Gemeine klein sein und verachtet oder des abscheulichsten[630] Indifferentismus bezüchtiget, nach und nach wird sie sich ausbreiten und zuletzt die allgemeine Kirche werden.

Die Stiftung dieser Kirche wird nicht von dem Willen der einzelnen abhangen. Unbewußt, durch schwere, vielleicht furchtbare Ereignisse wird der Geist Gottes sein unwiderstehliches Nötigungsrecht ausüben. – Aber so ausgeweitet, in diesem erschlossenen Bewußtsein wird der Mensch erst würdig sein, von der Erde auf neue Weise Besitz zu nehmen. Dann wird sie ihm Kränze bieten, deren Duft und Glanz noch niemand ahnet. In dem Sinne werden der Enkel Enkel wieder Heiden werden, daß sie es für Gewinn achten, wenn sie einen Gott mehr bekommen.

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 626-631.
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