Fünftes Kapitel
Worin der Hofschulze seine letzte Rede über allerhand wichtige Gegenstände hält

[771] An einem der nächsten Tage ging der Diakonus auf das Gerichtshaus, wo er als Zeuge vernommen werden sollte. Mehrere Menschen, die gleich ihm hinbeschieden worden waren, standen unten vor der Türe, und andere sprachen mit ihnen über den Gegenstand, der vor einigen Wochen die größte Verwunderung im Städtchen erregt hatte, dann den Leuten aus dem Sinne gekommen war und nun, als das Gericht die Sache wieder aufnahm, von neuem zu reden gab.

Die Zeugen sollten über den Patriotenkaspar und den Oberhof verhört werden. Der Oberamtmann war nämlich an jenem Tage, wo er den Einäugigen traf, über den Fall ins klare und mit einer protokollarischen Darstellung desselben zustande gekommen. Auch er überzeugte sich zwar, daß die Sache verjährt sei, gleichwohl meinte er, sie habe eine solche Gestalt,[771] daß wenigstens das Tatsächliche in aller Form Rechtens festgestellt werden müsse. Der Amtseifer des Geschäftsmannes wurde selbst durch den traurigen Zwischenfall mit seinem jungen Freunde nicht von dieser Bahn abgeleitet. Er trug daher, was er geschrieben, zu dem Vorstande des Gerichts, gab die nötigen Erläuterungen dazu und das Gericht ging ebenfalls in die Ansicht ein, daß ein geständiger Mörder wenn auch von noch so alter Zeit her, wenigstens vorderhand nicht auf freien Füßen stehen und unverhört bleiben dürfe.

Man schritt daher gegen den Patriotenkaspar zur Verhaftung. Dieser hielt von dem Leiterwagen herunter, auf dem man ihn einbrachte, Reden an das Volk, verfluchte die Gerichte von seinesgleichen und pries die Gerichte des Königs, vor denen er nunmehr seine alte Schuld abbüßen wolle. Zugleich berühmte er sich des Torts, den er seinem Todfeinde angetan. Das Gericht wollte sich indessen auch nicht so ohne weiteres mit einer vielleicht nachher getadelten Arbeit belasten, fragte daher höheren Ortes an, von da geschah eine Rückfrage noch weiter hinauf und die Bescheidung erfolgte erst nach mehreren Wochen. Sie ging dahin, daß allerdings, um die Sache aufzuklären, die nötigen Vernehmungen geschehen sollten.

Gerade kurz vor den Tagen, von welchen hier die Rede ist, war jene Bescheidung eingetroffen.

Besichtigungen wurden daher vorgenommen, Zeugen abgehört und diese Dinge brachten die Angelegenheit wieder in das Gedächtnis der Menschen zurück. Die sonderbare Art von Macht, welche der Hofschulze ausgeübt, kam zur Sprache, der einäugige Frevler hatte kein Hehl, daß er seinem Feinde das Schwert an einen verborgenen Ort weggetan habe und obgleich dieser Tatumstand kaum ein Verbrechen, sondern mehr nur einen Mutwillen darstellte, so war er es doch gerade, und was mit ihm zusammenhing, wodurch die Leute am meisten beschäftigt wurden. Man verwunderte sich, daß ein Uraltes, längst Verschollenes sich wie eine unabhängige Macht im Staate hatte hinstellen können.

Auch der Name des Diakonus geriet auf die Zeugenliste. Die Untersuchung ruhte in den Händen eines Richters, der sich viel mit historischen Studien beschäftigte, und diese fanden[772] hier reichliche Nahrung. Er machte daher die Sache wohl weitläuftiger, als sie streng genommen zu werden brauchte, und hörte jeden ab, der einigen Aufschluß über das Wesen des Oberhofes und das Treiben seines Besitzers zu geben vermochte. Deshalb hatte er denn den Diakonus gleichfalls vorladen lassen, weil dieser, wie bekannt war, viel mit dem Hofschulzen verkehrte, obgleich er von dem eigentlichen Gegenstande der Nachforschungen nicht das mindeste wußte.

Man ließ den Diakonus seines Standes wegen nicht im Zeugenzimmer warten, sondern berief ihn sofort in die Verhörstube. Dort wohnte er einem sonderbaren Auftritte bei. An den Schranken stand der einäugige Mörder und in einer Ecke saß der Hofschulze, über dessen verfallenes Aussehen der Diakonus erschrak. Der Mörder stand ganz strack da und sein reicher Feind saß in zusammengekrümmter Haltung. – »Noch einmal fordere ich Euch auf«, sagte der Richter zum Patriotenkaspar, »mir zu entdecken, wohin Ihr das Schwert getan habt; bedenkt, daß Ihr durch hartnäckiges Verleugnen Euer Schicksal erschwert. – Hofschulze, sagt ihm ins Gesicht, daß Ihr Euer ganzes Haus danach vergeblich durchsucht habt, daß es also nicht im Oberhofe liegen könne.«

»Wenn der Mensch keine Hexenmeisterkünste ausgeübt und es in einen Balken inwendig hineingehext hat, so liegt es draußen irgendwo und der Bösewicht muß wissen, wo es liegt«, sagte der Hofschulze, indem er einen Blick des grimmigsten Zornes auf den Entwender warf.

Der Einäugige, der mehr seinen Feind im Auge behielt, als den Richter, versetzte: »Und dennoch liegt es im Oberhofe, Hofschulze, aber finden werdet Ihr es schwerlich, wenn Ihr nicht das ganze Haus von Grund aus umreißt. Und das ist eben meine Freude, daß Ihr das wissen sollt, und daran vergehen, daß es Euch so nahe ist und dennoch verborgen bleibt. Mein Schicksal weiß ich. Daumenschrauben und Leiter gelten nicht mehr; Ihr könnt mich also höchstens länger sitzen lassen, Herr Richter, und das mögt Ihr tun, denn ich schweige und werde schweigen, müßte ich auch hundert Jahre absitzen. Wo das Schwert liegt, diese Sache geht mit mir in die Grube.«[773]

Der Richter, welcher gar zu gern das alte Schwert gesehen hätte, fuhr den hartnäckigen Verleugner heftig an, der Hofschulze aber richtete sich auf, unterbrach ihn und sagte mit plötzlicher Hoheit: »Lasset es gut sein, Herr Richter, wenn meine Bitte etwas gilt, denn ich habe mich besonnen und dieser Bösewicht wird nichts verraten. Ich werde mich ohne das Schwert zu behelfen wissen.«

Der Richter ließ den Patriotenkaspar abführen. »Seid nun so gut«, sagte der Hofschulze, »die Sachen von mir aufzunehmen, die mit den anderen Dingen stimmen, welche bereits von mir geschrieben stehen.«

Der Richter schien etwas in Verlegenheit zu geraten und erwiderte: »Das gehört ja nicht zur Sache und ich muß überhaupt erst den Herrn Diakonus vernehmen.« – Dessen Verhör war kurz, es drehte sich eigentlich um nichts. Der Hofschulze wartete ruhig die Beendigung ab; dann wiederholte er seine frühere Bitte. – »Soweit ich Euch im allgemeinen verstanden habe«, sagte der Richter, »wollt Ihr Sachen aufgeschrieben wissen, die sich nicht ziemen.«

»Nicht ziemen!« rief der Hofschulze mit erhöhter Stimme. »Ich habe Euch auf alle Fragen nach der Heimlichkeit und wie ich sie verwaltet, Rede gestanden, und nun verlange ich auch mit der Manier, daß meine Auskünfte und Zusätze gehörig dazugetan werden, und soweit mir die Rechte bekannt sind, dürft Ihr mir die Zunge nicht stumm machen.«

»Nun denn«, rief der Richter halb ängstlich halb ärgerlich seinem Schreiber zu, »zeichnen Sie auf, was der Alte sagt.«

»Ja, alt bin ich, und alt ward ich in Ehren«, versetzte der Hofschulze gelassen. Der Diakonus wollte gehen. – »Nein, bleiben Sie, Herr Diakonus«, sagte der Hofschulze, »es ist mir gar sehr lieb, daß Sie zufällig hier sind, denn ich ästimiere Sie als einen frommen und gelehrten Mann von Herzen, und es kann mir nicht schaden, wenn auch Sie meiner Art und Manier Zeugenschaft geben. – Herr Skribent«, sagte er zu dem Schreiber so gebietend, als habe er an Gerichtsstelle zu befehlen, »schreibet genau auf, was ich zu wissen tue.

Herr Richter, ich mag mit meinem Schwerte und mit der Heimlichkeit am Stuhl wohl wie ein Narr da in den Schriften[774] stehen, und Possen, wenn mir recht ist, nannte der junge vornehme Herr, an dem ich mich in meiner Angst vergreifen wollte, die Sachen, woran mein Herz gehangen hat. Ich will aber jetzt explizieren, was vor eine Bewandtnis es mit diesen Possen gehabt hat. – Allerhand habe ich erlebt in der Bauerschaft, Friedenszeiten und Kriegesläufte und Hagelschlag, Überschwemmung, gute Ernte und Mißwachs und Viehsterben. Nun sah ich denn, seitdem ich in die Jahre getreten war, wo das Menschenkind anfängt nachzudenken, daß hin und her die Herren kamen, die sich auf die Schreiberei verstehen und auf das Besserwissen als die Leute, welche die Sache angeht, und die kuckten nach, wenn alles geschehen war, das Korn niedergetreten und das Vieh in den letzten Zügen lag und die Wässer wieder im Ablaufen sich befanden. Hatte aber gar der Feind geplündert und ravagiert, da kamen sie vollends erst lange darnach und notierten sich's auf, denn während der Gefahr war meistens keiner der Herren zu finden.

Die Herren taten dann ordinieren, wie alles wieder in Richtigkeit zu bringen sei, mehrestenteils aber sagten sie Sachen des Sinnes und Verstandes, daß wenn der Hagel nicht gefallen wäre, so hätte sich das Korn nicht umgelegt und ohne die Lungenfäule müßten die Kühe noch am Leben sein. Unterweilen wurde auch wohl einiges Geld geschickt, es kam aber selten an den Rechten, und im ganzen rappelten diejenigen sich am besten wieder heraus, welche nicht auf die Hülfe der Herren da draußen warteten, sondern sich selber halfen, wohingegen ich manche Menschen habe ganz herunterkommen sehen, die immerdar bei jedem Unfall meinten, es müsse nun von da draußen ihnen das Malheur gutgemacht werden.

Erstaunend absonderlich aber war eine Sache. Mit unter machte ein Herr von der Schreiberei unter uns Bauern Dinge, worüber wir lachen mußten und dann traf es sich wohl, daß ein solcher Herr ein paar Jahre darauf von weither mit vier Pferden durch die Bauerschaft gefahren kam und hatte eine Miene, als habe er bei Erschaffung der Welt mitgeholfen und allerhand bunte Bänder vorne am Rocke.

Dieses alles nun in meinen einfältigen Gedanken betrachtend, vermeinte ich letztlich, daß die Herren von der Schreiberei[775] da draußen uns Bauern eigentlich wenig hülfen, und das auch eigentlich nicht wollten, sondern nur schreiben und sich nach und nach in die Wägen mit vier Pferden hineinschreiben. Und Gott verzeihe mir die schwere Sünde, einstmalen, als ich bei einem Rübsenfelde vorbeiging, worinnen die Pfeifer waren, so fielen mir die Herren ein und wußte nicht, wie das geschah. – Nun auf der anderen Seite hatte ich meine Reflexion, wie das Wesen in der Welt so eigentlich bestellt sei. Da dachte ich (denn ich habe immer in meinem Leben Nachgedanken gehabt) daß ein ordentlicher Mensche schon durchkommt, der auf Wind und Wetter achtet, und auf seine Füße schaut und in seine Hände und sich mit seinen Nachbarn getreulich zusammenhält.

Sehet, ihr Herren, darauf kommt es mehrestenteils nur an. Und nach diesem gewöhnte ich mir selbst zuerst die Gedanken nach Hülfe von draußen ab, zahlte meine Steuern und trug meine Lasten, im übrigen aber hielt ich mich vor mich und ließ es mir lieber, wenn ein Malheur passierte, etwas saurer werden, als daß ich die Herren da draußen um Beistand angesprochen hätte. Hernacher gewöhnte ich es auch den Leuten um mich herum ab. Sie nahmen an mir ein Exempel, und so taten wir Nachbarn uns allmählich zusammen, sprangen einander bei, ordinierten unser Wesen für uns, und kam von vielen Sachen, um die sie andererorten ein großes Hallo erheben, nichts über die Gemarkung hinaus. Und als der Mordhund da, der mir nun mein Schwert gestohlen hat, an meinem Sohne zum Missetäter geworden war und zufälligerweise auch ungefähr um die nämliche Zeit einer am Stuhle droben nach unserer alten Regel und wie der hergebrachte Orden ist, wissend gemacht werden sollte, kam es mir ein, diese alte heimliche Sache zu brauchen wider den Totschläger und es glückte und ich setzte ihn aus dem Frieden, feimte ihn ins Elend hinein und machte ihn zum Zeichen vor Großen und Kleinen, daß keiner unrecht tun dürfe. Als aber die Sache erst einmal im Gang war, gelang sie immer besser; wenige Prozesse wurden in das Amt getragen, und die meisten Frevel gar nicht angezeigt, sondern machten die Scherereien unter uns ab. Denn über Mein und Dein und wem die Mauer gehört und jener Wiesenstreifen, kann man schon selbst mit seinem Bauerverstande fertig werden.[776] Wenn aber wo eingebrochen ist, so kennt fast immerdar das Dorf den Dieb, was freilich oft nicht strenge zu beweisen steht, wornach denn ein solcher angezeigter Spitzbube frech und zum Skandal ganz schandhaft umhergeht und sich seiner Beute wohl noch gar erfreut, die der Bestohlene nicht wiederkriegt. Handhabten also selber Recht und Gerechtigkeit in allem Frieden und konnte uns niemand darum anfassen, denn wir taten keinem was zuleide, sondern gingen nur nicht mit dem Ungerechten und Frevelhaften um, wenn wir ihn in die Feime gesetzt hatten; es entstand aber weit größere Furcht dieserhalb unter den Leuten als vor Urtel und Gefängnis.«

Die Rede des alten Bauern rauschte in ihren rohen und strudelnden Ausdrücken wie ein Waldbach daher, der über Wurzeln, Knoten und Kiesel strömt. Er sprach ohne zu stocken. Der Richter wollte ihn unterbrechen, der Hofschulze aber sagte: »Ich bitte und ersuche Euch, Herr Richter, mich gänzlich aussprechen zu lassen, denn noch manches habe ich zu veroffenbaren. – Herr Richter und Herr Diakonus, wenn wir so unser Wesen für uns allein in Geschick brachten, so waren wir darum keine Unruhestifter und Tumultuanten. Denn hatten wir auch die Herren von der Schreiberei nicht ganz sonderlich in der Ästimation, so schlug uns doch jederzeit das Herz, wenn wir an den König dachten. Ja, ja, gegenwärtig schlägt mir mein Herze in meinem Leibe, da ich seinen Namen ausspreche. Denn der König, der König muß sein, und nicht ein Buchstabe darf abgenommen werden von seiner Macht und von seinem Ansehen und von seiner Majestät. Weil er nämlich ist der oberste General und der allerhöchste Richter und der gemeine Vormund. Denn es arrivieren freilich mitunter Sachen, darin man sich nicht selbst helfen kann und nicht zu raten weiß mit seinen Nachbarn. Da ist es dann Zeit, daß man den König anruft in der Not. Aber, wie ein ordentlicher Mensche dem lieben Gott nicht um jede Bagatelle Molesten macht, als zum Beispiel, wenn einem der kleine Finger wehe tut an der linken Hand: sondern wo die Kreatur nicht mehr aus noch ein weiß, da schreit sie zu ihm, also soll der König nicht angeschrieen werden um jeden Groschen, der mangelt, sondern in der rechten echten Not allein, und zu allen übrigen Tagen soll[777] man nur sein Herze erfreuen und erquicken an dem Könige; denn er ist das Abbild Gottes auf Erden. Zum Pläsier ist uns hauptsächlich der König gesetzet und nicht zum Hans in allen Ecken. Aber wo nun der Geängstete und Bedrängte seinem Leibe keinen Rat mehr weiß, da tut er sich aufmachen und steckt Brot und sonstigen Mundproviant zu sich und tut viele Tage gehen. Und endlich stellt er sich an Ort und Stelle vor das Schloß und hebt sein Papier in die Höhe und dieses sieht der König und schickt einen Lakaien oder Heiducken, oder was für Kramerei und Package er sonst um sich hat zu seiner Aufwartung, herunter, und läßt sich das Papier bringen und lieset es, und hilft, wenn er kann. Wenn er aber nicht hilft, so steht nicht zu helfen, und das weiß dann der arme Mensche, geht stille nach Hause und leidet seine Not wie Schwindsucht und Abnehmungskrankheit.

Sie sagen, er mache sich nichts aus den Leuten; dieses ist aber eine grobe Lüge, denn er hat die Untertanen sehr gerne und behält es nur bei sich, und ein recht gutes Herz hat er, wie es ein deutscher Potentate haben muß, und ein sehr prächtiges. Es ist erstaunlich und eine Verwunderung kommt einen an, wenn man die Männer, die davon wissen, hat erzählen hören, wie er sich in der grausamen Not, als der Franzose im Lande hausete, sozusagen das Brot vor dem Munde abgebrochen hat, und hat seinen Prinzen und Prinzessinnen zu Geburtstägen und Weihnachten nur ganz erbärmliche Präsente gemacht, bloß, damit er den armen Untertanen, die ganz ausgesogen waren, nicht viel koste. Dieses segnet ihm nun der liebe Gott an seinen alten Tagen in Fülle, und er ist wieder recht in guten Umständen und ganz wohlauf, und Gott erhalte ihn lange dabei! Und noch neulich hat er einem armen Menschen in unserer Nachbarschaft, den einer wegen Zinsen und Lasten mitten im Winter hatte vom Hofe herunter subhastieren lassen wollen, das Geld aus seiner Tasche gegeben, und wenn er kann, soll ihm der es wiedergeben, und wenn er nicht kann, so tut es auch nichts, hat der König gesagt.

Deshalb haben wir immer, mochten wir auch von vielen Geschichten um uns herum nichts wissen, wenn wir anstießen, gerufen: ›Der König soll leben!‹[778]

Jetzt komme ich auf meine letzte Sprache, Herr Diakonus und Herr Richter. Wenn der Mensche bei sich fertig ist, so gehen seine Gedanken wandern mit den Wolken, die da ziehen, und mit den Lastwagen, die vorbeifahren über den Hellweg. Und so gingen die meinigen auch mitunter über Börde und Haarstrang hinaus und ich dachte, wenn nun da draußen sich auch jedermann so lernte auf sich verlassen und stellte sich zusammen mit seinesgleichen, der Bürger mit dem Bürger, der Kaufmann mit dem Kaufmann, der Gelahrte mit dem Gelahrten und auch der Edelmann mit dem Edelmanne, und machten ihre Sachen mehrenteils untereinander ab ohne die Herren von der Schreiberei draußen, so wären die Pfeifer aus der Rübsaat getan und es müßte eine ganz herrliche und kostbare Wirtschaft geben. Denn die Menschen wären dann nicht wie die dummen Kinder, die immer schreien: ›Vater! Mutter!‹ wenn sie einen Augenblick alleine sind, sondern gleichsam ein Fürst wäre jeder bei sich zu Hause und mit seinesgleichen. Dann wäre auch erst der König ein recht großer Potentate und ein Herre sondergleichen, denn er wäre der König über vielmalhunderttausend Fürsten.

Dieses ist nun die Moral von der Heimlichkeit am Stuhle und von dem Schwerte von Carolus Magnus und von den sogenannten Possen, die ich getrieben. Schreibet alles recht genau auf, Herr Skribent, was ich gesagt habe, denn ich will nicht wie ein einfältiger Mann in Euren Schriften stehen, und es soll mir ganz lieb sein, wenn meine Meinung noch andere zu lesen bekommen und es reflektiert mich nicht, wenn sie selbst bis zu dem Könige getragen wird. Von diesem habe ich nie etwas zu bitten bedurft, und ich gebrauche ihn nicht zu meines Leibes Notdurft. – Aber voll Freuden bin ich immer gewesen, sein Untertan zu sein wie ein geborener Fürst und mein Herz habe ich an ihm erfrischet all mein Lebtage.«

Leuchtend waren die hellblauen Augen des Hofschulzen während des letzten Teils dieser Rede geworden, seine weißen Haare hatten sich wie Flammen emporgerichtet, die Gestalt stand wieder groß und gerade da. Der Richter sah vor sich nieder, der Diakonus dem Alten in das Antlitz; er gemahnte ihn wie ein Prophet des alten Bundes. Mit höflicher Verbeugung[779] und stillem Gruß entfernte sich der alte Bauer.

Der Diakonus folgte ihm tiefbewegt. Draußen holte er ihn ein, legte ihm die Hand auf die Schulter, schüttelte seine Rechte und sagte ergriffen und gerührt: »Ihr habt mich erbaut, Hofschulze. Jetzt aber will ich als Euer Seelsorger und Priester Euch erbauen.«

Der Alte war im Vorsaale schon wieder der schlichte Bauer geworden, der krank und angegriffen aussah. »Tuen Sie das«, sagte er, »Herr Diakonus, denn Zusprache ist mir not. Ich habe gar zu viel Verdruß gehabt letzthin. Ich kann es nicht überkriegen, daß die Scham geblößt ist von den heimlichen und scheuen Dingen, und sie nun umhergetragen werden in den Schriften und von dem jungen Herrn ins Reich geschleppt. Nach dem Schwerte will ich nicht weiter trachten, denn es hilft mir doch nichts, aber der Kummer darum wird mein Herz zernagen. Der Stuhl wird nun wohl eingehen.«

»Laßt den Freistuhl verfallen, das Schwert aus dem Auge des Tages geschwunden sein, laßt sie die Heimlichkeit von den Dächern schreien!« rief der Diakonus mit geröteter Wange. »Habt Ihr nicht in Euch und mit Euren Freunden das Wort der Selbständigkeit gefunden? Das ist die heimliche Losung, an der Ihr Euch erkennt und die Euch nicht genommen werden kann. Gepflanzt habt Ihr den Sinn, daß der Mensch von seinen Nächsten abhange, schlicht, gerade, einfach; nicht von Fremden, die nur das Werk ihrer Künstlichkeit mit ihm herauskünsteln, zusammengesetzt, erschroben, verschroben; und dieser Sinn braucht nicht der Steine unter den alten Linden, um gutes Recht zu schöpfen. Eure Freiheit, Eure Männlichkeit, Eure eisenfeste Natur, Ihr alter, großer, gewaltiger Mensch, das ist das wahre Schwert Karls des Großen, für des Diebes Hand unantastbar!«

»Herr Diakonus, Sie machen mir viel zu viele Komplimente«, erwiderte der Hofschulze bescheiden. »Indessen werde ich Ihre Worte im Herzen bewegen und sehen, was ich damit anfangen kann.«

Sie gingen bis auf die Straße zusammen. Dann trennten sie sich. Der Diakonus war in einer Erschütterung, wie er sie lange nicht empfunden hatte.[780]

Quelle:
Karl Immermann: Werke. Herausgegeben von Benno von Wiese, Band 3, Frankfurt a.M., Wiesbaden 1971–1977, S. 771-781.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Münchhausen
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Der Oberhof: Aus Immermanns Münchhausen
Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken
Münchhausen: Eine Geschichte in Arabesken, Volumes 1-2 (German Edition)

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon