[Fortsetzung]
Eduard Allwill an Clemenz von Wallberg

[536] Freilich, wo eigentliche Freundschaft ist, da sind auch Prätensionen, und diese müssen von beiden Seiten laut anerkannt werden und überall gelten, oder der T** soll den ganzen losen nichtswürdigen Bettel holen. Also verzeih, Lieber, und laß mich Deine weiteren Vorstellungen übergehen. Du weißt ja, wie sehr ich Deiner Meinung bin; weißt, was ich für ein Gesicht machte, wenn ich von Leuten hörte, die sich einander so liebhätten, daß sie sich gar nicht umeinander bekümmerten; denn im Grunde ist's das, wenn man sich einander alles nachsehen kann. Fratzen! Mein Ekel daran nimmt von Tage zu Tage zu; aber mich darüber zu erbosen, wie ehedem, so kein Tor bin ich länger; ich will mich nicht einmal darüber mehr ärgern: es behagt nun einmal den Menschen, sie sind darüber einig, sich einander etwas weiszumachen, und es kömmt auch selten jemand dabei zu kurz. Was brauchen die Leute sich weiter liebzuhaben? woher und wozu? Sie haben ganz andre Dinge aneinander zu bestellen; geht's damit voran, so bleibt das gute Vernehmen, ohne daß sich der eine um den andern viel zu scheren hat. Indessen, Lieber, wollen wir uns doch nicht verhehlen, was der eigentliche Geist jener freundlichen Toleranz und edlen Unbefangenheit sei: Gleichgültigkeit und Bettelei. – Also noch einmal, Bruder, verzeih; aber daß ich mich bessern werde, darauf mußt Du nicht zu sicher rechnen. Bisher hab ich es mit allem zu ernstlich gemeint; ich spüre, daß man dabei zugrunde geht, und für nichts. Wie ich's hinfüro anders machen werde, weiß der Himmel. Ich bin, von innen und von außen in einem wunderbaren Gedränge. Etwas Ruhe hab ich wieder genossen, weil ich einige Tage her unpäßlich war. Blieb mein Kopf so dumpf, so nebelicht, wie diese Zeit über, dann sah ich der Verwirrung ein Ende; alles sollte bald gerichtet und geschlichtet sein; und was einmal ausgemacht wäre, dabei blieb's. Du weißt, beim Nebel fließen die Dinge so hübsch ineinander; es erscheinen einem nie mehrere, als nebeneinander in einem Gliede Platz haben; keine Farbenverwirrung, alles grau, alles flach; und sieh, Bruder, so ist wahrhaftig der Nebel das treffendste Bild weiser Gemütsfassung. Wenn mein Geist umnebelt ist, dann bin ich so altklug, so verständig, wie ein Schulmeister; dann weiß ich mich über alles zu[536] bescheiden, und was ich mich heiße, das tue ich; dann räume ich mein Zimmer auf, bringe meine Papiere in Ordnung, beantworte alle Briefe nach dem Datum ihrer Ankunft, und würde auch mein Testament machen, wenn ich nur Erben wüßte, die sich's gefallen lassen könnten. Clerdon, der mich gestern besuchte, glaubte in der Tür geirrt zu haben, so fremd sah ihm mein Zimmer aus; was zu stehen gehört, stand; was zu hängen gehört, hing; was zu liegen gehört, lag. In dergleichen Rücksichten ist mir eine solche neblichte Disposition zuweilen eine wahre Wohltat: und je mehr ich der Sache nachdenke, je heller leuchtet es mir ein, daß die Tugend der echten Schul-, Stadt- und Heermoral, welche die beliebte durchgängig gute Aufführung, das exemplarische Leben hervorbringt, nichts anders als eine Art von Nebel sei, der alles leichtfertige Außenwesen, als da sind Glanz, Farbe, Licht und Schatten, an den Gegenständen verhüllt, und nur das solide Unveränderliche an ihnen beäugen läßt.

Die merkwürdige Entwicklung meines Romans mit Nannchen, worüber ich Dir eine eigene lange Epistel schreiben wollte? - Hör, erst vor einer halben Stunde noch dachte ich wunder, was ich Dir zu erzählen hätte: ich schnitt eine frische Feder, tunkte sie ein, wußte nichts anders, als daß es recht vom Fleck gehen sollte: als ich zu meinem nicht geringen Befremden innewurde, es habe Not, ich besänne mich zuvor ein wenig. Ich sann eine große halbe Stunde lang; da war ich fertig, hab's nun auf einmal – daß ich selbst nicht mehr weiß, was ich mich so eifrig angeschickt hatte, Dich wissen zu machen. Der Sachen erinnerte ich mich genug, nur konnte ich mich ihrer nicht auf die Weise erinnern, wie sie Dich so mächtig interessieren sollten. Wer weiß, vielleicht hätte meine Materie mir weniger dürftig geschienen, wäre zu ihrer Abhandlung die Feder nicht so schön geschnitten, und gleich anfangs so tief eingetaucht gewesen. Nun ist's drum geschehen; das ganze Abenteuer mit allen seinen Zufällen und Zubehören, Schelmereien, Zaubereien, Heldentaten und Wundern, kömmt mir in diesem Augenblicke nicht viel interessanter als ein Ammenmärchen vor – zum Erzählen wenigstens. Versteh! Du Clemenz von Wallberg warst es nicht, welcher bei dermaliger Katastrophe in dem Falle war – etwa vergiftet, erstochen, aus einer Kanone geschossen, oder in einen Papagei, Drachen, Teufel, oder Gott verwandelt zu werden: ich war es; und glaube mir, so etwas will in eigner Haut erfahren sein. Demnach sollst Du mir erlauben, und zwar recht gerne, daß ich[537] Dich heute von ganz andern Dingen, als von meinen Begebenheiten im Feenlande unterhalte.

Wo fang ich an? Ich habe Dir die Menge Neues von mir und meiner hiesigen Lage zu erzählen. Meine besten Stunden bring ich in Clerdons Hause zu. Es kostet Mühe, auf einen etwas vertraulichen Fuß darin gelitten zu sein, aber mir wird's glücken. Clerdon fühlt und versteht mich ganz, und durchgängig steh ich in sehr gutem Rufe. Daß ich immer eine oder die andre Prinzessin, welche mich ihrer vollkommensten Hochachtung würdigt, ausnehmend verehre – zuweilen auch zwei, drei auf einmal – weiß kein Mensch so recht: man sagt nur: der Allwill ist überall wie das Kind, wie der Bruder im Hause. – Du begreifst! ... und gewiß, bester Wallberg, ich komme fast immer ganz unschuldig dazu, stifte auch überall viel mehr Gutes als Böses. Einen Anschlag auf irgendein weibliches Geschöpf zu machen, um es zu verführen, ist von jeher so ferne von mir gewesen, daß ich einen Menschen, der dazu fähig ist, nicht ohne Haß und Ekel ansehen kann. Daß aber eine freundschaftliche Verbindung so warm und innig werde, daß sie ferner kein Maß noch Ziel mehr wisse – wer könnte das Herz haben, sich davor zu hüten? – – – Mit Deinen Cousinen hat's davor gute Wege; die wandeln in einem Lichte, das sie meiner Leuchte entübriget. Und Amalia – den möcht ich sehen, dem es nur von fern einfallen könnte, ihr etwas anders sein zu wollen, als Gast an Clerdons Herde. Mir ist sie sehr gut, weil ich ihrem Clerdon anstehe, und weil mir der treuherzige Junge aus den Augen sieht. Ihre Jugend, ihre Schönheit hindern mich nicht, daß ich sie beständig Mama heiße; ich wüßte mir auch keinen andern Namen für sie. Liebe Mama, Mutter Amalia, auch wohl Mutter schlechtweg – wenn ich Dir sagen könnte, wie mir ist, wenn ich sie so heiße, und ich ihr dabei in das spiegelhelle Angesicht schaue, das nur gut ist, und mich nur anlacht! – Ich fühle mich wie untergetaucht in Unschuld und Reinheit, und ich wüßte nichts so Saures in der Welt, das ich alsdenn nicht unentgeltlich und mit Freuden tun könnte. Die Lauterkeit ihres Herzens übersteigt allen Glauben. Jedes Gute, jedes Schöne darin ist so ganz für sich selber da, so ganz was es ist und scheint, unversetzt und unauflösbar; und kein Gefühl, kein Hang, kein Wunsch, nichts, das sich zu verhehlen, nichts, das sich zu verstellen hätte! Aber hiemit ist Dir soviel als nichts gesagt; denn, wie ich mich eben besinne, bin ich selbst, der ich doch Amalien persönlich kenne, nicht einmal imstande mir das[538] Eigentliche dabei vorzustellen, wenn ich sie mir nicht in den bestimmtesten Verhältnissen, als die Gattin ihres Clerdons, als die Mutter ihrer Kinder, als die Frau ihres Hauswesens denke. Sag, ob Du etwas davon weißt, daß es eine besondere Leidenschaft gibt, die sich eheliche Liebe nennt, ganz verschieden von jener Leidenschaft, welche allgemein den Namen der Liebe trägt, und die – Sag weißt Du etwas davon? denn was schwätz ich sonst? Ich wußte nichts davon, und ihre Entdeckung in Clerdons Hause ist das Interessanteste, was sich jemals meiner Betrachtung dargeboten. Der eigentlichen Liebe scheint das schönere Geschlecht nicht fähig zu sein; mir wenigstens ist noch kein Weib erschienen, das den Zeug dazu gehabt hätte. Amalien traue ich über diesen Punkt weniger als hundert andern zu, und Clerdon und sie selbst sind hierüber mit mir eins. Anfangs hat ihr Mann weiter nichts als einen vorzüglichen Grad der Hochachtung ihr abzugewinnen vermocht; und bis auf diese Stunde weiß sie keine eigentliche Rechenschaft zu geben, wie sie hernach allmählich sich so ganz in ihn verloren, daß ihr Herz nun alle seine Rege allein von dem seinigen empfängt, ihre gesamten Kräfte sich unverrückt in seinem Willen fühlen; Freiheit, Leben, Glück, Tun und Sein – ihre ganze Seele hingewaget auf ihn. Ich weiß nicht, ob es eine herrlichere Liebe geben kann, als diese; wenn auch jene höhere, wovon ich ehemals so wunderbare Ahndungen hatte, kein leeres Hirngespinst wäre; alle andre Liebe ist doch gewiß nur Schaum dagegen. Wo findest Du, bei den entgegengesetzten Eigenschaften und Bedürfnissen der Menschen, diese innige Teilnehmung, welche alle Kräfte in einen Willen zusammenschmelzt, und den Menschen wirklich verdoppelt? Hier ist sie. Die kleine Welt, zu deren Schöpfung und Regierung beide vereinigt sind, wird ihnen tausendfaches Organ einander zu fühlen, zu fassen. Das gemeinschaftliche Interesse gibt jedem Vermögen, das dazu beiträgt, einen gefühlten Wert: und so regen sich in dem Wesen des einen alle die Kräfte des andern; und je vielfacher, je verschiedener nun diese Kräfte, je merkbarer der Gewinn, je entzückender das Bündnis. Bedenk einmal, wie unterschiedne auch einander entgegengesetzte Interessen jeden einzelnen Menschen in ihm selber teilen, und was für eine Wonne ihn erquickt, sooft er ein wahrhaftes Einverständnis nur zwischen etlichen davon bewürkt hat; wie wir einstimmig denjenigen für den Größten und Glücklichsten schätzen, welcher, ohne eine seiner Fähigkeiten, seiner Kräfte dran zu geben oder zu schwächen, alle seine[539] Triebe unter einen Willen gemeindet – mächtig zu einem Heere sie geordnet hat: – Und nun zween, die so eins werden! es muß eine Fülle sein, eine Seligkeit, die ... Oh, daß ich dies alles so fühlen muß; daß ich zu dem glühenden Sinn, zu dem tobenden Herzen, dem hellen unbestechlichen Geist, diese stille himmelanschwebende Seele erhalten mußte! – Tränen, guter Wallberg, Tränen über Deinen armen Eduard, den die Liebe zum Schönen verzehrt, und der in ewiger Zerrüttung mit den Zähnen knirschen muß – der den Frieden Gottes ahndet, und verdammt ist zu täglicher Sünde! – Nie, nie wieder eine Stätte finden, wo sein Haupt ruhe! – Nie? – Doch, doch! es wird ja einst brechen -ja brechen in Wonne wirst du einst, gutes qualvolles Herz! ... Aber es war ja von Glücklichen die Rede! Liebe Mutter Amalia – dein Antlitz, dein Lächeln!

Sie ist allen Menschen so gut, Mutter Amalia, und könnte doch, gewiß, im Fall der Not sie alle missen, wenn ihr nur der Mann blieb und die Kinder. Ich mag Dir nicht verhehlen, daß sie an diesen – an ihrem Hause auf eine sehr sträfliche Weise hängt, nämlich ebenso ohngefähr, wie die alten Republikaner an ihrem Vaterlande hingen. Aber Du gehörst ja nicht zu unsern mächtigen Philosophen, welche nie weniger als den ganzen Erdkreis – was? – das ganze Universum übersehen, und, gemäßlich, zu Herzen nehmen, und aus brennender Liebe zu den Menschen überhaupt dem Patriotismus der Alten und jeder andern parteiischen Liebe so gram sind; sie sollen herkommen, die gütigen Herren, mit ihrem unbeschränkten göttlichen Wohlwollen, mit ihrer allsehenden Gerechtigkeit – mit ihrem ganzen Untadel; sie sollen kommen, die Fratzen, und schauen und fühlen, wo von allem diesen – in Tat und Wahrheit am Ende dann doch mehr angetroffen wird, ob bei ihnen, oder bei dem Weibe hier, das für Mann, Kinder, Haus, sich gegen die ganze Welt empörte! – Holde Mutter Natur! o wie laut sagt mein klopfendes Herz mir da wiederum, daß doch allein auf deinem Pfade wahres Heil zu suchen ist! – Sieh das wohlgemute Weib, wie die Befriedigung ihrer reinen Triebe alle ihre Wünsche vollendet, sie von allen andern Begierden so losmacht, und ihr teilnehmendes Herz (das ja in jedem menschlichen Busen wohnt) sich nun so frei und allgemein ergießen kann. – Ihr prächtigen Weltweisen, ihr lieblichen Herren und Damen, mit euren erhabenen Grundsätzen und schönen Sentiments! sagt, wie wird's euch? – wie besteht ihr vor dieser Hausfrau? Da verschleudert, da verpufft ihr eure[540] Seele in die weite Welt, seid überall, und nirgend; euer unbefangenes, richtungsloses Herz – jedwedem Anfalle bloß – ohne Drang und ohne Ruh, ohne Genuß und Gabe – strebend nach allem, hängend an allem – zu keinem Opfer willig, bei keinem Unfall leicht – bebend durchaus bis in die kleinste Faser – schwach, elend, zehrend – voll allgemeinen Wohlwollens ... Weg von diesen Allumfassern, hinab zu Amaliens Schemel, zu der Kurzsichtigen, zu der Armseligen, die nur ihren Mann liebt und ihre Kinder, allen übrigen Wesen nur gut ist, und in Wohltun gegen sie, aus voller Genüge, nur – überfließt, wie die Sonne von sich scheinet Licht und Wärme, nur – weil sie Licht ist und warm, und die Fülle hat. Tritt in den Umfang von Amaliens Sphäre: du stehst in Segen; das ist's alles. Darum ist Amalia auch das bescheidenste Geschöpf – das demütigste, möcht ich sagen, das man finden kann. Daß sie Gutes aller Art unermeßlich würkt – darauf gibt sie nicht acht; daß sie alle Pflichten erfüllt, alle Gebote hält – das weiß sie nicht; hat von den Gründen ihres durchgängigen Verhaltens nichts weniger als vollständige Begriffe, gar keine eigentliche Moral, kaum eine solche wie schon vor Jahrtausenden dem uralten Hiob eine zu Diensten stand. Wunderbar, daß Amalia auslangt; denn sie ist auch nicht einmal was man fromm heißt. Aber ich fordere euren ekelsten Mückensäuger auf, ihren Wandel nach der Strenge zu prüfen, und wenn er wird leugnen können, daß sie sündenfreier, daß sie tadelloser sei (selbst nach so vielen Fratzenbegriffen unserer Zeit) als eine; so will ich vor dem Mückensäuger mich beugen und mich zu ihm bekehren.

Du, lieber Wallberg, siehst doch hier wohl kein Wunder, oder argwöhnest kein Blendwerk? Komm näher! Was ist's als ein echtes Gottesgeschöpf, in Gesundheit und natürlicher Wohlgestalt; auferzogen ohne Künstelei; alsdenn befangen mit einem Gegenstande, in welchem seine Kräfte sich sammlen, ordnen und zur schicklichsten Wirksamkeit vereinigen konnten. Sind doch alle Tugenden eine freie Gabe des Schöpfers; unmittelbare Naturtriebe, nur verschieden gestaltet nach den verschiednen Formen und Zuständen menschlicher Gesellschaft; keine, die nicht da war, ehe sie Namen hatte und Vorschrift! Alle Moral, von jeher bloß philosophische Geschichte, spekulative Entwicklung, Wissenschaft; und jene innere Harmonie, jene Einheit in Tun und Dichten, das Augenmerk emporstrebender Menschheit, allemal nur die Geburt irgendeiner ersprießlichen Hauptneigung, welche[541] dem Menschen Beruf erteilte und Plan! Wo Einheit der Neigungen entsteht, da macht sich die Einheit des Wandels von selbst; da bildet der Mensch seine erwählte Lage aus; formt sich je mehr und mehr zum Ganzen; und nun, je befangener von der einen Seite, je freier von allen übrigen; verletzbar nur in einem Punkte seines Wesens; in ihm selber gewiß; mutig; begnügt; und darum unabhängig, edel, gefällig und von ganzer Seele gut. Greif's an allen Enden; du wirst finden: gerader Sinn, dringendes Geschäfte, und darin Emsigkeit und Treue mit Lust, sind die Eckpfosten aller Glückseligkeit und Tugend.

Nun erinnere Dich, was ich am Anfange dieses Briefs über Nebel und ordentlichen Wandel philosophierte. Vielleicht klang es Dir leichtfertig; tiefer erwogen, wie wahr? Wie dumpfen Sinnes, wie erstorben muß der sein, der seine Neigungen sich aus lauter Moral bilden, der mit lauter Moral sie nach Gefallen unterdrücken kann! Zehnmal besser ist mir da der gutherzige Wildfang, der noch Leben im Busen nährt und Liebe. Und dann noch eins: auch dem Menschen höherer Art, der ein geordnetes durchgängig zusammenhangendes Leben führt, muß vieles in Nebel verhüllt stehen; aber es ist nur der Duft, welcher von dem ganz aufgehellten Plan seines Würkungskreises sich an desselben Grenzen gedrängt hat. Unsere Philosophen allein bewohnen himmelnahe Felsenhöhen, von keinem Dufte getrübt, rundum endlose Helle und Leere. Mir ginge da der Atem aus. Schon ist mir die Luft zu dünn, wo ich bin, und ich sinne darauf, wie ich allmählich noch etwas tiefer herabkomme. Auch ist nicht wohl zu läugnen, daß in einem engern Horizont uns die Gegenstände viel wärmer an Aug und Herz kommen. Grenzenlose Begrenzung, Raum ohne Maß und Ende, wo ich's erblicke, macht's mir Höllenangst; darum eng ich mich gern ein bißchen ein; lasse mir's wohl sein in irdischem Beginnen, da ich ein Ende meines Tuns sehe, und doch alle meine Kräfte dransetzen muß.

Zum Schlusse noch ein Wörtchen von Freundschaft. – Das nichtswürdige lose Wesen unter diesen Namen, wovon es vorhin die Rede gab, daß wir ihm beide eben feind seien, ist es nicht auch eine Mißgeburt aus jenem toten Meere der Unbestimmtheit, der Richtungslosigkeit, der unendlichen Zerstreuung? Schwache Fäden aus veränderlichen Absichten und flüchtigen Ergötzen gesponnen, wie bald müssen die sich wirren? und dann Riß an Riß, Knote an Knoten. Ganz anders die Bande echter Freundschaft, wo zween etwas zwischen kriegen, wie rechte und[542] linke Hand, um es zu einem Werke zu bilden; zween etwas miteinander fortbewegen, wie beide Füße den Leib. Tritt den mit Füßen, der sagt, daß eine solche Freundschaft sich auf Eigennutz gründe! Das Objekt, warum sie sich vereinigen, ist ihnen nur Medium einer den andern zu fühlen – Sinn, Organ. Nicht denjenigen lieb ich ja am mehrsten, der das mehrste für mich tut, sondern denjenigen, mit dem ich das mehrste ausrichten kann. – Eigenliebe? alles soll Eigenliebe sein: was geh ich mich dann selber mehr an als andre, ich, der ich mich nur im andern fühlen, schätzen, lieben kann? – Das heißt euren Philosophen Unsinn: mag's! weiß doch, wer's besser hat, ob ich, oder sie.

Eduard.


N.S. Grüße Luzie. Ich schreibe ihr noch diese Woche. Vielleicht hat sie Dir den Brief gezeigt, worin ich ihr meinen Abschied von Nannchen erzählte. Ich war damals in ziemlich pathetischer Laune, und muß wunderbare Hoffnungen von mir gegeben haben; denn ich erhielt in Antwort einen schönen, langen, höchst ernsthaften Glückwunsch. Schade, daß ich bei seiner Ankunft schon wieder ganz bei Sinnen war. Ich mag das liebe Mädchen nicht im Traum lassen. Wenn sie doch einmal wieder herkäme! In Clerdons Familie hängt alles gewaltig an ihr. Du weißt, wie sie mir im Sinn liegt. Wer wollte sie auch vergessen können!

Quelle:
Sturm und Drang. Band 1, München 1971, S. 536-543.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aus Eduard Allwills Papieren
Aus Eduard Allwills Papieren (Sammlung Zenodot) (Paperback)(German) - Common

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der Weg ins Freie. Roman

Der Weg ins Freie. Roman

Schnitzlers erster Roman galt seinen Zeitgenossen als skandalöse Indiskretion über das Wiener Gesellschaftsleben. Die Geschichte des Baron Georg von Wergenthin und der aus kleinbürgerlichem Milieu stammenden Anna Rosner zeichnet ein differenziertes, beziehungsreich gespiegeltes Bild der Belle Époque. Der Weg ins Freie ist einerseits Georgs zielloser Wunsch nach Freiheit von Verantwortung gegenüber Anna und andererseits die Frage des gesellschaftlichen Aufbruchs in das 20. Jahrhundert.

286 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon