Das Täubchen

[247] In diesen dunkeln Hainen

Ging ich den losen Kleinen,

Die Köcher tragen, nach;

Hier, Chloe, hier im Grünen

War Amor unter ihnen;

Ich hörte, was er sprach.


O wenn in diesen Schlingen

Wir nun das Täubchen fingen,

Das mir die Mutter wies!

O lockt es! singt, ihr Brüder;

Ihr wißt, daß sich durch Lieder

Schon manches täuschen ließ.


»Komm, Täubchen, komm! Den Wagen

Der Venus, sanft getragen

Vom Zephyr, sollst du ziehn;

Sollst unter Blüthen wallen,

Wenn in des Adlers Krallen

Die Donnerkeile glühn.
[248]

Er muß den Zevs begleiten,

Und gegen Riesen streiten,

Und mit ins Treffen gehn;

Du kannst in kleinen Kriegen

Uns nur zur Seite fliegen,

Und überwinden sehn.


O komm! In wenig Tagen

Wirst du verlassen klagen,

Dein Liebling eilt von hier:

Getreuer sind die Gatten

In Paphos sichern Schatten;

Kein Falke raubt sie dir.


Du sollst mit Amoretten

Dich auf den Gürtel betten,

Der unsre Göttin ziert;

Geschmeichelt von Najaden,

Soll dich die Quelle baden,

Die Venus nur berührt.«


So sangen sie, die Brüder!

O süße Macht der Lieder!

O zauberischer Wahn!

Das Täubchen kommt geflogen,

Setzt sich auf Amors Bogen,

Und sieht den Knaben an.

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 1, Zürich 1819, S. 247-249.
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