Freymäurer-Lied

[62] Die alte Finsterniß entwich;

Die Wüste ward erhellt:

Da baute Gott, der Schöpfer, sich

Zum Tempel diese Welt.


In Eintracht wandelte die Schaar

Der lichten Sterne fort;

Und Liebe, lauter Liebe war

Das große Schöpfungs-Wort.


Auf Erden mußt' ein Paradies,

Ein Liebes-Tempel blühn,

Wo jedes Lüftchen ruhig blies

Durchs friedenvolle Grün;


Wo in der Unschuld Heiligthum

Das Lamm bey Tigern ging,

Wo Zweig an Zweig, und Blum' an Blum'

In Liebes-Knoten hing.
[63]

Hier sollten, gleich dem Sonnenstrahl,

Die Seelen alle rein,

Auf jedem Berg, in jedem Thal

Die Menschen Brüder seyn.


Vergebens, ach! es floh zu bald,

Es floh die goldne Zeit;

Ins Reich der Liebe trat Gewalt;

Der Tempel war entweiht.


Wenn aber seliges Vertraun

Nicht ganz die Erde ließ,

So laßt uns wieder auferbaun

Ein Wonne-Paradies.


O selig, drey Mahl selig ist

Das Plätzchen unter'm Mond,

Wo sich mit Einfalt Wahrheit küßt,

Bey Liebe Treue wohnt;


Der Große mit dem Niedern geht,

Ihn brüderlich umarmt,

Des Schwächern, der um Beystand fleht,

Ein Stärkrer sich erbarmt;
[64]

Am Morgen, wenn des Landmanns Lied

Aus voller Scheun' erklingt,

Die Wittwe nicht gen Himmel sieht,

Und matt die Hände ringt;


Am Abend, wer sein graues Haar

Mit Ehr' im Stillen trägt,

Sich nach so manchem sauren Jahr

Nicht trostlos niederlegt!


Wohlauf, ihr Brüder! laßt uns so,

Beharrlich im Vertraun,

In unserm Paradiese froh

Den Liebes-Tempel baun.


Mag er im Erdenschatten hier

Nur unvollendet stehn!

Einst über Sternen werden wir

Den bessern Tempel sehn.

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 3, Zürich 1819, S. 62-65.
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