Lied

[212] Auf dem frischen Rasen-Sitze,

Hier am kleinen Wasserfall,

Hör' ich von des Thurmes Spitze,

Frommes Glöcklein, deinen Schall.


Tönst, o Glöcklein, nennst ihn lauter,

Dem mein Herz entgegenbebt,

Ihn, der freundlicher, vertrauter

Hier im Grünen mich umschwebt.


Leise murmeln es die Bäche,

Daß er Flur und Aue liebt,

Daß die Rose, die ich breche,

Mir ein guter Vater giebt;
[213]

Daß er aus der zarten Hülle

Selbst die goldnen Früchte winkt,

Und durch ihn des Lebens Fülle

Jede neue Knospe trinkt.


Schalle, Glöcklein! Ach, was bliebe

Jenem Himmel, diesem Grün?

Ach! kein Leben, keine Liebe,

Keine Freude, sonder ihn!


Morgens, wenn auf Busch und Pflanze

Kühler Thau die Perlen sät,

Stimmen froh im Sonnenglanze,

Vöglein mit in mein Gebet.


Und am Abend, wenn es dunkelt,

Seh' ich seinen milden Schein:

Wo das Heer der Sterne funkelt,

Wacht er über Thal und Hain;
[214]

Leuchtet mir auf meinen Wegen,

Labt die Wiese, nährt das Feld,

Spricht den väterlichen Segen

Ueber die entschlafne Welt.


Seiner freu' ich mich im Lenze,

Wenn man Veilchen-Kränze flicht;

Seiner, wenn die Schnitter-Tänze

Sturm und Hagel unterbricht.


Sollt' ich seiner mich nicht freuen?

Singen nicht, daß Wolke, Wind,

Auch die Blitze, wenn sie dräuen,

In des Vaters Händen sind?


Daß an öden Felsen-Klüften

Liebend er vorübergeht,

Und in düstern Todten-Grüften

Des Erhalters Athem weht?

Quelle:
Johann Georg Jacobi: Sämmtliche Werke. Band 4, Zürich 1819, S. 212-215.
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