Zwölftes Kapitel.

[268] Während der beiden nun folgenden Jahre streifte Niels rastlos im Auslande umher.

Er war sehr einsam. Er hatte keinen Verwandten, keinen Freund, der seinem Herzen nahe gestanden hätte. Aber eine weit größere Einsamkeit als diese bedrückte ihn. Denn wohl kann der klagen und sich verlassen fühlen, der auf der ganzen weiten Erde keinen Fleck hat, den er segnen, auf den er Gutes herabflehen kann, wenn sein Herz sich wendet, wenn es einmal übervoll ist, wonach es sich sehnen kann, wenn die Sehnsucht ihre Schwingen ausbreiten will; weiß er aber nur den klaren, unwandelbaren Stern eines Lebenszieles über sich funkeln, so ist ihm keine Nacht so einsam, daß er sich ganz allein fühlte. Aber Niels Lyhne hatte keinen Stern. Er wußte nicht, was er mit sich selber und mit seinen Gaben anfangen sollte. Es war ja ganz schön, daß er Talent besaß, er konnte es nur nicht verwenden: er ging umher mit dem Gefühl, als sei er ein Maler, dem die Hände fehlten. Wie beneidete er die anderen, die Großen und die Kleinen,[268] die, wohin sie im Leben auch greifen mochten, stets irgendeinen Anhaltepunkt fanden! Ach, er konnte keinen Anhaltepunkt finden! Er konnte, so schien es ihm, nur die alten romantischen Lieder nachsingen, und alles, was er geschaffen hatte, war auch weiter nichts gewesen. Es war, als sei sein Talent etwas in ihm Verborgenes, ein stilles Pompeji, oder gleichsam eine Harfe, die er aus einem Winkel hervorholen konnte. Es war nicht allgegenwärtig, begleitete ihn nicht auf die Straße hinab, saß ihm nicht in den Augen, kribbelte ihm nicht in den Fingerspitzen, es hatte keine Gewalt über ihn, sein Talent. Zuweilen schien es ihm, als wäre er ein halbes Jahrhundert zu spät geboren, zuweilen glaubte er, er sei viel zu früh gekommen. Sein Talent wurzelte in etwas Längstvergangenem und lebte nur darin, konnte keine Nahrung aus seinen Ansichten, seiner Überzeugung, seinen Sympathien saugen, konnte das alles nicht in sich aufnehmen und umgestalten; sie flossen auseinander, diese zwei Dinge, wie Wasser und Öl, wohl konnte man sie zusammenschütteln, aber sie konnten nicht vermischt, konnten niemals zu einem Ganzen werden.

Allmählich fing er an, das einzusehen, und es stimmte ihn grenzenlos mißmutig, so daß er bitter und mißtrauisch auf sich und seine Vergangenheit blickte. Es müsse ein Fehler in ihm sein, sagte er sich, ein unheilbarer Fehler im innersten Mark seines Wesens, denn ein Mensch müßte sich doch sonst zusammenleben können! Solche Gedanken und Stimmungen beherrschten ihn immer noch,[269] als er sich im zweiten Jahre seines Aufenthalts im Auslande Anfang September an den Ufern des Gardasees in dem kleinen Riva niederließ.

Unmittelbar nachdem er gekommen war, schloß sich das Land ringsumher mit einem Wall von Schwierigkeiten und Reisebeschwerlichkeiten, die alle Fremden fernhielten. In Venedig war die Cholera ausgebrochen, ebenso nördlich in der Gegend von Trient und südlich in Desenzano. Unter diesen Umständen wurde Riva nicht sonderlich lebhaft, die Hotels hatten sich bei den ersten Gerechten geleert, und die nach Italien Reisenden gingen einen anderen Weg. Umso enger schlossen sich die wenigen Zurückgebliebenen aneinander an.

Die bemerkenswerteste Persönlichkeit unter diesen war eine gefeierte Opernsängerin, deren wirklicher Name Madame Odéro war; der Name, unter dem sie auf der Bühne auftrat, hatte einen weit berühmteren Klang. Sie und ihre Gesellschaftsdame, Niels sowie ein tauber Arzt aus Wien waren die einzigen Gäste im Hotel zur »Goldenen Sonne«, dem hervorragendsten der Stadt.

Niels schloß sich mehr und mehr an die Sängerin an, und sie gab der Herzlichkeit nach, die in seinem ganzen Wesen lag, wie das so oft bei Leuten der Fall ist, die mit sich selber im Unfrieden leben, und die deswegen darauf angewiesen sind, bei anderen in Sicherheit zu kommen.

Madame Odéro verbrachte schon den siebenten Monat in Riva, um sich in voller Ruhe von den Nachwehen[270] eines Halsleidens zu erholen, das ihre Stimme bedroht hatte. Der Arzt hatte es ihr streng befohlen, ein ganzes Jahr lang nicht zu singen, ja, er hatte ihr sogar jegliche Musik verboten, um sie nicht in Versuchung zu führen. Erst wenn das Jahr verstrichen wäre, wollte er ihr gestatten, einen Versuch zu machen, und wenn sich dann herausstellte, daß sich nicht die geringste Müdigkeit danach bemerkbar machte, sollte sie als völlig geheilt zu betrachten sein.

Niels gewann eine Art von bildendem Einfluß auf Madame Odéro, die eine heftige, feurige Natur war.

Es war ja für sie ein furchtbarer Schlag gewesen, als sie erfuhr, daß sie ein ganzes Jahr in aller Stille hinleben sollte, fern von Bewunderung und Vergötterung. Im Anfange war sie ganz verzweifelt gewesen und hatte wie gelähmt vor Schreck in diese vor ihr liegenden zwölf Monate hinausgestarrt, als wären sie ein tiefes, schwarzes Grab, in das sie lebendig gelegt werden sollte, sie hatte geglaubt, von allen Menschen darauf angesehen zu werden. Das hatte sie nicht ertragen, und eines schönen Morgens war sie plötzlich nach Riva entflohen. Sie hätte ebensogut einen lebhafteren, besuchteren Ort wählen können, aber das wollte sie gerade nicht. Sie schämte sich, wie gesagt, und es war ihr zumute, als hätte sie ein äußeres Gebrechen, wegen dessen die Leute sie bemitleideten und von dem sie miteinander sprächen. Darum hatte sie an ihrem neuen Aufenthaltsorte jeglichen Umgang vermieden und meistens auf ihren Zimmern gelebt,[271] deren Wände viele Verwünschungen hinnehmen mußten, wenn ihr dies freiwillige Gefängnis allzu unleidlich wurde. Jetzt, wo die Gesellschaft auseinander gestoben war, tauchte die Dame wieder auf und kam so mit Niels Lyhne in Berührung, denn den einzelnen Menschen gegenüber war sie durchaus nicht scheu.

Man brauchte nicht gar lange mit ihr zusammen zu leben, um sich darüber klar zu werden, ob sie den Betreffenden gern hatte oder nicht, denn sie gab das deutlich genug zu verstehen. Niels Lyhne gegenüber war ihr Benehmen sehr ermutigend, und beide hatten nur wenige Tage allein miteinander in dem prächtigen Hotelgarten mit seinen Granaten und Myrten, seinen Lauben von blühenden Oleandern und seiner herrlichen Aussicht verlebt, als sie auch schon recht vertraut geworden waren.

Von einem Verliebtsein war nicht die Rede, oder jedenfalls war es nicht von Belang; es war eines jener unbestimmten, angenehmen Verhältnisse, die zwischen Männern und Frauen entstehen können, die über die erste Jugend hinaus sind, über das Aufflackern der Jugend, über ihr Sehnen nach dem unbekannten Glücke. Es ist eine Art fliegender Sommer: man lustwandelt zierlich nebeneinander, sammelt sich selber die Blümchen seines Gemütsgärtchens zu einem Strauße, streichelt sich selber mit der Hand eines anderen, bewundert sich selber mit den Augen eines anderen. Alle die schönen Geheimnisse, die man hat, alle die niedlichen, gleichgültigen Dinge,[272] die man aufbewahrt hat, alle die Nippsachen der Seele werden hervorgeholt und gehen von Hand zu Hand und werden prüfend in einem künstlerischen Suchen nach dem besten Lichte in die Höhe gehalten, während man vergleicht und erklärt.

Natürlich hat man nur in den guten Stunden des Lebens Ruhe zu derartigen Sonntagsverhältnissen, aber hier an dem herrlichen See hatten sie ja Zeit genug. Niels hatte das Verhältnis eingeleitet, indem er Madame Odéro durch Worte und Mienen mit einer kleidsamen Melancholie umgab. Im Anfange war sie mehrmals im Begriff, sich den ganzen Staat abzureißen und als die Barbarin, die sie war, zum Vorschein zu kommen; als sie aber einsehen lernte, daß die Melancholie sie vornehm kleide, ging sie darauf ein wie auf eine Rolle und beschränkte sich nicht allein darauf, das Schlagen mit den Türen zu unterlassen, sondern sie forschte in sich selber nach solchen Stimmungen und Rührungen, die zu dem neuen Gewande paßten, und es war erstaunlich, wie sie nach und nach zu der Einsicht kam, daß sie sich selber doch nur unendlich wenig gekannt habe. Ihr Leben war ja zu bewegt, zu wechselvoll gewesen, als daß sie früher Zeit gefunden hätte, in sich selber aufzuräumen, und eigentlich näherte sie sich ja auch erst dem Alter, wo die Frauen, die viel erlebt und viel von der Welt gesehen haben, damit anfangen, ihre Erinnerungen zu bewahren, auf sich selber zurückzublicken und sich eine Vergangenheit zusammenzustellen.[273]

Von dieser Einleitung aus entwickelte sich das Verhältnis schnell und bestimmt, und sie wurden einander ganz unentbehrlich. Man fühlte sich nur halb, wenn man allein war.

Da geschah es eines Morgens, als Niels aussegeln wollte, daß er Madame Odéro im Garten singen hörte. Er beabsichtigte im ersten Augenblick, umzukehren und sie zu schelten; ehe er sich aber noch recht besonnen hatte, war er schon außer Hörweite gelangt; außerdem war der Wind so verlockend zu einer Fahrt nach Limone, und zu Mittag wollte er ja wieder zurück sein. So segelte er denn davon.

Madame Odéro war ungewöhnlich früh in den Garten gekommen. Der frische Duft, der draußen herrschte, die runden Wellen, die so glasklar und blank unter der Gartenmauer stiegen und sanken, und die ganze Farbenpracht auf allen Seiten, der blaue See, sonnenbeleuchtete Berge, und Segel, die über die Wasserfläche dahinschossen, und rote Blumen in Unmenge über ihrem Haupte, alles das, und dann ein Traum, den sie nicht vergessen konnte, der noch immer in ihrem Herzen wogte – sie konnte nicht schweigen, sie mußte ihr Teil beitragen zu all diesem Leben.

Und so sang sie.

Voller und voller erklang der Jubel ihrer Stimme, sie berauschte sich an ihrem Wohllaut, sie erzitterte in einem wohligen Gefühl ihrer Macht; und sie sang weiter, sie konnte nicht innehalten, dazu trug es sie viel zu schön[274] dahin durch wunderbare Träume von zukünftigen Triumphen.

Es stellte sich auch keine Müdigkeit ein, sie konnte reisen, gleich reisen, die ganze Nichtigkeit dieser Monate abschütteln und vorwärts kommen und leben!

Schon am Nachmittage waren alle Vorbereitungen zur Abreise getroffen.

Als der Wagen bereits vor der Tür hielt, kam ihr plötzlich der Gedanke an Niels Lyhne. Sie zog ein kleines Schreibebuch, das sie in der Tasche trug, hervor und schrieb es voll Abschiedsworte an Niels Lyhne, denn die Blätter waren so klein, daß auf einem jeden nur drei bis vier Worte stehen konnten. Dann legte sie das Ganze in ein Kuvert und fuhr davon.

Als Niels am Nachmittage – er war von der Gesundheitspolizei in Limone aufgehalten worden – heimkehrte, war sie längst in Mori auf der Eisenbahn.

Er wunderte sich nicht, er war nur traurig, nicht im geringsten ärgerlich, er hatte sogar ein leichtes, resigniertes Lächeln für diese neue Feindseligkeit des Geschicks. Als er aber am Abend in dem leeren, mondhellen Garten saß und dem kleinen Sohne des Wirtes die Geschichte von der Prinzessin erzählte, die ihr Federgewand wiedergefunden hatte und damit fortflog, weit fort von dem Geliebten, in das Land der Feen, da erfaßte ihn eine unsagbare Sehnsucht nach Lönborggaard, nach einem Heim, das ihn umschließen, das ihn an sich ziehen und ihn halten könnte, gleichviel wie. Er konnte die Gleichgültigkeit des Daseins[275] nicht länger ertragen, das Gefühl, stets losgelassen, stets auf sich selber zurückgewiesen zu werden. Kein Heim auf Erden, keinen Gott im Himmel, kein Ziel draußen in der Zukunft! Ein Heim wollte er doch wenigstens haben; er konnte durch Liebe zu seinem Eigentume sich ihn schaffen, diesen Fleck Erde, im Großen wie im Kleinen, jeden Stein, jeden Baum, das Leblose wie das Lebende, sein Herz zwischen dem allen teilen, so daß es ihn nie wieder losließe.

Quelle:
Jacobsen, J[ens] P[eter] : Niels Lyhne. Leipzig [o. J.], S. 268-276.
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