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[45] Obwohl Hildegard sehr sparsam lebte und unnötige Geldausgaben scheute, entdeckte sie doch bald eine bedenkliche Ebbe in ihrer Börse. Das Essen in den Restaurationen kostete viel, das oftmalige Pferdebahnfahren verschlang auch täglich ein Sümmchen. Ein leises Angstgefühl beschlich sie. Was thun, wenn das letzte Geldstück verausgabt war? Ihren Mann konnte sie doch nicht mitten im Monat um Geld schreiben. War es ihr doch schon bitter genug, am Ersten wieder seine Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen. Nun, Frau von Werdern mußte um jeden Preis Rat schaffen. Sie mußte. War es doch auch ihre eigene Sache, die Hildegard vertrat.

Sonnabend Abend klingelte sie nicht ohne Herzklopfen bei der Vorsitzenden an. Sie wurde in einen Salon geführt, in dem schon einige Damen anwesend waren. Frau von Werdern nahm sie freundlich an der Hand und stellte sie ihren Bekannten vor. Man war[45] sehr liebenswürdig gegen sie. Einige Damen begannen gleichzeitig ein Gespräch mit ihr, so daß sie bald links, bald rechts antworten mußte und schließlich in Verwirrung geriet. Dann wurde Thee herumgereicht. Frau von Werdern verlas einige Briefe von auswärtigen Gesinnungsgenossinnen, die mit großem Jubel von der Gesellschaft aufgenommen wurden. Man sprach von Frau X. und Frau Y., die Hildegard unbekannt waren. Dann begann ein allgemeines Durcheinanderreden. In Frau Wallner begann sich leise Ungeduld zu regen.

Wozu war sie eigentlich hergekommen? Die Fragen, die man vorhin an sie gerichtet hatte, waren nur Fragen der Neugierde gewesen. »Sie sind aus Konstanz?« »Ist's schön in Konstanz?« »Gefällt es Ihnen in Berlin?« »Haben Sie eine gute Wohnung gefunden?« und so weiter. Wirkliche Teilnahme hatte aus keiner geklungen. Und gerade ihrer bedurfte Hildegard so sehr. Aber abgesehen davon, auch ihre ganze Lage ließ keine große Wartezeit zu. Frau von Werdern war von einem Ring hastig auf sie einredender Frauen umgeben. Mit ihr war heute wohl nicht zu reden. So wandte sich Hildegard mit einer beiläufigen Frage an die neben ihr sitzende Dame.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau,« begann sie, »giebts hier nicht ein Leseinstitut, in dem man für nicht zu hohen Entgelt Eintritt hätte?«[46]

Die Angeredete lächelte verbindlich.

»Ich bin unverheiratet, Frau Walker –« Hildegard verbesserte sie – »meine Name ist Kampfmann, Lehrerin an der Elisabethenschule. Ja, was Sie sagten wegen des Lesekabinets – gewiß giebts das. In der Kronenstraße 60, famos eingerichtet. Man läßt sich vorher in die Schriftstellergenossenschaft aufnehmen –«

»Aber ich bin ja keine Schriftstellerin.« –

»Das thut nicht das geringste, – und genießt da allerlei Vorteile. Zum Beispiel steht Ihnen ein Rechtsanwalt unentgeltlich zur Verfügung, Sie dürfen täglich nach Herzenslust hundert Zeitungen durchstöbern und last not least, man macht eine Menge netter Bekanntschaften. Wir alle gehen da aus und ein.«

»Es ist sehr verlockend, was Sie mir da erzählen, aber – wie teuer kommt –«

»Ah bah, ein für alle mal fünfzig Mark und jährlich zwölf Lesegebühr; doch wahrhaftig nicht zu viel für das Gebotene.«

»Das nicht, aber –«

Die Lehrerin mit den etwas männlichen Zügen und den starken, kohlschwarzen Augenbrauen sah sie verständnisvoll an.

»Mein Gott, ja, das kenne ich. Man ist manchmal ausgebeutelt. Jeder Pfennig ist da zu viel. Connu,[47] connu. Aber sagen Sie, besitzen Sie denn niemand, der für Sie etwas thut, der für Sie sorgt?«

Gott sei dank, dachte Hildegard, endlich ein menschliches Wesen, mit dem man reden konnte. Die ehrlichen dunklen Augen Fräulein Kampfmanns veranlaßten Hildegard, offenherzig zu sein. Bald befanden sich die beiden in tiefem Gespräch miteinander. Vertrauen fordert Vertrauen. Auf den Wangen des Fräuleins glühten zwei rote Flecke auf.

»Ich habe mich Ihnen als Lehrerin vorgestellt, aber ich bin nur äußerlich Lehrerin. Mein Beruf ist die Kunst; das Zeichnen, das ich den Kindern beibringe, ist mir nur Mittel zum Gelderwerb. Sehen Sie, ich bin mit großen malerischen Anlagen zur Welt gekommen. Aus mir hätte ein Genie werden können. Schon mit acht Jahren porträtierte ich meine Eltern. Aber was glauben Sie? Meinen Sie, ich hätte Aufnahme auf einer Akademie gefunden? Mit nichten. Abgewiesen hat man mich. In München, in Dresden, in Berlin. Die Akademien wären nur für Männer da, wurde mir geantwortet. Ich arbeitete hierauf in verschiedenen Ateliers, aber selbstverständlich ohne es zu etwas rechtem zu bringen. Ich möchte Lenbach oder Grützner ohne ihre Akademie-Lehrjahre sehen. Aber die Frau natürlich, für die ist die Fortbildungsanstalt der männlichen Geniusse zu gut. Die kann ja auch hinterm Ofen vermittels Inspirationen etwas lernen.«[48]

»Glauben Sie nicht,« wandte Hildegard ein, »daß ein wirklich starkes, großes Talent sich doch Bahn bricht, wenn es auch ›nur‹ einer Frau angehört?«

»Niemals, meine Liebe; wie sollte es auch, wenn ihm ununterbrochen Hindernisse in den Weg gelegt werden. Beständige Entmutigung lähmt auch die robusteste Kraft. Und sehen Sie, diese Unterdrückung, diese himmelschreiende Ungerechtigkeit hat mich der Frauenbewegung zugeführt. Gebt Raum den Frauen, öffnet ihnen die öffentlichen Bildungsanstalten! Zu Hauf werden sie kommen und euch beweisen, daß das Weib gleich befähigt mit dem Manne ist.«

»Fräulein Kampfmann macht wieder ihrem Namen Ehre.« Eine große schlanke Dame neigte sich zu der erregten Sprecherin und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Machen Sie unsere neue Genossin nur nicht gar zu kühn, sonst verknallt sie ihr Pulver an unrechter Stelle.«

Hildegard lachte. »Denken Sie denn anders als das Fräulein?«

»In manchem ja, in manchem nein. Ich finde vor allem Fräulein Kampfmann zu heftig. Durch Leidenschaft erreichen wir nichts. Unsere wirksamste Waffe ist die Ironie. Die Männer von heute bieten ein so klägliches Bild, daß nichts besser zu ihrer[49] Änderung beitragen kann, als ihnen dies Bild vor Augen zu halten.«

Hildegard betrachtete interessiert die hübsche noch junge Frau, der das schwarzseidene, mit Perlen besetzte Kleid vortrefflich stand.

»Sie haben leicht reden« sagte Fräulein Kampfmann über die Schulter. Die schöne Frau machte eine abwehrende Handbewegung und trat zu einer Gruppe plaudernder Damen.

»Wer ist sie?« fragte Hildegard.

»Melanie Langenwang? Vor allem eine schlaue Dame, mit viel Verstand – das glaubte sie nämlich – und wenig Herz. Aber ihr großartiger Verstand hat sie doch sitzen lassen. Sie hat sich nämlich mit einem halb blödsinnigen Mann verheiratet, in der Hoffnung, daß er nach der Hochzeit noch etwas blödsinniger würde, und sie dann die Verwaltung seines beträchtlichen Vermögens in die Hände bekäme. Aber sie hat sich schmählig getäuscht. Der ›Staat‹ hat ihrem Mann einen Vormund gegeben, und sie hat nur einen Teil ihrer Zinsen zur Disposition bekommen. Seither ist sie Anhängerin der Frauenemancipation geworden. Sie möchte den Paragraphen im bürgerlichen Gesetzbuch, der von der Verwaltung des Vermögens der Frau handelt, umgeändert wissen.«

In diesem Augenblick entstand einiges Gedränge[50] an der Thür. Mehrere Frauen brachen auf und verabschiedeten sich in stürmischer Weise von Frau von Werdern. Hildegard erhob sich. »Mein Gott, es ist spät geworden. Ihre interessante Gesellschaft hat mich die Zeit vergessen lassen.«

Auch Fräulein Kampfmann stand auf. »Ich habe noch fünfzig Hefte zu korrigieren, kann auch mir nicht schaden, wenn ich gehe. Haben Sie denselben Weg wie ich? Ich wohne Schiffbauerdamm.«

»Ich unter den Linden.«

»Also ein Stück gehen wir jedenfalls miteinander« sagte Fräulein Kampfmann, der die neue Bekannte sehr zu gefallen schien. Elvira schwärmte für alles, was schön und neu war. Und Frau Wallner erfreute sich dieser beiden Eigenschaften in ihren Augen. Man verabschiedete sich von der Gastgeberin, die Hildegard freundlich die Hand drückte.

»Nur guten Mutes!«

Hildegard sah ihr einen Augenblick lang bittend, fragend in die Augen. Aber sie lächelte bloß verbindlich und sagte nichts als: »Auf Wiedersehen, wenn nicht früher, so Sonnabend.«

Das war ein schwacher Trost, oder eigentlich keiner. Hildegards Stirne verdüsterte sich.

»Fahren wir oder gehen wir?« fragte die Lehrerin unten.[51]

»Gehen wir.« Und dann fragte Hildegard: »Wo essen Sie immer?«

»In der Pomona.«

»Was ist das?«

»Ein Restaurant, wo man sich für dreißig Pfennig satt essen kann.«

»Wahrhaftig?« rief Hildegard in naivem Erstaunen, »giebt es so etwas? So viel brauch ich ja beinah an Trinkgeld des Mittags.«

»Nun, wenn Sies haben, warum denn nicht?« meinte Fräulein Kampfmann gleichmütig.

»Ich habs ja aber nicht.«

»Dann, entschuldigen Sie, sind Sie recht unklug, so viel Geld hinauszuwerfen.«

»Ist das Fleisch denn auch frisch für diesen Preis?«

»Fleisch? In der Pomona giebts kein Fleisch, nur Gemüse und Obst.«

Hildegard blieb stehen. »Ist denn das gut, gesund, schmackhaft?«

»Es ist schmackhaft und billig« sagte lachend die Lehrerin, »ich habs auch nicht allzu reichlich, wissen Sie.«

»In welcher Straße liegt Ihr Restaurant?«

»In der Dorotheenstraße.«

»Wann essen Sie?«

»Um ein Uhr.«[52]

»Ists Ihnen recht, wenn ich morgen Mittag an Ihren Tisch komme?«

»Gewiß, sehr!« antwortete die Lehrerin freundlich. Dann trennten sie sich. Fräulein Elvira stieg in einen vorüberfahrenden Dmnibus, während Hildegard die paar Schritte nach Hause zu Fuß zurücklegte. Es war ihr merkwürdig zu Mut.

Einerseits interessierte sie alles, was sie erlebte, andererseits gabs eine Täuschung um die andere für sie. Sie hatte sich immer vorgestellt, die Frauenrechtlerinnen hätten ideale Ziele im Auge. Sie hätten eine große »Idee«, nach deren Verwirklichung sie strebten. Nun sah sie, daß jede von ihnen ihrem eigenen kleinen Interesse nachlief. Wenn Fräulein Elvira mehr Talent besessen und Aufnahme in eine Akademie gefunden hätte, würde sie sich da je für die »Befreiung« der Frauen interessiert haben? Und wenn die schöne Frau Langenwang Herrin über den Mammon ihres Gatten geworden wäre, würde ihr nicht das bürgerliche Gesetzbuch mit seinen Paragraphen höchst gleichgültig sein? Also lauter Privatinteressen, aus denen sich dieser heilige Krieg für die Rechte der bedrückteren Hälfte der Menschheit zusammensetzte. Merkwürdig, wie anders das alles in der Nähe aussah! Warum hatte Einhart nur immer geschwiegen, wenn sie ihm von der Herrlichkeit dieser Frauenbewegung vordeklamierte? Sie hatte damals in[53] ihrer Gereiztheit immer gemeint, er denke sich garnichts dabei, oder etwas Dummes. Am Ende hatte er aber doch etwas dabei gedacht, und vielleicht etwas nicht Dummes. – Herrgott, daß sie ihm jetzt um Geld kommen mußte. Nun, wenn sie vegetarisch lebte, würde sie viel weniger brauchen.

Mit schwerem Herzen schlief sie ein. Ihr letzter Blick galt noch ängstlich dem dunklen Vorhang, der sehr gleichgültig herabhing.[54]

Quelle:
Maria Janitschek: Die Amazonenschlacht, Leipzig 1897, S. 45-55.
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