Nr. 38. Marienglas

[832] Raphaela


Als Gottwalt erwachte, hatt' er anfangs alles vergessen, und die Abendberge vor seinem Bettfenster standen so rot im Morgenschein, daß sein Wunsch der Reise wiederkam – darauf der Einwurf der Armut – endlich der Gedanke, daß er aber ja über 20 Louisd'or gebiete. Da sah er nach dem Stadtturm, worauf als einem castrum doloris nun der verstorbne Flitte liegen konnte, und wollte traurig aufblicken.

Aber sein Gesicht blieb aufgeheitert, so mitleidig er auch die Augen aufzog; die romantische Reise in solchen blauen Tagen in solchen Verhältnissen – so plötzlich geschenkt – das war ihm ein Durchgang durch die helleste Glückssonne, wo es Licht stäubt und man sich ganz mit Flimmern überlegt.

Ganz verdrüßlich zuletzt darüber, daß er nicht traurig werden wollte, fuhr er ohne Gebet aus den Federn und hörte sein Herz ab. Er mochte aber fragen und zanken, solang' er wollte, und dem Herzen den blassen jungen Leichnam auf dem Turme hinhalten[832] und dessen zugedrückte Augen, die mit keiner Morgensonne mehr aufgingen: es half gar nichts, die Reise und mithin die Reisegelder behielten ihren Goldglanz, und das Herz sah sehr gern hinein. Endlich fragt' er aufgebracht, ob es denn, wie er sehe, des Teufels lebendig sei, und ob es, wenn es könnte, etwa den armen Testator nicht sogleich und mit Freuden rettete und aufbrächte? Man besänftigte ihn ein wenig durch die Antwort: mit Freuden und auf der Stelle. Hier fiel ihm das Versprechen des Türmers ein, ein weißes Schnupftuch als Trauerflagge am Turme auszustecken, wenn der junge Mensch verschieden wäre. Da er aber droben keines fand und doch darüber einige Freude verspürte: so entließ er das arme verhörte Herz und war ordentlich auf sich ärgerlich, ohne Not dem ehrlichen guten Schelm so zugesetzt zu haben.

Er hätt' aber nur diesen Schelm fragen sollen, wie ihn bei zehnmal größerer Erbschaft z.B. der Tod des Bruders gestimmt haben würde: so würd' er, wenn er gefunden hätte, daß dann die Last viel zu schwer, der Kopf zu gebeugt gewesen wäre, um nur etwas anderes zu sehen als das Grab und den Verlust, leicht den Schluß gezogen haben, daß nur die Liebe den Schmerz erschaffe, und daß er vergeblich einen zu großen bei einer zu kleinen für den Elsasser von sich gefordert.

Jetzt sah er ein weißes Schnupftuch, aber nicht am Turm, sondern an Raphaelen, die im Parke traurig lustwandelte, und welcher die modische Taschenlosigkeit das Glück gewährte, diesen Schminklappen des Gefühls, diese Flughaut der Phantasie in der Hand zu haben. Sie sah oft nach dem Turme, einigemal an sein Fenster, grüßt' ihn mitten im Schmerz; ja als wenn sie ihm winke, hinunterzukommen, kam es ihm vor, aber nicht glaublich genug, weil er aus englischen Romanen wußte, wie weit weibliche Zartheit gehe. Indes kam Flora und bat ihn wirklich hinab.

Er ging zur Bewegten als ein Bewegter. »Ich denke mir leicht«, dacht' er sich auf der Treppe, »wie ihr ist, wenn sie an den Stadtturm sieht und droben den einzigen Menschen bald aufgebahret glauben muß, der nur durch eine herzlichste Liebe, wie eine mütterliche gegen ein mißgeschaffnes Kind, den Eindruck ihrer[833] Widrigkeit schön überwand.« – »Verzeihen Sie meinen Schritt«, fing sie stockend an und nahm das Schnupftuch, diese Schürze eines trocknen Herzens, von den feuchten Augen weg, »wenn er Ihnen mit der Delikatesse, die mein Geschlecht gegen Ihres behaupten muß, sollte zu streiten scheinen.«

Schade oder ein Glück wars, daß sie gerade diese Phrasis nicht dem hastigen Quoddeus Vult sagte; denn da es schwerlich in Europa oder in Paris oder Berlin einen Mann gab, der es in dem Grade so verfluchte – und erriet – als er, wenn eine Frau bestimmt auf ihr Geschlecht und auf das fremde und auf die nötigen Zartheiten zwischen beiden hinwies und es häufig anmerkte, wie da mancher Handkuß sie eine un reine Seele erraten lasse, dort mancher wilde Blick, und wie das zärtere Geschlecht sich gar nicht genug decken könne: so würde der Flötenspieler ohne Umstände geäußert haben: eine freimütige H- sei eine kecke Heilige gegen solche Abgründe feiger und eitler Sinnlichkeit zugleich – er kenne dergleichen Herzen, welche das Schlimme argwohnen, um nur es ungestraft zu denken, die es wörtlich bekriegen, um es länger festzuhalten – ja manche sehen sich wohl gar in der Arzneikunde ein wenig um, damit sie im Namen der Wissenschaft (diese habe kein Geschlecht) ein unschuldiges Wort reden können – und lagern sich vor dem Altar und überall wie Friedrich II. so schlachtfertig, en ordre de bataille, wie auf dem Sofa. – »Wahrlich«, setzt' er dazu, »sie gehen ins leibliche oder ins geistige Zergliederungshaus, um die Leichen zu – sehen. ›Unschuld, nur wenn du dich nicht kennst, wie die kindliche, dann bist du eine; aber dein Bewußtsein ist dein Tod.‹«

So scheint, gleichnisweise, zermalmtes Glas ganz weiß, aber ganzes ist beinahe gar unsichtbar.

So dachte aber nicht Walt: sondern als Raphaela an ihn die obige Anrede gehalten, gab er die aufrichtige Antwort, daß er nicht einmal bei seinem eignen Geschlechte, geschweige bei dem heiligsten, das er kenne, irgendeinen Schritt anders auslege, als das fremde Herz begehre.

Indes hatte sie ihn weiter nichts zu fragen als: wie der Sterbende – dem sie als einem Freunde ihres Vaters wohl gewollet,[834] wie allen Menschen, und den sie sehr bedauert – sich in der Nacht bei seinem Letzten Willen (wovon durch die sieben Zeugen als durch sieben Tore ebenso viele Brote hinlänglicher Nachrichten der Stadt herausgereicht waren) sich benommen habe, was sie gern zu wissen wünsche, da ein Sterbender ein höheres Wort sei als ein Lebender.

Der Notar antwortete gewissenhaft, das heißet als ein Notar, und sagte, er hoffe, nach dem Schnupftuch zu schließen, er sei noch lebendig. Sie berichtete, daß der Dr. Hut, der gerufen worden, ihn zwar angenommen, aber als einen verlornen Menschen, und sie wünschte dem Doktor, mit ihrem weichen Leumund, keine unglückliche Kur.

»Das ist doch schon was, und die überlebte Nacht dazu«, versetzte Walt ganz wohlgemut. Aber sie versicherte, sie tröste sich leider nicht so leicht und sie sei überhaupt so unglücklich, daß das fremde Leiden, auch das kleinste ihrer Verwandten, sie heftig angreife und sie Tränen koste. Sie brach in einige aus; sie wurde von sich so leicht als von andern schwer gerührt. Auch ist das Sprechen vom Weinen bei Weibern ein Mittel zum Weinen.

Der Notar war seelenvergnügt über alle die Rührungen, die er teils sah, teils teilte. Liebes Frauen- Weinen war ihm eine so seltene Kost als langer grüner Ungar, Nierensteiner Hammelhoden, Wormser Liebefrauen-Milch oder andere Weine, die bei Hrn. Kaufmann Corthum in Zerbst zu haben sind. Er blickte ihr mit allen Zeichen des teilnehmenden Herzens in ihre Augen voll Wasser-Feuer und hätte wohl gewünscht, die Delikatesse englischer Romane verstattete ihm, ihre zarte weiße Hand in etwas zu fassen, welche vor ihm stark im besonnten Grüne gaukelte und in den Tau der Gebüsche fuhr und darauf ins Haar, um es damit nach der Vorschrift eines Engländers wie andere Gewächse zu stärken.

Beide stellten sich jetzt – der Pyramide und dem steinernen Großvater auf der Insel gegenüber – an eine Urne aus Baumrinde. Raphaela hatte eine Lesetafel mit der Inschrift: »Bis daher dauere die Freundschaft« darangemacht. Sie schlang den Arm aufwärts um die Urne, so daß er immer schneeweißer wurde[835] durch Bluts-Verhalt, und versicherte, hier denke sie oft an ihre ferne Wina von Zablocki, die ihr leider jährlich zweimal, durch die Michaelis- und die Ostermesse, nach Leipzig vom Generale entführet werde, seinem Vertrage mit der Mutter zufolge. Ohne ihr Wissen war ihr Ton durch langes Beschreiben der Schmerzen ganz munter geworden. Walt lobte sehr ihre Freundschaft und ihre – Freundin. Sie erhob die Freundin noch gewaltiger als er. Da konnt' er nicht länger mit dem anschwellenden Herzen bleiben. Mit Zurückberufung des alten Klagetons und einem Trauerblick gegen den Turm schied sie von dem Jüngling.

In diesem aber wurde ein Flug von Dämmerungsvögeln um seine Ideen so zu nennen – wach und flog ihm 36 Stunden lange dermaßen um seinen Kopf, daß er ihnen nicht anders zu entkommen wußte als zu Fuß, durch eine Reise. Winas lebendigeres Bild – die September-Sonne, die aus blauem Äther brannte – mögliches Reisegeld – und ein ganzes wünschendes Herz, das alles auf der einen Seite – und auf der andern und schlimmen Dr. Huts lautes Bedauern und Rezeptieren – Flittes laute Agonien – Heerings peinliches Schnupf- oder Bahrtuch, das jede Minute flattern konnte – Walts versäumte poetische Sing-Stunden (denn was war in solcher Krisis zu dichten?) viele gesperrte Träume – und endlich 36 innere Fecht-Stunden dazu – – so viel und nicht weniger mußte sich ineinanderhaken, damit Walt, weils nicht mehr auszuhalten war, keine weitere Umstände machte, sondern zwei nötige Gänge, den ersten zu den Testaments-Vollstreckern, um den dritten langen anzusagen als Notariats-Pause; und darauf den zweiten zum Flötenspieler, um ihm hundert Anlässe zur Reise und die Reise zu melden.

Beide Brüder freuten sich wochenlang auf alles, was jeder nun dem andern Geschichtliches werde zu erzählen haben, wenn er wochenlang weggewesen; jetzt war Walt der Geber. Vult hatte sich über viel zu wundern. Sehr schwer fiel es ihm, die juristische Regel, daß Worte eines Sterbenden Eiden gleich gelten wie die eines Quäkers, auf den prahlenden Flitte anzuwenden; indes blieb ihm die Angel verdeckt, um welche sich die ganze Täuschung drehte. »Mir ist«, sagt' er, »als hätten die Narren dich zum[836] – Weisen; ich weiß aber nicht wo. Um Gottes willen, junger Mensch, sei eine Kutsche (folge einem ältern) und habe hinten dein rundes Fensterchen, damit kein Dieb dir Geld abschneidet oder Ehre.«

»Ich habe leider nichts zu erzählen«, sagte Vult.

Aber der Notar konnte zum Glück noch viel mitteilen. Er erzählte chronologisch – denn Vult gebots, weil jener sonst alles ausließ – und mit höchster Behutsamkeit – denn Walt kannte dessen unmetrische Härten gegen Weiber – Raphaelens Gespräch. Allein es half wenig; er haßte alles Neupetersche und besonders das weibliche. »Raphaela«, sagt' er, »ist lauter Lug und Trug.« – »Und einer so armen Häßlichen«, versetzte Walt, »könnt' ich einen vergeben, obgleich weder mir noch einer noch einem Geliebten.« – »Sie will nur, das mein' ich«, fuhr Vult fort, »sich auf ihre innere Brust brüsten, und während ein Liebhaber auslöscht, einen Sukzessor im trüben Tränenwasser erfischen. Ein Weib ist ein weiblicher Reim, der sich auf zwei Laute reimt; ein männlicher auf einen. Es ist nicht viel besser, Alter, als wenn sie als Falkenier zu dir Falken sagte und sich als Taube dir vorwürfe: rupf an, Männchen!«

»Die Möglichkeit solcher Täuschungen«, sagte Walt, »seh' ich wohl auch voraus, und dein Argwohn ist mir oft nichts Neues; aber über die Wirklichkeit in jedem Falle, darüber ist der Skrupel. Und Liebe kann ja ebensowohl stimmen als Haß verstimmen. Ist Raphaelens Freude über mein Lob auf ihre Freundin kein schönes Zeichen?« – »Nein«, sagte Vult. »Nur eine Schönheit ist an ausschließende Grade des Lobes und Feuers verwöhnt und hasset jede Unvollständigkeit und Teilung der fremden Empfindung; aber eine untergeordnete Gestalt ist genötigt zur Zufriedenheit mit mittlern Stufen und vergibt manches, ausgenommen manches.«

Walt hatte nichts weiter zu berichten als seinen Plan, den reinen Himmel zu atmen auf einigen Tagreisen, wo er auf nichts ausgehe als auf den Weg. Vult genehmigte ihn stark. Jener wollte sehr scheiden; aber der Flötenspieler, durch Reisen der Abschiedsabende gewohnt, machte nicht viel Wesens, sondern[837] sagte lustig: »Fahre dahin, fahre daher, gute Nacht, glückliche Reise.«

Die schönsten Reise-Winke standen am Himmel. Glänzendscharf durchschnitt die Mondsichel der Abendblumen das Blau; frische Morgenluft strich schon über dunkelroten Wolken-Beeten am Himmel; und ein Stern nach dem andern verhieß einen reinen Tag.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 832-838.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Flegeljahre
Flegeljahre; Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie
Flegeljahre. Eine Biographie
Flegeljahre: Eine Biographie (insel taschenbuch)
Flegeljahre: Roman (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon