Nr. 32. Heller im Straußenmagen

[789] Menschenhaß und Reue


Personen, die Vults alten, noch versiegelten Brief an Walt gedruckt gelesen, durchschauen am ersten alle geheime Zwecke bei seiner Einkleidung des reinen Notars und finden deren nicht weniger als zwei. Der erste geheime Zweck Vults ist wahrscheinlich der, sich mehr zu ärgern als bisher und dadurch – indem er der brüderlichen Freundschaft gegen den Grafen zusieht oder gar der Erwiderung derselben – sich zu jenem zornigen Ausbruch aufzutreiben, ohne welchen, seiner bekannten Meinung nach, an Versöhnungen gar nicht zu denken ist, außer an schlechte. Freundschaftliche Eifersucht ist viel stärker als liebende, schon weil sie nicht, wie diese, ihren Gegenstand zu verachten vermag. – Die zweite Absicht Vults bei dem Verkleiden kann sich nur auf den Wechsel- oder Hornschluß gründen, daß der Graf den Notar – wenn dieser den adeligen Pfauenschwanz fallen lassen – als nackte Notariats-Krähe entweder wild aus Herz und Garten jagt (dann gewänne eben Vult), oder ihm, wie eine Krähe der andern, nichts aushackt (dann könnte Vult sehr zanken und sich spät versöhnen); – und einen dritten Fall gibt es eben nicht.

Der Notar kam ziemlich beklommen bei dem Bruder an. »Hier«, sagte Vult, »liegt der menschenhassende Meinau aus Kotzebues Menschenhaß und Reue auf dem Stuhl« und zeigte auf den feinsten Überrock, den Purzel für edle Bühnen-Charaktere gekehrt[789] hatte, ferner einen langhaarigen Rundhut, gespornte Steifstiefel, drei Ellen lange Halsbinden für den Hals, um die Farben im Gesicht zu unterbinden, und seidene Unterkleider. Aber was vorher leicht durch den Äther der Einbildung flog, steckte jetzt fest vor Walt in der unbehülflichen Gegenwart, und die Sünde zerfiel in Sünden.

»Beim Henker«, sagte Vult und streifte dem Notarius das Zöpflein herunter, »skrupelst du doch, als könnt' es nicht ebensogut eine An- als Verkleidung vorstellen. Besteht denn ein Edelmann in einem Paar Stiefeln und Sporen? Versäuere mir nichts!« –

Ein Friseur erschien. Das ganze Haar mußte in unzählige Locken zurückrollen. Darauf wurd' er hermetisch mit Seide und Tuch versiegelt; und sein Kern wuchs ganz in die Kotzebuesche Schote hinein.

Unterwegs schwur ihm Vult, er sei – schon wegen der Dämmerung – unkenntlich genug; und ein Großer sehe und behalte kein Bürgergesicht. Am Ende wurd' ihm selber der Notar, der blühend, liebe-zitternd neben ihm ging, ordentlich zum menschenfeindlichen Meinau. »Es fehlt nicht viel«, sagt' er, »so fall' ich dich an, weil ich denke, ich habe Meinau vor mir, der sich einige Akte lang schmeichelte und angewöhnte, die Menschen zu hassen aus Mädchen-Liebe, wie etwan Hasen durch Schlagen dahin zu bringen sind, daß sie trommeln wie Krieger. Weichen Schlamm und Sumpf soll der Kollegienrat K. abmalen, aber nicht Dieterichs-Felsen. Mit seinen Patent-Herzen, wie Pott mit Patent-Füßen zum Knien, steh' er feil, sogar mit verächtlichen, aber nur nicht mit verachtenden! Da sei der Teufel so sanft wie ein Exjesuit, wenn man überall vor und auf der Bühne Jünglingen begegnet, die Fait von Menschen-Verachtung machen, weil ein Mädchen sie ein wenig verachtet hatte – Tröpfe, bei denen der misanthropische Tollwurm nur, wie bei Hunden, im Zungenbande besteht und denen er, wie Kindern der Wurm, abginge, wenn man sie stärkte – Walt, unterstehst du dich auch und hassest die Menschen?« – »Nicht einen, auch nicht einen unglücklichen Menschenfeind (sagt' er unendlich sanft), aber du fragst doch sehr hart.« – »Vergib«, versetzte Vult, »ich fahr' schon seit zehn[790] Jahren auf und los, wenn ich nur etwas vom Theater rieche, und wär's nur ein Souffleur, oder der Souffleur des Souffleurs, der Poet, ja ein bloßer Hofrat – da doch die meisten Theater-Helden, wie in Dorpat die Professoren, Hofrats-Rang haben –; denn, das Schauspielervolk ausgenommen; zeigt nichts eine so ekle Gemeinheit als das Bühnenschreibervolk; Spieler und Schreiber verkörpern und beseelen sich wechselseitig; und bekielen sich mit Lanierschwänzen« – »Lanierschweife?« fragte Walt.

»Sind der Schwanz«, versetzte Vult, »den ein Falkenier einem abkräftigen Falken in die offnen Kiele des ausgefallenen künstlich einklebt mit ein wenig Hausenblasenleim. Die armen Schauspieler (transzendente Statisten) sind die Statuen, welche25 jeden Abend eine Seele von ihren Bildhauern oder Dichtern fodern, um davon zu leben.«

Sie kamen im Park an, wo ihnen der Graf mit seiner einfachen, ernsten, vornehmen Haltung entgegenging. »Es ist mein Freund und Verwandter gleiches Namens«, stellte Vult den gekehrten Meinau dem Grafen vor, »– seine Liebe zur Flöte treibt ihn mir nach.« Walt machte statt vieler Entschuldigungen – die ihm der Bruder abgeraten – ganz keck nur einen Bückling, weil der Graf, hatte Vult gesagt, wenig Welt besäße, wenn er ihn in seinem Garten ausfragen wollte, wie ein Katechet unter dem Tore.

Walt dachte gleichfalls zu redlich, um vor dem Grafen etwas anders, nur den schwächsten Gedanken, zu verkleiden als seinen Leib. Vult hatte recht gehabt, daß Große, die auf Reisen und an Höfen an zwanzig Heere von Menschen gesehen, nicht leicht den Nachtrab aus einem Notarius sonderlich im Kopfe behalten und aufheben; Klothar sah ihn ein wenig sinnend an, kannte aber den viellockigen, zopflosen, dickbindigen Kavalier in der Dämmerung nicht.

Letzterem wurd' es etwas eng in seiner Meinaus-Haut. Die Verkleidungen in Romanen bilden die in der Wirklichkeit den Menschen zu lustig vor. Wie im Zimmer das Wetter, so ist im Freien die schöne Natur der Notpfennig und Hecktaler des Gesprächs[791] – Walt hatte dem Grafen kein Hehl, daß diese Stelle (wo er einmal abends dem Musizieren zugehöret hatte), mit der Katarakte hinter dem Rücken, der Vestalin-Statue dabei, den fernen Höhen, ihre wahren Reize habe. Klothar aber wollte wenig daraus machen, sondern versicherte, jeder Park gefalle nur einmal.

Der Flötenspieler war so wortkarg und höflich gegen den Grafen, als dieser selber und sparte Laune und Zunge nur der Flöte auf. Die Gebrüder Harnisch wurden mit einem mehr aus Blättern als aus Beeren gequetschten Wein bewirtet. Der Graf trank keinen; Walt aber einigen, um wie ein Schmied Verstärkungs-Wasser ins Feuer zu sprengen. Vult, über den Krätzer und alles aufgebracht, ging schnell mit der Flöte auf und ab, ohne zu blasen.

Klothar überließ ihn seiner Laune. Endlich fing er (lustwandelnd dabei) sein Flötenkonzert ein wenig an und blies aus Künstler-Kälte gegen jenen nur obenhin – zerstückte Phantasier-Galoppaden – musikalische Halbfarben zu Halbschatten – starke Eingriffe in die Flöten-Saiten, wie sie die Faust eines Sturmwinds auf die Äolsharfe tut.

Beiden Kavalieren wurde durch dieses melodramatische Absetzen das Gespräch angenehm durchschossen, in welches sie miteinander geraten durften unter solcher Musik. Der englische Park wurde ein Postschiff, worauf beide nach England übersetzten, um es einmütig zu besehen und zu erheben. Klothar lobte die britische Ungeselligkeit: »Zu gewissen Fehlern gehören Vorzüge«, sagte er. »Nur Blumen schlafen, nicht Gras«, sagte Walt, der durch Poesie und Übersicht leicht die fremde Meinung in seine übersetzte und umgekehrt. Wer immer nur die Morgen- und Sonnenseite sucht, findet leicht überall Wärme und Licht. Klothar behauptete, daß die Freundschaft keinen Stand kenne, wie die Seele kein Geschlecht. Walt tournierte seine Anwort dergestalt, daß sie so klang: »Auch im Bestreben, die Ungleichheit zu vergessen, müssen beide Freunde gleich sein«; aber seine Aussprache war ein wenig bäuerisch, und sein Auge blickte nicht fein, sondern es strömte klar über von Liebesfeuer. Der Graf[792] stand ruhig auf und sagte, er entferne sich nur einen Augenblick, um die Abreise eine halbe Stunde später anzuordnen, und er gestehe, er sei selten so leicht verstanden worden als diesen Abend.

Mit unsäglicher Entzückung sagte Walt leise zu Vult: »Habe Dank, habe Dank, mein Vult! – O so sollte man doch nie das Benehmen eines Menschen gegen uns, und wär' es noch so frostig, zum Maße seines Wertes machen! Wieviel reiche Seelen gehen uns durch Stolz verloren! – Ich sag' ihm nachher alles, Vult.« – – »Der Krätzer aber«, versetzte Vult, »könnte etwas besser sein. – Das tu! – Ich halt' ihn selber für keinen selbstsüchtigen Eisvogel und Frost-Zuleiter weiter. – Er wußte zwar von deinem Gesichte und von der schnellen Kur meiner stadtkündigen Erblindung nichts mehr; es mag aber mehr in seiner Memorie liegen und ohnehin darin, daß ein fremder Mensch ihm weniger sein muß als sein eigner.« Und hier ergoß er sich, ohne Antwort abzuwarten, in seine Flöte, seine zweite Luftröhre, sein Feuerrohr, und blies schon trefflich, als der Graf kam.

Dieser hörte das Spiel aus und sagte nichts. Walt konnte nichts sagen; er hatte den Mond, den Grafen, den Wein, die Flöte und sich selber im Kopfe. Der Mond hatte die mit Windmühlen besetzten Höhen erstiegen und glänzte vom Himmel herunter in die weite Ebene und den Fluß voll Licht. Der Notar sah auf dem Gesicht des Jünglings ein ernstes, tiefes und schmachtendes Leben wehmütig im Mondschein blühen. Die Töne wurden ihm ein Tönen, die Flöte setzt' er schon als ein Posthorn auf den Bock, das ihm den neuen Freund und die süßeste Zukunft davonblase in weite Fernen hinein. »Und wo kann der Gute wiederfinden«, dachte Walt, »was er verlassen und beweinen muß, eine Geliebte wie Wina?« – Länger konnt' er sich nicht halten, er mußte die zarte Hand des Grafen haben.

Da er unbeschreiblich delikat sein wollte, und zwar in einem Grade, der, hofft' er, über die ältesten französischen Romane der französischen Weiber hinauslief: so erlaubt' er sich nicht von weitem zu bemerken, daß die Achse an Klothars Braut-Wagen zerbrochen sei. »Wir hätten uns früher«, sagte der Graf und drückte die Hand, »sehen sollen, eh' die Sphinx, wie ein sehr[793] wackerer Dichter die Liebe beschreibt, mir die Tatzen zeigte.« – Walt war der wackere Dichter selber gewesen. Mit diesem silbernen Leitton wurd' er ordentlich von dem zur Saite gespannten Liebesseil, das ihn gab und worauf er tanzte, aufgeschnellt, er konnte die Himmel nicht zählen (der Flug war zu schnell), wodurch er fuhr. Er drückte mit seiner zweiten Hand seine erste recht an die fremde ergriffene und sagte – nichts von seiner dichterischen Vaterschaft, sondern –: »Edler Graf, glauben Sie mir, ich kannte Sie schon früher, ich suchte und sah Sie lange – – Blase, Guter«, wandt' er sich plötzlich zu Vult, der zwischen Himmel und Hölle auf- und niederfuhr mit jener männlichen Lustigkeit, die dem weiblichen hysterischen Lachen gleicht, »milder, blase Hirtenlieder, Lautenzüge, Gottesfrieden.«

Vult spielte noch fünf oder sechs Kehrause und Valetstürme und hörte gar auf, weil er sich zu gut dünkte und es zu lächerlich fand, den Abfall von seinem Herzen, den Text abtrünniger Empfindungen in Musik zu setzen. »Auch ich entsinne mich Ihrer Erscheinung, aber dunkel, doch wünsch' ich Ihr Inkognito nicht zu brechen«, versetzte der Graf. »Nein, es werde gebrochen (rief der Notar), ich bin der Notarius Harnisch aus Elterlein, derselbe, der den Brief des Fräuleins Wina im Park fand und übergab.«

»Was?« sagte der Graf gedehnt und stand als König auf; er besann sich aber wieder und sagte ruhig: »Ich bitte Sie sehr ernsthaft um Ihren Namen und besonders um die Eröffnung, inwiefern Sie in die Brief-Sache verwickelt waren.« Walt sah sich nach dem Flötenisten um; aber dieser war nach seinen Sturm-Stößen in die Flöte seitwärts in einen Gang getreten, um zwei Herzens-Ergießungen aus dem Weg zu gehen, wobei nach seiner Überzeugung nichts Geringeres als es selber ersoff.

Walt erschrak über des Grafen Erschrecken und sagte: er wünsche herzlich, nichts Unangenehmes gesagt zu haben. »Gott, was ist mit meinem Bruder?« rief er; eine Schlägerei und Vults Stimme lärmten im Gebüsch. »Im Park ist keine Gefahr«, sagte der Graf, »nur weiter, weiter!« – Walt erzählte schnell das Finden des offnen Briefes im Park. »Was, Monsieur?« rief jener laut neben dem lauten Wasserfall. »Er kann sich unterstehen, meine[794] Briefe, die Er in meinem Parke aufgelesen, dem Generale zu übergeben, um sich bei ihm einzuschmeicheln, weil dieser der Rittergutsherr von Elterlein ist, Herr?«

Walt wurde wie von zwei Blitzen getroffen, gelähmt und gereizt; mit sterbender milder Stimme sagt' er: »Ach Himmel! das ist aber zu ungerecht – Unglück über Unglück – ich bin wohl unschuldig- Nein, nein, nur nicht so entsetzlich ungerecht sei man – Und es war in Neupeters Park.« –

Vult hörte Klothars Stimme und lief aus der Mooshütte her, worin er aus Verdruß seine alte Kunst, mit seinem Ich eine prügelnde Stube vorzustellen, getrieben hatte. Walt stand an der Statue der Vestalin, die den Kopf senkte, als wär' er ihr Ehemann. Der Flötenist, auf eine noch geistigere Schlägerei treffend, als seine gewesen, sah aus allem, daß Walt seine adelige Hülse und Raupen-Haut abgesprengt habe und als feste unbewegliche Puppe dahänge. Er bat sich sogleich vom Grafen einige Erklärung des Unwillens aus.

»Sie liegt in der Sache«, versetzte, ohne ihn anzusehen, dieser, »nur begreif' ich nicht, wie man keck genug dieselbe Person aufsuchen kann, deren Briefe man lieset, man usurpiert und man in falsche Hände spielt, die ausdrücklich darin verbeten wurden.« – »O ich habe nichts gelesen«, sagte Walt, »ich habe nichts getan; aber ich erdulde gern das härteste Wort, da ich ein solches Unglück über Sie gebracht«, sagte Walt und zog im Krampf der Hand einen kurzen Theaterdolch aus dem menschenfeindlichen Überrock und schwang ihn unbewußt. Der Graf bog sich ein wenig zurück vor dem Sack-Stilett: »Was soll das?« sagt' er zornig. – »Herr Graf«, fing Vult sehr stark an, »auf mein Ehrenwort, er hat nichts gelesen, sag' ich, ob ich gleich nicht weiß, von was die Rede ist. – Gottwalt, besieh, was du in der Hand hast!« Glühend stieß dieser die Waffe in die Scheide der Tasche.

»Herr van der Harnisch«, wandte Klothar sich zum Flötenspieler, »von Ihnen hab' ich mir eine besondere Erklärung auszubitten, inwiefern Sie mir diesen Notar unter fremdem Namen präsentieren konnten.« – »Ich stehe zu jeder da«, versetzte Vult, »als meinen Freund und Verwandten gab ich ihn – das bleibt er –[795] ich konnt' ihn auch als mutmaßlichen Gesamt-Erben der van der Kabelschen Erbschaft präsentieren. Ist sonst noch eine Erklärung nötig?« – »Ich würde sie fordern«, versetzte der Graf, »wenn ich nicht eben in den Reise-Wagen stiege.« – »Ich bin erbötig, nachzusteigen und darin auseinanderzusetzen oder überall«, sagte Vult und ging dem Grafen beleidigt nach, der auf seinen Wagen mit stolzer Kälte zuschritt. »O hör auf mich, schone mich«, bat Walt, »du weißt nicht, was ich ihm genommen.« –

»Der Narr soll nicht hitzig reden, und du bist auch einer«, fuhr er den Notarius an. »Hr. Graf, Sie sind mir noch Antwort schuldig«, sagte Vult. »Gar keine; aber ich frage: Sind Sie beide Brüder?« sagte Klothar.

»Vater und Mutter müssen Sie fragen, nicht mich«, sagte Vult. Der unglückliche Notar konnte matt den Sargdeckel nicht aufstoßen, zu welchem hinunter er die polternden Zurüstungen zu einem Duelle über seinem Kopfe hörte. »Wenn Sie niemand unter falschem Titel präsentiert haben als sich selber, so brauch' ich keine Erklärung; von Bürgerlichen forder' ich keine«, sagte der Graf und saß im Wagen. Vult ließ die Türe nicht schließen und rief noch hinein: »Können denn nicht die zwei Narren von Adel sein – oder gar drei?« Aber der Wagen rollte fort, und er blieb mit vergeblicher Tapferkeit zurück.

Walt konnte erdrückt dem Menschen kein Glück nachwünschen, dem er das größte genommen; nicht einmal im Herzen wagt' er es, Wünsche auszudenken. Ohne Worte schlich er mit dem stillen Bruder aus dem verlornen Eden-Garten. Vult sah den Bruder unter der innern tiefhängenden Wetterwolke gebogen gehen; aber er sprach kein Wort zum Trost. Walt nahm dessen Hand, um sich an ein Herz anzuhalten, und fragte: »Wer kann mich noch lieben?« Vult schwieg und hielt seine Hand nur schlaff; Walt entzog sie; das steife scharfe Schweigen hielt er für eine Strafpredigt gegen seine Versündigung. Er ging weinend durch die lustigen Abend-Gassen, neben einem Bruder, um dessen eifersüchtige Brust die Tränen wie versteinernde Wasser nur Stein-Rinden ansetzten.

»Warum hast du mich beschützen wollen?« sagte Walt. »Ich[796] war ja nicht unschuldig. Weißt du alles mit dem Briefe?« Vult schüttelte kalt den Kopf; denn Walts frühere Erzählungen davon waren, wie alle seine von sich, aus blöder Demut zu karg und unbestimmt gewesen, als daß Vult sein altes, von der Welt gewecktes historisches Talent, jede Begebenheit rück- und vorwärts zu konstruieren und zu der kleinsten eine lange Vergangenheit und Zukunft zu erfinden, sehr dabei hätte zeigen können. Walt hatte von diesem Hoftalent nichts an sich; er sah und strich in einem fort ein Faktum malend an; und weiter bracht' ers nie.

Walt erzählt' ihm nun das unglückliche Übergeben von Winas Brief an ihren Vater. »Ei Teufel!« rief Vult verändert, denn er erriet nun alles und erschrak über die Verwicklung, in welche er den Bruder gezogen, »schuppe dich droben bei mir ab.« – »Ja«, sagte Walt, »und ob ich gleich kein Unglück wollte, so hätt' ich doch die Absicht nicht haben sollen, den Vater und die Braut zu sehen. Ach wer kann denn sagen im vielfach verworrenen Leben: ich bin rein. Das Schicksal hält uns (fuhr er auf der Treppe fort) im Zufalle den Vergrößerungsspiegel unserer kleinsten Verzerrung vor – Ach über dem leisen leeren Wort, über sanften Klängen steht eine stille bedeckte Höhe, aus der sie einen ungeheuern Jammer auf das Leben herunterziehen26

»Schäle dich nur zuvörderst aus dem Hunds-Meinau heraus«, sagte Vult sanfter, als sie ins stille von Mondlicht gefüllte Zimmer traten. Schweigend hob der Notar den Kotzebuischen Zuckerguß, wie ein Strom sein Eis, tat sanft den Überrock und Koadjutor-Hut ab und strich die Locken wieder aus. Als Vult im Mondlicht dem betrübten Schelm das dünne Nankingröckchen wie einen Gehenkten am Aufhäng-Bändchen hinlangt' und er es überhaupt überlegte, wie lächerlich der Bruder mit dem Korkwams der Verkleidung auf dem Trocknen sitzen geblieben: so dauerte ihn der getäuschte stille Mensch in seinen weiten Steifstiefeln unsäglich, und ihm brach mitten im Lächeln das Herz in zwei Stücke von – Tränen entzwei. »Ich will dir«, sagt' er, sich hinter ihn wie hinter ein Schießpferd stellend, »das Zöpflein[797] machen. – Nimm aber das Zopfhand zwischen die Zähne; das eine Ende.«

Er tats fast verschämt. Als Vult gar das weiche Kräuselhaar unter die Finger bekam und den brüderlichen Rücken vor sich hatte – der sehr leicht den Menschen auf einmal tot, fern und abwesend darstellt und durch diese Linienperspektive des Herzens das fremde mitleidig bewegt –: so hielt er dem Kopfe den Zügel des Haares ganz kurz am Genick, damit Gottwalt sich nicht umkehren könnte, weil er ihm mit fast schwerer Stimme (weinen konnt' er in solcher Stellung frei und lustig, wie er wollte) die Frage tat: »Gottwalt, liebst du einen gewissen Quoddeus Vult noch?«

In der Stimme lag etwas Gerührtes. Walt wollte sich eiligst herumwerfen, aber er wurde an den Haaren gehalten. »O Vult, liebst du mich denn noch?« rief er weinend und ließ das Zopfband fahren.

»Mehr als jeden und alle Spitzbuben hienieden«, versetzte Vult und konnte schwer reden, »und darum krächz' ich wie ein Hund und wie ein Weib. Beiße wieder aufs Zopfband!« – Aber der Notar fuhr schnell herum und wurde schneeweiß, als er Tränen über das wellenschlagende Gesicht des Bruders rinnen sah: »O Gott! was fehlt dir?« rief er. – »Vielleicht nichts oder so etwas«, sagte Vult, »oder gar Liebe. So fahr's nur heraus, das verfluchte Wort, ich war eifersüchtig auf den Grafen. Es ist nicht sauber vom Bruder, sagt' ich mir, daß er so reviert und jagt, da man ihm mehr zugetan ist als allen Menschen, die der Satan sämtlich hole, und von welchen ich in der Tat so schlimm denke als irgendein Kirchen-Vater, ein griechischer oder römischer. Er muß nur nicht denken, mich mit lumpiger Geschwister-Liebe abzufinden. Mein junges Leben steht schon sehr trocken da, die Freihäfen der Liebe hat ihr Meer verlassen – und keine Katze kann hinein und ankern – Bruder, ich hatte oft einige Tage voll Ohrenbrausen, Nächte voll Herzgespann – Der Donner, ich weinte einmal abends gegen halb 12 Uhr – –«

Er mußte aber innehalten, die Unterlippe des bestürzten Notars zog ein heißer schwerer Liebesschmerz tief herunter. »Was[798] betrübt dich so?« fragte Vult. Walt schüttelte – schritt weit auf und ab – nahm bald ein Glas, bald ein Buch in die Hand – sah nichts an – schauete in den hellen Mond und weinte heißer. »So sei es gut!« sagte Vult; »wir wollen die alten sein« und umarmte ihn, aber Walt riß sich bald los. Endlich faßt' er sich und sagte schmerzlich: »Muß ich denn alles unglücklich machen? Du bist heute der dritte Mensch. Die drei Wachskinder in meinem Traum.«

Vult fragte, um ihn von den Schmerzen abzuführen, dringend nach dem Traum. Ungern, eilig erzählte Walt: »Verhüllte Gestalten gingen vor mir vorbei und fragten mich, warum ich nicht jammerte und nicht blaß würde. Eine nach der andern kam und fragte. Ich zitterte vor einer ungeheuern Entschleierung. Da flogen drei bildschöne Kinder aus Wachs vom Himmel, sie blickten freundlich, grüßten mich. ›Gebt mir die weißen Händlein und zieht mich hinauf‹, sagt' ich. Sie taten es, aber ich riß ihnen die Arme mit der Brust aus, und sie fielen tot herunter. Und schon als ich erwachte, sah ich noch einen fernen dunkeln Leichenzug, der auf den Knien weiterzog. Der Traum ist eingetroffen.«

Vult, dem der zornige Schmerz wie weggezaubert war, machte jetzt alle Anstalten zur Kur des fremden; er stellte ihm alles auf der leichtern Seite vor, klagte den giftigen Schmollwinkel in seiner linken Herzenskammer an, in welchem ein Schmoll-Kobold und Werwolf hause und feurig blicke, zog das Silber von den Giftpillen ab, die er bisher in seine Billette eingewickelt hatte, und machte sein Naturell bekannt, das ohne tüchtigen Zank nicht traktabel werde, wie die Haubenlerche allezeit singe, wenn sie keife, und schwur, Walt sei nicht der erste, dem er mit diesem Seelen-Pips beschwerlich falle, sondern der letzte; denn dessen grenzenlose Leutseligkeit stelle ihn gewiß davon her.

Aber Walt wollte wenig Vernunft annehmen, hielt alles für opfernde Zartheit und warf ein, daß ihn Vult ja eben gegen den Grafen so feurig beschirmt und bisher zu diesem sogar den Weg gebahnet habe. »Aus Gift, Schatz«, sagte Vult, »und einigem Stolz dazu, nur darum. Hier«, fuhr er fort und holte den mit zwei[799] Siegeln verschlossenen Brief hervor, »lies den Beweis, ich habe dich voraus gerechtfertiget, und mich besonders.«

Der Notarius machte aber das Blatt nicht auf, er sagte, er glaubte aufs Wort und verstehe ihn endlich, und jetzt sei ihm wieder um vieles besser. Vult ließ es dabei und drückte sich dem Bruder mit der lang verschobenen heißen Umarmung an das Herz, die seinen wilden Geist erklärte.

Und der Bruder wurde glücklich und sagte: »Wir bleiben Brüder.«

»Nur einen Freund kann der Mensch haben, sagt Montaigne«, sagte Vult.

»Oh! nur einen«, sagte Walt – »und nur einen Vater und nur eine Mutter, eine Geliebte – und nur einen, einen Zwillings-Bruder!«

Vult versetzte ganz ernsthaft: »Jawohl, nur einen! Und in jedem Herzen bleibe nur die Liebe und das Recht.«

»Spaße wieder wie sonst, ich lache gewiß, so gut ich kann«, sagte Walt, »zum Beweise deiner Versöhnung; dein Ernst durchschneidet sehr das Herz.«

»Wenn du willst, so kann wohl gescherzt werden«, sagt' er. »Und nein! Bei Gott nein! – Wenn die Kamtschadalen glauben nach Steller –, von zwei Zwillingen habe jederzeit der eine einen Wolf zum Vater: so bin ich wahrlich dieser Wolfs-Bastard-Mestize- Mondkalb, du schwerlich. Jetzt, da wir alle klar über die Verwicklung sprechen können, darf ich dir sagen, daß du durchaus rein und recht gegen den Grafen gehandelt; nur daß du zu wenig Egoismus hast, um irgendeinen zu erraten. Klothar hat fast großen – wahrlich, ich greife heute niemand an, sondern schlage dir nach – Aber die Philosophen, junge gar, wie er, sind doch bei Gott den Augenblick egoistisch. Menschenliebende Maximen und Moralien sind, weißt du, nur Scherwenzel; ein Licht ist kein Feuer, ein Leuchter kein Ofen; dennoch meint sämtliches philosophisches Pack das Deutschland hinauf und hinab, sobald es nur sein Talglicht in das Herz trage und auf den Tisch setze, so heize das Licht beide Kammern zulänglich.«

»Lieber Vult«, sagte Walt mit der allerzärtlichsten Stimme, »erlasse mir die Antwort; ich darf heute am wenigsten über den unglücklichen[800] Klothar aburteilen, dem ich das Schönste genommen, und der nun einsam in der Nacht hinreiset mit nächtlichem Herzen in nächtliche Zukunft. Du bist rein, nicht ich; du kannst sprechen.«

»So sprech' ich«, sagt' er, »der Philosoph hat sich diesen Abend gehäutet; und das bedeutet, wenns Spinnen tun, klares Wetter. Apropos! häute dich, aber besser und physisch!« – Das tat Walt; jener hielt ihn, als er sich zum Entkleiden auf den Stiefelknecht stellte. »Wie lächelt der Mond«, sagte Vult, »im Zimmer herum!« Darauf setzte er hinzu: »Stelle dich in den süßen Schein und nimm wieder das Band-Ende zwischen die Zähne; jetzt flecht' ich dir dein Zöpflein mit ganz andern Empfindungen und Fingern als vorhin, pompöser Krauskopf!« – Darauf schieden sie ruhig und liebreich.[801]

25

Die Perser glauben, daß die Statuen am Jüngsten Tage Seelen von den Bildbauern begehren werden.

26

Ein Wort, ein Glockenton reißt oft die Lauwins ins Fallen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 2, München 1959–1963, S. 789-802.
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