3. Hundposttag

[524] Freuden-Säetag – Wartturm – Herzens-Verbrüderung


Der Lord war der weggenommene Damm, der bisher vor der Flut der Erzählungen, Fragen und Freuden gestanden hatte. Die erste Untersuchung, die das Pfarramt vornahm, war, obs noch der alte Bastian sei. – Und der wars mit Haut und Haar, sogar das linke Seitenhaar hatt' er noch wie sonst kürzer als das rechte. Wenn der Fleischerknecht heimkömmt aus Ungarn, so wundert er sich, daß seine Sippschaft die alte ist – diese wundert sich, daß er es nicht mehr ist. Hier freute man sich über die doppelte Unveränderlichkeit. Auf jedem Gesicht lag der Heiligenschein der Freude, aber auf jedem mit andern Strahlen. Die Entzückung sieht auf einem sanften Gesicht, wie Viktors seinem, wie die Tugend aus. – Die alte Appel, die in ihrem Leben nichts durchblättert hatte als den Psalter Davids und den Psalter im Ochsenmagen, legte vor den Kupferpfannen ihr Vergnügen dadurch an den Tag, daß sie ungemein zuschürte. Das Wiener Tierspital von einem alten Mops und Kater, die einander nicht mehr haßten – wie sich im alten Menschen die gute und böse Seele aussöhnen –, und die Vogelsammlung unter dem Ofen, die einen schwarzgebeizten Gimpel stark war, nahmen Anteil genug an der allgemeinen Unruhe und stellten sich vor und ließen gern – das täte kein Ambassadeur – das Recht der ersten Visite fahren. Agathe drückte ihre Freude bloß mit ihren Lippen aus, indem sie damit schwieg und sie an ihres Bruders seine drückte. Am Hofkaplan will mans rühmen, daß er den invaliden Mops, der an den Hinterfüßen das Podagra und an den Vorderfüßen das Chiragra hatte, ruhig in seinem Wohn- und Schlafkorb wieder unter den Ofen schob, die Säulenordnung der Sessel ohne Keifen herstellte und den kleinen Bastian unter der freudigen Sprachenverwirrung wiegte, damit er sie nicht vermehrte, wenn er erwachte. Aber im erhaben geschliffnen Herzen der Landsmännin, der Kaplänin, gingen die Freudenstrahlen der Familie in einen Brennpunkt zusammen und verbreiteten in ihrer ganzen Brust die Lebenwärme der Liebe. – Viktor lächelte[524] sie so sehr in sein Gesicht hinein, daß sie sich mit nichts zu retten wußte als mit seiner künftigen Stube, die sie ihm zu öffnen und zu zeigen befahl. Agathe flog mit dem Schlüssel-Geläute voran, und dem Gaste zogen nicht mehr Leute hinterdrein, als im Hause waren, und wollten sämtlich sehen, was er dazu sagte.

Er übergab sich der ganzen freundschaftlichen Handhabung, nicht mit dem eiteln Selbstgefühl eines ausgebildeten Fremdlings, sondern mit einer vergnügten, folgsamen, fast kindlichen Verwirrung – er kümmerte sich nichts darum, daß er wie ein Kind aussah, so sanft, so froh und so ohne Ansprüche. In solchen Stunden ists schwer, zu sitzen – oder eine Historie anzuhören – oder eine zu erzählen Jedes fing eine an; aber der Kaplan sprang dazwischen: »Wir haben ganz andere Dinge zu sagen.« Aber es kamen keine ganz andere Dinge. – Jedes wollte den Fremdling unter vier Ohren genießen, aber die sechs bleibenden Ohren waren nicht wegzubringen. – Meine Beschreibung seiner Verwirrung ist selber verwirrt; aber es geht mir allemal so: z.B. wenn ich Eiligkeit schildere, so tu' ichs unbewußt selber mit der größten. – Wars einem solchen Herzen wie seinem, das in den Federn der Liebe wiegend hing, noch nötig, daß es in jedem zersägten Fensterstock, in jedem glatten Pflastersteinchen, in jeder vom Regen gebohrten vertieften Arbeit auf dem Haustürstein seine Knabenjahre musivisch abgebildet sah, und daß er in denselben Gegenständen Alter und Neuheit genoß? Diese Knabenjahre, die ihm aus einem Schatten erschienen, wohnend auf St. Lünens Fluren, zwischen frohen Sonntagen in lauter Blumen und bei geliebten Gesichtern, diese Knabenjahre hatten einen dunkeln Spiegel in Händen, in dem die dämmernde Perspektive seiner Kinderjahre zurücklief – und in dieser entfernten Zauber-Nacht stand schimmernd Dahore, sein unvergeßlicher Lehrer in London, der ihn so geliebt, so geschont, so veredelt hatte. »Ach,« dacht' er' »du unbelohntes, für die Erde zu warmes Herz, wo schlägst du jetzt, warum kann ich nicht meine Seufzer mit deinen vereinigen und zu dir sagen: Lehrer, Geliebter? O! der Mensch sieht es oft spät ein, wie sehr er geliebt wurde, wie vergeßlich und undankbar er war, und wie groß das verkannte Herz.«.. Was seine stille[525] Freude am meisten ernährte, war der Gedanke, daß er sie verdiene durch seinen kindlichen Gehorsam gegen seinen Vater und durch seinen Entschluß zu künftigen Herkules-Arbeiten am Hofe – denn ihm fiel in jede große Freude der Zweifel wie ein bitterer Magentropfen hinein, ob er sie verdiene; ein Zweifel, der regierenden Häusern, Woiwoden, Patriarchen und Hochmeistern in der Kindheit geschickt benommen wird. Der bessere Mensch findet die Freude erst nach einer guten Tat am süßesten, das Osterfest nach einer Passionswoche.

Die Leserinnen werden jetzo hören wollen, was auf Mittag gekocht war; aber die Dokumente dieses Posttags, die mir halb auf der Achse, halb zu Wasser einlaufen, besagen erstlich, daß niemand Appetit hatte – die Freude nimmt ihn mehr als der Gram –, ausgenommen die drei Regimenter, die wie Veteranen in den Feind einhieben, nämlich in den Tafel-Abhub; zweitens, daß das Mahl noch magerer war als der Gast selber. Man will aber sämtliche Lesegesellschaften hiemit auf das unbewegliche Fest des 4ten Maies einladen, auf den Freitag, wo erst Viktors Ankunft und seines Patchens Kirchgang anständig gefeiert wird.

Die Pfarrerin zog den umzingelten Geliebten nachmittags aus dem musikalischen Zirkel so vieler Töne und kaperte ihn ihrem Manne, dessen Direktrice und Lady Maire sie war, vor den Augen weg und führte ihn in sein Zimmer, um da vor ihm allein sich zu betrüben, sich zu erfreuen und sich auszureden wie eine Mutter; lang eingeschlossene Seufzer und veraltete Tränen drangen jetzt aus dem geöffneten Mutterherzen in das fremde weiche über, das ja der beste Freund ihres Sohnes war. Sie klagte bei ihm über Flamins Aufbrausen, das Viktor sonst immer gestillet; »über seine Liebe zum Soldatenwesen, da er doch ein Gelehrter sei« – und endlich über seine Gesellschaft. »Er treibe sich nämlich mit einem Hofjunker Matthieu – Sohn des Ministers von Schleunes – herum, einem wüsten, überall beliebten, überall verschlimmerten, pfiffigen, kühnen, spöttischen Menschen, der, wenn es sein Dienst erlaube, entweder drüben bei den Kammerherrlichen oder hier bei ihrem Sohne liege; der Himmel wisse überhaupt, was er im Schilde führe bei seinen Besuchen in einem bürgerlichen Hause.« Sie[526] freuete sich, daß Viktor seinen alten Freund von den Fangeisen und Fangzähnen dieses Wüstlings wegführen würde. Viktor drückte ihr gerührt die Hand und sagte: »Ich möchte sein Herz kaum mit dem besten Bundgenossen teilen – nicht einmal verlieben dürft' er sich, wenns auf mich ankäme – bloß mich und eine Person müßt' er lieben, die ihn gar nicht richtig schildert – – nämlich Sie.« Er setzte noch viel Mißtrauen in die Zeichnung von den Sonnenflecken Matthieus, weil die Weiber selten exzentrische Menschen fassen, und weil zwar Mädchen oft wilde Männer lieben, aber die (durch die Ehe aufgeklärten) Frauen allemal sanfte.

Er brachte das Herz verehelichter Weiber leichtlich in sein Zuggarn durch eine gewisse wohlwollende Galanterie gegen sie, die ein Deutscher nur für ledige aufhebt. Alte Damen und alte Tabakpfeifen aber bekleben leicht an männlichen Lippen. Die jüngern Tauben lockte er durch sein komisches Salz an sich, wie man Turteltauben durch anderes fängt; ein Bonmot ist ihnen ein dictum probans, ein Pasquino ein magister sententiarum, und die kritische Lästergeschichte ist ihnen Kants Kritik der reinen Vernunft, die verbesserte Auflage. Auch mit seinem medizinischen Doktorring häkelte er weibliche Seelen an sich an; als Arzt macht' er auf körperliche Mysterien Anspruch, und diesen gehen dann leicht die geistigen nach.

Abends, als das Waldwasser des ersten Jubels verlaufen war, waren endlich drei gescheute Worte möglich; auch keifte der Pfarrer jetzt weniger: denn die Freude hatte ihn vormittags bissig gemacht. Der Zorn und Körper werden miteinander gestärkt, daher durch die Freude – daher hat man im Januar und Februar, wo die Hunde die längere Wut bekommen, die kurze des Zorns – daher brummen Wiedergenesende stärker um sich, so wie Leute unter starken Geistes-Anspannungen, z.B. Hundpostschreiber – daher ist man in den Ermattungen nach Migräne oder nach dem Rausche sanfter als ein Lamm.

Gegen Abend trug sich schon etwas von Bedeutung zu. Apollonia fegte ihre Blutverwandtschaft und ihren Gast mit Kehrwischen noch früher hinaus als Spinnen und Staub. – Es sollte am 4ten Mai die heutige Ankunft des bisherigen Flüchtlings recht[527] anständig gefeiert werden. – Flamin und Viktor gingen voraus durch den Pfarrgarten, dessen Merkwürdigkeiten und curiosa so erheblich sind, daß der Korreferent dieser Akten sich wünscht, er könnte mir den Garten durch die Hunds-Stafette klärer schildern. Der Kaplan hatte viele Beete nicht zu Langvierecken abgestampft, sondern sie zu lateinischen Buchstaben an Doppel-Fraktur, als Anfangbuchstaben seiner Familie, geschweift und umgebogen. Sein eignes E hatt' er mit Rettich ausgesäet, Apolloniens A mit Kapuzinersalat, Flamins F mit Kohlrabi, Sebastians S mit Süßholz oder Glycyrrhiza vulgaris. Wer nicht zu säen war, dem blieb allezeit noch ein Platz und almanac royal auf Kürbissen und Stettineräpfeln leer, die ein durchbrochenes Papier mit dem ausgeschnittenen Namen umflocht, der nach Abschälung dieses Einbands grün oder rot auf der bleichen Frucht erschien. Viktor fragte, als er bei einem K aus Tulpen vorüberging, seinen Flamin um die Bedeutung. »Warum fragst du?« fragte dieser; und die nachkommenden gesprächigen Pfarrleute vertrieben die Antwort. – Über der Pfarrwiese stand (man setzte nur über den Bach) ein Hügel und darauf ein alter Wartturm, in dem nichts war als eine Holztreppe, wie oben darauf nichts als ein bretterner Deckel statt des italienischen Dachs; beides hatte der Kammerherr machen lassen, damit die Leute – (er nicht; denn die Gefühllosigkeit der Magnaten arbeitet für das Gefühl der Minoriten) – sich droben ein wenig umschauen könnten. Man sah da die Säulenordnung des Schöpfers, die Schweizerberge, stehen, und den Rhein mit seinen Schiffen ziehen. Am Turm waren zwei von der Natur ineinander gewundne Lindenbäume hinaufgestiegen, um oben mit ihrem Gesträuche, das man zu einer grünen Nische ausgehöhlet und mit einer Grasbank unterbauet hatte, zuweilen einen gerührten Eiländer zufächeln. Das liebende Personale erstieg die Zinne und brachte in der ländlichen Brust eine Ruhe mit, die darin sanft den äußern stillen Himmel nachmalte, der diese Guten mit seinen verhüllten Sonnen umzog. Noch eine Wolke glühte sich ab, aber sie zerfloß, ehe sie ausbrannte.

Jetzt konnten die Supplementbände der allgemeinen Welthistorie von St. Lüne bequem nachgeliefert werden. Eymann[528] konnte seine Foliobände gravaminum (Beschwerden) über die Konsistorialräte und Ratten einreichen. Auf einmal wurde unten Agathe wie ihre heilige Namenbase angerufen vom Blasbalgtreter loci, der Dorfs-Lehnlakai und Pfarrkutscher war. Wenn einige Autores sagen, der Kutscher war blind und der Gaul taub: so kehren sie die Sache gerade um. Der Kerl war taub. Er hatte in seinem mouchoir de Venus – das Schnupftuch ist beim Pöbel die Brieftasche und der Briefumschlag, weil ihm ein Brief so wichtig und selten ist wie einem Rezensenten ein guter – heute eine Briefschaft an Agathen ausgekundschaftet und ausgewickelt, die er gestern mit des Lords seiner hätte abgeben sollen. Aber Kutscher halten den Herrn nur für die Nebensonne und Nebenpartie des Pferds, und die Frau gar nur für ein Schmarotzer-Gewächs des Stalls; daher bedeutet »Gleich!« bei ihnen ein oder ein paar Tage; und »morgen vormittags« bedeutete auf dem Regensburger Ansagzettel der Abstimmgegenstände ein oder ein paar Jahre. Agathe eilte lieber hinunter, hielt den Brief gegen die lichtere Abendgegend und entzifferte was, was sie mit funkelnden Augen im Galopp die Treppe hinauftrug. »Sie kommt morgen!« rief sie auf Flamin zu; denn sie schien in jedem ihrer Freunde beinahe nur den Gesellschafter und den Freund ihrer andern Freunde zu lieben. Klotilde (Le Bauts einzige Tochter von der ersten Frau, der Niece des Lords) ging nämlich aus dem Fräuleinstift in Maienthal, wo sie erzogen worden, zum Vater zurück.

»Nehmen Sie sich in acht,« sagte die Kaplänin, »sie ist sehr schön.« – »Dann«, sagt' er, »denk' ich vielmehr darauf, mich nicht in acht zu nehmen.« – »Überhaupt« (fuhr sie fort) »sammelt sich jetzt alles Schöne um Sie« (er wollte sie hier durch einen schmeichelnden Blick verwirren und abstrafen, aber vergeblich) – »die italienische Prinzessin kommt zu Johannis auch, und diese soll so reizend sein, als wenn sie gar keine Prinzessin wäre, sondern nur eine Italienerin.« Sie tat hier den meisten Prinzessinnen unrecht; aber eine gewisse Ironie über ihr eignes Geschlecht war der einzige Fehler der Kaplänin, für die es wie für mehre Mütter beinahe keine Stiefsöhne und beinahe nichts als Stieftöchter gab. Er erwiderte, er hoffe, daß noch wenige Prinzessinnen, selbst in Amerika,[529] kopuliert worden, in die er sich nicht vollständig verschossen hätte – und das bloß aus Mitleid mit so einem armen zarten Tierchen oder Wappentiere, das unter die Siegelpresse und dann auf die Verträge gedruckt werde, welche oft die einzigen Kinder dieser Ehen wären – »die jungen Landesmütter stehen wahrlich wie Bienenmütter in ihrem Weiselgefängnis feil und passen ab, in welchen Korb sie der Landes- oder Bienenvater noch heuer verhandle.«

Eine Frau kanns von einem Mann, den sie hochachtet, gar nicht begreifen, daß er sich verliebt, wenns nicht in sie ist, und sie kanns kaum erwarten, bis sie seine Geliebte zu Gesichte bekömmt- ebenso erpicht ist sie auf dieses Mannes Manier in seiner Liebe, ob sie nämlich aus der niederländischen oder aus der französischen oder der italienischen Schule her sei. Die Kaplänin fragte ihren vertraulichen Gast auch darüber. »Mein Harem«, fing er an, »langt von dieser Warte bis zum Kap und um die ganze Erdkugel herum – Salomo ist nur ein gelber Strohwitwer gegen mich – ich habe sogar seine Weiber darin, und von der Eva an mit ihrem Sodoms-Borsdorfer-Apfel bis zur neuesten Eva mit einem Reichsapfel und bis zur Marquise mit einem bloßen Fruchtstück sind sie alle in meiner Haft und Brust.« Eine Frau entschuldigt die Achtung für ihr Geschlecht damit, daß sie mit darin ist; die Weiber selber haben nicht einmal einen Begriff von den Eigenheiten ihres Geschlechts. »Was sagt aber die Favoritsultanin dazu?« fragte die Großinquisitorin.

»Die?« – stockt' er, weniger verlegen als in die Fülle aufblühender Träume versunken. »Freilich die« – (fuhr er fort:) »ich setze inzwischen meinen Kopf zum Pfande, jeder Jüngling hat zwei Perioden oder doch Minuten. In der ersten setzt er selber seinen Kopf zum Pfande, er wolle lieber sein Herz in seinem Thorax oder Oberleib verschimmeln lassen und seinen poples oder die Kniekehle erlahmen, als daß er beide für eine andre Frau bewegte als für die allerbeste, für einen wahren Engel, für eine ausgemachte Quinterne – er dringt durchaus auf den höchsten Gewinst aus dem Ehelotto, in der ersten Periode nämlich – denn die zweite kömmt auch und hinterbringt ihm nur so viel, die weibliche Quinterne[530] würde natürlich eine männliche fodern, und falls er die wäre...

Ein dummer Auszug, ein Ambe bin ich, sag' ich und lasse die Periode gar nicht ausreden; aber ich werde doch fortpassen auf die Quinterne.. Was käme dabei heraus, daß man ein Mensch wäre, wenn man kein Narr wäre? – Zög' ich nun die gedachte Quinterne, welches ich nun wohl ohne übermäßige Hoffnung voraussetzen darf, so würd' ich nicht gleichgültig dabei sein, sondern selig – O du lieber Himmel! stehendes Fußes müßt' ich frisiert und silhouettiert werden – ich machte Verse und Pas, und beide mit ihren herkömmlichen pedibus (Füßen) – ich bückte mich öfter als ein andächtiger Mönch, um Verbeugungen und (wo abzugrasen wäre) um Sträußer zu machen – Leib, Seele und Geist setzte ich an mir aus so vielen Fingerspitzen und Fühlfäden zusammen, daß ich es schon spürte (die Quinterne spürte es gar noch eher), wenn unsre zwei Schatten zusammenstießen – ein schmales betastetes Endchen Band wäre eine gute Ableitkette des elektrischen Äthers, der in Blitzen aus mir schösse, da sie negativ geladen wäre und ich positiv – vollends gar ihr Haar berühren, das könnte keine geringere Entzündung geben, als wenn eine Welt in das aufgebundne eines Bartkometen geriete....

Und doch, was ist denn das alles, wenn ich Verstand habe und bedenke, was sie verdient, diese Gute, diese Treue, diese Unverdiente – Was wären nicht vollends dumme Verse, Seufzer, Schuhe (die Stiefel tät' ich weg), ein oder ein Paar drückende Hände, ein aufopferndes Herz für ein kleines Gratial und don gratuit, wenn damit ein Geschöpf abgefunden werden sollte, das, wie ich immer mehr sehe, vom schönsten Engel, der den Menschen durch das Leben führt, alles besitzt, etwa die Unsichtbarkeit ausgenommen – das alle Tugenden hat und alle in Schönheiten verkleidet – das schimmert und erquickt wie dieser Frühlingabend, und doch wie er seine Blumen und Sterne verbirgt, ausgenommen den der Liebe – dessen allmächtige und doch leise Harmonika des Herzens ich so gern hören, in dessen Augen ich so außerordentlich gern die Tropfen der weichern Seele und den Blick der höhern sehen möchte, neben dem ich so gern stehen bleiben möchte unter[531] der ganzen fliehenden opera buffa und seria des Lebens, so gern, sag' ich, damit der arme Sebastian doch, wenn am heiligen Abend des Lebens sein Schatten immer länger würde, und die Gegend um ihn selber zu einem weiten Schatten zerflösse und er selber, damit ich doch beide Schattenhände« – (die eine hielt gerade Flamin) – »beschauen und ausrufen könnte:« – – (stockend)


»der alte Balgtreter kommt auch mit was in einer!«


Da er weder seine Rührung mehr hinter Scherz, noch die Merkmale derselben in seinen Augen hinter einige tief hängende Lindenblätter verdecken konnte: so wars in der Sekunde, wo seine Stimme unter ihr erliegen wollte, ein rechtes Glück, daß er über die Warte hinausschauete und den Kutscher wieder heranschreiten sah. Dieser rief unten: »von Seebaßen hätt' ers gekriegt, aber den Augenblick erst.« Agathe lief leidenschaftlich hinab und unten, nach Lesung eines Blättchens, über die – Wiesen hinüber. Der Balgtreter stieg, gleich einem Barometer vor dauerhaftem Wetter, langsam hinauf und brachte sich und den zurückgelangten Zettel, trotz alles obern Winkens, mit seinen Hebelarmen keine Minute früher auf den Turm. Im Zettel stand mit Klotildens Hand: »Komm in deine Laube, Geliebte!«

Alle Augen liefen jetzt der Läuferin nach und flatterten mit ihr durch das Helldunkel des Abends in den Pfarrgarten, um dessen Laube man doch niemand sah. Kaum hatte Agathe die Öffnung der letzten ins Auge bekommen, als ihr Eilen Fliegen wurde – und als sie beinahe an ihr war, flog eine weiße Gestalt mit ausgebreiteten Armen heraus und in ihre hinein, aber die Laube verhüllte das Ende der Umarmung, und lange standen alle wartende Augen vergeblich auf der Klause der Liebe.

Die Kaplänin, die sonst allen Mädchen nur Standeserniedrigungen, nicht Standeserhöhungen gewährte, erteilte jetzo Klotilden alle sieben Weihen und lobte sie so sehr – vielleicht auch da sie ihre Landsmännin von mütterlicher Seite war –, daß Viktor die Lobrednerin und die Gelobte hätte zugleich umarmen mögen. – Der Kaplan setzte zu ihrem Lobe noch dazu, er habe ihr Namens-Initial-K mit Tulpen gleichsam wie einen Titel rot gedruckt, und der Buchstabe auf dem Beete glänze, wenn er blühe, weit und breit.[532]

Der Ehe- und Säemann fiel jetzt immer mehr in den Sphärengesang der Nacht mit dem Schnarrwerk seines Hustens ein; endlich machte er sich mit der enthusiastischen Freundin Viktors fort und ließ die beiden Freunde allein in der schönen Nacht mit den zwei vollen Herzen zurück, die ineinander sich zu ergießen lechzten.

Flamin hatte diesen ganzen Tag eine schweigende rührende Sanftmut gezeigt, die selten in sein Inneres kam, und die zu sagen schien: ich habe etwas auf dem Herzen. Als die Warte öder war, so verheimlichte Viktor, der von liebenden Träumen voll und weich geworden, seine in Tränen stehenden Augen nicht mehr, er schlug sie frei auf vor dem ältesten Liebling seiner Tage und zeigte ihm jenes offne Auge, welches sagt: blicke immer durch bis zum Herzen hinunter, es ist nichts darin als lauter Liebe... Stumm gingen die Wirbel der Liebe um beide und zogen sie näher – sie öffneten die Arme für einander und sanken ohne Laut zusammen, und zwischen den verbrüderten Seelen lagen bloß zwei sterbende Körper – hoch vom Strome der Liebe und Wonne überdeckt, drückten sich auf eine Minute die trunknen Augen zu; und als sie wieder aufgingen, stand die Nacht erhaben mit ihren in ewige Tiefen versunknen Sonnen vor ihnen, die Milchstraße ging als der Ring der Ewigkeit um die Unermeßlichkeit, die scharfe Sichel des Erdenmonds rückte schneidend in die kurzen Tage und Freuden der Menschen. –

Aber in dem, was unter den Sonnen stand, was der Ring umzog, was die Sichel angriff, war etwas höher, fester und heller als diese – es war die unvergängliche Freundschaft in den vergänglichen Hüllen.

Flamin, anstatt durch diesen erschöpfenden Ausdruck unsrer sprachlosen Liebe befriedigt zu sein, wurde jetzt ein lebendes fliegendes Feuer. »Viktor! in dieser Nacht gib mir deine Freundschaft auf ewig und schwöre mir, daß du mich nie in meiner Liebe zu dir stören willst!« – »O du Guter! ich hab' dir ja längst mein Herz gegeben, aber ich will gern heute wieder schwören.« – »Und schwöre mir, daß du mich niemals in Unglück und Verzweiflung stürzen willst.« – »Flamin! das tut mir zu weh.« – »O ich fleh' dich[533] an, schwöre es und hebe deine Hand auf und versprich mir, wenn du mich auch hast unglücklich gemacht, daß du mich doch nicht verlässest und nicht hassest«.... (Viktor preßte ihn an sich) »Sondern wir gehen hieher, wenn wir uns nicht mehr aussöhnen können – o es tut mir auch wehe, Viktor! – hieher und umfassen uns und stürzen uns hinab und sterben« – »Ja!« (sagte Viktor erschöpft leise) »o Gott! ist denn etwas vorgegangen?« – »Ich will dir alles sagen: nun leben und sterben wir miteinander« – »O Flamin! wie lieb' ich dich heute unaussprechlich!« – »Nun lass' ich dich mein ganzes Herz sehen, Viktor, und offenbare dir alles.«

Aber eh' ers konnte, mußt' er vorher sich durch Verstummen ermannen, und sie schwiegen lange, in den innern und den äußern Himmel vertieft.

Endlich konnt' er anfangen und ihm erzählen, daß jene Klotilde, über die er heute gescherzt, sich mit unauslöschlicher Schrift in sein Inneres geschrieben – daß er sie weder vergessen noch bekommen könne – daß das schleichende Fieber einer furchtsamen wahnsinnigen Eifersucht aufreibend in ihm brenne – daß er mit ihr zwar kein Wort über seine Liebe nach ihrem eignen Verbote sprechen dürfe, als bis ihr Bruder (der Infant) wieder da und dabei sei – daß sie aber, nach ihrem Betragen und nach Matthieus Versicherungen, vielleicht einige für ihn habe – daß ihr Stand die ewige Scheidemauer zwischen beiden bleibe, solang' er den juristischen Weg anstatt des militärischen zu seinem Steigen einschlage – und daß er auf dem letzten, wenn der Lord ihm seine Hand dazu biete, schneller zu Klotilden auf ähnliche Stufen kommen würde – und daß die Bitte, von der er in seinen Briefen an Viktor gesprochen, eben die sei, alles dem Lord wieder zu erzählen und seinen Beistand zu begehren. – Im Grunde konnte nur sein wilder Arm den Degen besser als die Gerechtigkeitwaage halten. Eine fürchterliche Anlage zur Eifersucht, die schon von künftigen Möglichkeiten Zuckungen bekömmt, war die Hauptursache. Viktor freuete sich, daß er seinen Gefühlen die beste Sprache geben konnte, nämlich Handlung, und sagte ihm alles mit Entzücken über sein Zutrauen und über das Außenbleiben befürchteter Neuigkeiten zu. – So gingen sie, von neuem aneinander befestigt,[534] zur Ruhe, und das Zwillinggestirn – dieser fortbrennende verschlungne Name der Freundschaft – schimmerte in Westen zuwinkend aus der irdischen Ewigkeit herüber, und das Herz des Löwen war zu seiner Rechten angezündet....

Auf diese Erde sind Menschen gelegt und an den Fußboden befestigt, die sich nie aufrichten zum Anblick einer Freundschaft, welche um zwei Seelen nicht erdige, metallene und schmutzige Bande legt, sondern die geistigen, die selber diese Welt mit einer andern und den Menschen mit Gott verweben. Solche zum Schmutz Erniedrigte sind es, die, gleich den Reisenden, den Tempel, der um die Alpenspitze hängt, von unten für bodenlos und schwebend ansehen, weil sie nicht in der Höhe auf dem großen Raume des Tempels selber stehen, weil sie nicht wissen, daß wir in der Freundschaft etwas Höheres als unser Ich, das nicht die Quelle und der Gegenstand der Liebe zugleich sein kann, achten und lieben, etwas Höheres, nämlich die Verkörperung und den Widerschein der Tugend, die wir an uns nur billigen, aber an andern erst lieben.

Ach können denn höhere Wesen die Schwächen von Schatten Gruppen strenge berechnen, die einander festzuhalten suchen, von Nordwinden auseinander gedrängt – die voneinander die edle unsichtbare Gestalt an sich drücken wollen, worüber dick und plump die Erdenlarve hängt – und die einander in Gräber nachfallen, worein die Beweinten ihre Weinenden ziehen?

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 524-535.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon