Erster Schalttag

[611] Müssen Traktaten gehalten werden, oder ist es genug, daß man sie macht? –


Das letzte. – Heute übt der Berghauptmann zum erstenmal auf des Lesers Grund und Boden das Recht (Servitus oneris ferendi, oder auch Servitus projiciendi) aus, das er nach dem Vertrag vom 4ten Mai wirklich besitzt. Die Hauptfrage ist jetzt, ob ein Hund-Vertrag zwischen zwei so großen Mächten – indem der Leser alle Weltteile hat, und ich wieder den Leser – nach dem Schließen noch zu halten ist.

Friedrich, der Antimachiavellist, antwortet uns und stützt sich auf den Machiavell: allerdings muß jeder von uns sein Wort so lange halten, als er – Nutzen davon hat. Dieses ist so wahr, daß solche Traktaten sogar nicht gebrochen würden, wenn sie nicht[611] einmal – geschlossen wären; und die Schweizer, die noch 1715 einen mit Frankreich beschworen, hätten ebensogut in allen Kantons die Finger aufheben und beeidigen können, daß sie alle Tage ordentlich – ihr Wasser lassen wollten.

Sobald aber der Nutzen von Verträgen aufhört, so ist ein Regent befugt, deren zweierlei zu brechen – die mit andern Regenten, die mit seinen eignen Landes- Stiefkindern.

Als ich noch im Kabinett arbeitete (schon um 6 Uhr mit dem Flederwisch, die Sessiontische abzustäuben, nicht mit der Feder), hatt' ich ein gescheites fliegendes Blatt unter der letzten, worin ich die Traktaten-Ouvertüre: au nom de la Sainte Trinité, oder in nomine sanctissimae et individuae Trinitatis, für die Chiffre ausgeben wollte, welche die Gesandten zuweilen über ihre Berichte zum Zeichen setzen, daß man das Gegenteil zu verstehen habe – es wurd' aber nichts aus dem fliegenden Blatt als ein Manuskript. In diesem war ich einfältig genug und wollte den Fürsten erst raten, von Not-Lügen und Not-Wahrheiten der Traktaten müßten sie in jeder Breite und Stunde deklinieren und inklinieren; ich wollte die Staatskanzleien in einen Winkel zu mir heranpfeifen und ihnen in die Ohren sagen: ich würd' es, und hätt' ich nur neun Regimenter in Sold und Hunger, nie leiden, daß man mir mit dem Wachs und Siegellack der Verträge Hände und Füße zusammenpichte und mit der Dinte die Flügel verklebte; das wollt' ich in die Staatspraxis erst einführen – aber die Staatskanzleien lachten mich von weitem in meinem närrischen Winkel aus und sagten: der Pfeifer muß glauben, wir machens anders.

In den Werken des Herrn Herkommen – des besten deutschen Publizisten, der aber keine acta sanctorum schreibt – wird es erwiesen, daß ein Landesfürst die Verträge, Privilegien und Bewilligungen zwischen seinem Vorfahrer und den Untertanen gar nicht so zu beachten brauche; – daraus folgt, daß er noch weit weniger seine eignen Verträge mit ihnen zu halten vonnöten habe, da ihm die Nutznießung dieser Verträge, die in nichts als im Halten oder Brechen besteht, offenklar als Eigentümer gebührt. Herr Herkommen sagt das nämliche auf allen Blättern und schwört gar dazu. – Ja kann es einen Dekan oder Rektor Magnifikus geben,[612] der so wenig Vernunft annimmt, daß ihm – da doch nach einer allgemeinen Annahme ein König nicht stirbt und mithin Vor- und Nachfahrer zu einem Mann ineinanderverwachsen – nicht der Schluß daraus beizubringen ist, daß der Nachfahrer seine eigne Verträge für die seines Vorfahrers halten und mithin, da beide nur ein Mann sind, ebensogut wie geerbte brechen könne?

Wer philosophisch darüber reden wollte, der könnte dartun, daß überhaupt gar kein Mensch sein Wort zu halten brauche, nicht bloß kein Fürst. Nach der Physiologie rückt der alte Körper eines Königs (eines Lesers, eines Berghauptmanns) in drei Jahren einem neuen zu; – Hume treibts mit der Seele noch weiter, weil er sie für einen dahinrinnenden (nicht gefrornen) Fluß von Erscheinungen hält. So sehr also der König (Leser, Autor) im Augenblick des Versprechens an dessen Haltung gefesselt ist: so unmöglich kann er noch daran gebunden sein im nächsten Augenblick darauf, wo er schon sein eigner Nachfahrer und Erbe geworden, so daß in der Tat von uns beiden am 4ten Mai hier kontrahierenden Wesen am heutigen Mai nichts mehr da ist als unsre bloßen Posthumi und Nachfahrer, nämlich wir. Da nun glücklicherweise niemals in einen und denselben Augenblick zugleich Versprechen und Halten hineingehen: so kann die angenehme Folge für uns alle daraus fließen, daß überhaupt gar keiner sein Wort zu halten verbunden sei, er mag Kuppel oder Sägespan eines Thrones sein. Auch die Hofleute (die Thron-Eckenbeschläge) setzen sich diesem Satze nicht darwider.

Das Publikum wird gebeten, die Vorrede für den zweiten Schalttag zu halten, damit schönes Ebenmaß da ist.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 611-613.
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