8. Hundposttag

[584] Gewissens-Examinatorium und Dehortatorium – die Studier-Flitterwochen eines Gelehrten – das Naturalienkabinett – eingepacktes Kinn – Antwort von Emanuel – Ankunft des Fürsten


Ich wollte, die Historie wäre aus, damit ich sie könnte drucken lassen; denn ich habe schon zu viele Pränumeranten darauf unter dem gemeinen Volk. Ein Schriftsteller nimmt in unsern Tagen Vorausbezahlung auf sein Buch vom schlechtesten Kerl an – der Schneider tut seinen Vorschuß in Kleidern, der Friseur in Puder, der Hauswirt in Studierstuben. –

Jeden Morgen hunzte sich Viktor unter der Bettdecke aus wegen des Abends; das Bette ist ein guter Beichtstuhl und die Audienza des Gewissens. Er wünschte, der gestrige Garten-Verein hielte ihn für einen wahren Narren anstatt für einen – Liebhaber. »Ach wenn gar Flamin selber sich mit Mißtrauen kränkte, und wenn unsre Herzen, die so lange geschieden waren, schon jetzo wieder es würden!« Hier wurde die Bettlade aus einem Beichtstuhl ein feuriger Ofen. Aber ein Engel legte sich zu ihm hinein und blies die Lohe weg: »Was hab' ich denn aber getan? Hab' ich nicht für ihn mit tausend Freuden gesprochen, gehandelt, geschwiegen? Kein Blick, kein Wort ist mir vorzuwerfen – was denn noch sonst?«

Der Engel des Lichts oder Feuers mußte jetzt entsetzlich gegen die vorwedelnde Flamme blasen.

»Sonst noch? Gedanken vielleicht, die aber, wie Feldmäuse, der Seele unter die Füße springen und sich wie Ottern anlegen. – Aber dürfen mir denn die Kantianer ansinnen, daß ich das kleine Bild der schönsten und besten Gestalt, die ich in dreier Herren Landen bisher vergeblich zitierte, einen solchen Raffaels-Kopf, eine solche Paradieses-Antike zum Fenster hinauswerfe aus der Villa meines Kopfes wie Äpfelschalen und Pflaumenkerne? Mich würd' es von den Kantianern wundern. – Und wenns drinnen stehen bleiben soll, soll ich denn ein Vieh sein, ihr Katecheten, und es kalt anglotzen? – Ich mag nicht! Ja ich will mir selber trauen und von dem schönsten Herzen sogar die Freundschaft fodern und ihm doch die Liebe lassen.« – Lieber Leser, unter diesem[584] ganzen summarischen Prozeß vor der Gesetzkommission des Gewissens hab' ich über dreißigmal zu mir gesagt: »Ihr beide, du und der Leser, seid um kein Haar ehrlicher gegen das Gewissen!«

Er zog sich langsam am Bettzopf aus dem Bette, das er sonst mit einem Sprunge verließ: es stockte ein Ideenrad in ihm. Er las seinen gestrigen Brief und fand ihn zu stürmisch: »Das ist eben«, sagte er, »unsre Nichtigkeit, daß alles, was der Mensch für ewig hält, in einer Nacht erfriert; über unser Gesicht laufen die heftigsten Züge nicht schneller und spurloser als über unser Herz – Warum bin ich denn heute nicht, was ich gestern war und vielleicht morgen sein werde? – Was gewinnt der Mensch durch dieses Auf- und Unterkochen? Und auf was kann er in sich denn bauen?«

Unterdessen hatte sich das Feuerrad der Erdenzeit, die Sonne, gießend heraufgedreht und brannte am Ufer der Erde. – Er riß das Fenster auf und wollte die unbedeckte Brust im frischen Morgenwinde baden, und das heiße Auge im roten Meer Aurorens; aber etwas in ihm drängte sich wie ein Nachgeschmack zwischen den Genuß des Morgenlandes. Ein guter Mensch ist unter den Gewissensbissen künftiger Handlungen durchaus zum Genusse verdorben.

Es stieg in ihm eine übermannende Rührung langsam auf – die gestrige Nacht trug wieder ihren leuchtenden Regen, sein brausendes Herz und Emanuels Schatten vorüber – er lief immer stärker und zwar in die Quere durchs Zimmer – strickte den Schlafrock knapper an – schüttelte etwas aus dem Auge – tat einen steilrechten Sprung – schnellte ein »Nein!« hervor und sagte mit einem unaussprechlich-heitern Lächeln: »Nein! ich will meinen Flamin nicht betrügen! Ich will sie weder suchen noch meiden und ihre Freundschaft nicht eher begehren als zur Zeit seines höchsten Glücks. Wie dich da15, so will ich die himmlische Glanzbüste anschauen, und nicht begehren, daß sie Wärme annehme und das kalte Gipsauge auf mich wende. Aber du, mein Freund,[585] sei glücklich und ganz selig und merke nicht einmal meinen Kampf!«

Jetzt erst erheiterte ihn der Kirchenschmuck des Morgens, und die Morgenluft floß wie ein kühles Halsgehenk auf seinem heißen Busen umher und legte spielend Haar und Busenstreif zurück. Er fühlte, nun sei er wert, an Emanuel geschrieben und an den Himmel geschauet zu haben...

Flamin trat ein mit einiger Kälte, die vom erblickten Brief noch etwas stieg. Viktor war nicht kalt zu machen; bloß als man unten ihn mit keinem Wort an seine gestrigen Dithyramben erinnerte: tat er aus Besorgnis, erraten zu sein, einen zornigen versteckten Schwur, wenn sie käme, nicht zu kommen – welches auch zu machen war, denn sie kam nicht. Sie hatte in Maienthal noch Gepäck abzuholen, Freundschaften zu begießen und noch einmal in den Zauberkreis ihres geliebten Lehrers zu treten; und war also dahin abgegangen.

Die nächsten Wochen tanzten jetzt wie ebenso viele Horen in Anglaisen und Kotillons vor Sebastian vorbei. Seine Vormittage hingen voll Früchte, seine Nachmittage voll Blumen; denn am Morgen wohnte seine Seele mit ihren Anstrengungen in seinem Kopfe, gegen Abend in seinem Herzen. Abends liebt man Karten-Gedichte – Aufrichtigkeit – Weiber – Musik recht sehr, morgens recht wenig; in der Geisterstunde ist jene Liebe am allerstärksten.

Zwei Sorgen ausgenommen – die erste war, ob sein Emanuel ihm bald genug schreiben würde, damit er ihn vielleicht noch besuchen könnte, eh' er an die Deichsel des Hof- und Staatswagens geschirrt wäre; die zweite war: letztes zu bald zu werden – hatt' er jetzt fast nichts zu tun, als glücklich zu sein oder glücklich zu machen; denn in diese Wochen fielen gerade seine stillen oder Sabbatwochen ein...

Ich weiß nicht, ob sie der Leser schon kennt: sie stehen nicht im verbesserten Kalender; aber sie fallen regelmäßig (bei einigen Menschen) entweder gleich nach der Frühling-Tag- und Nachtgleiche oder in den Nachsommer.

Bei Viktor war das erste, gerade mitten im Frühling. Ich brauch' es nicht auszumitteln, ob der Körper, das Wetter, oder[586] wer diesen Gottesfrieden in unserer Brust ein läute: sondern schreiben soll ichs, wie sie aussehen, die Sabbatwochen. Ihre Gestalt ist genau diese: in einer stillen oder Sabbatwoche (manche, z.B. ich, werden gar nur mit Sabbattagen oder – stunden abgefertigt) schlummert man erstlich leicht wie auf gewiegten Wolken-Man erwacht wie ein heiterer Tag – Man hatte sich abends vorher gewiß vorgenommen und es deswegen in Chiffern an die Türe geschrieben, sich zu bessern und das Jätemesser alle Tage wenigstens an ein Unkraut-Beet anzusetzen – Beim Erwachen will mans noch und setzet es wirklich durch – Die Galle, dieser auf brausende Spiritus, der sonst, wenn er, statt in den Zwölffingerdarm, in das Herz oder Herzblut gegossen wird, mit Wolken aufsiedet und zischt, wird in wenigen Sekunden eingesogen oder niedergeschlagen, und der erhöhte Geist fühlt ruhig das körperliche Aufwallen ohne seines – In dieser Windstille unserer Lungenflügel spricht man nur sanfte, leise Worte, man fasset liebend die Hand eines jeden, mit dem man spricht, und man denkt mit zerfließendem Herzen: ach ich gönnte euchs allen wohl, wenn ihr noch glücklicher wäret als ich – Am reinen gesunden stillen Herzen schließen sich, wie an den homerischen Göttern, leichte Wunden sogleich zu – »Nein!« (sagst du immerfort in der Sabbatwoche) »ich muß mich noch einige Tage so ruhig erhalten.« – Du verlangst zum Stoff der Freude fast nichts als Dasein, ja der Sonnenstich einer Entzückung würde diesen kühlen magischen durchsichtigen Morgen-Nebel in ein Gewitter verdichten – Du siehst immerfort hinauf ins Blaue, als möchtest du danken und weinen, und umher auf der Erde, als wolltest du sagen: »Wo ich auch heute wäre, da wäre ich glücklich!« und das Herz voll schlafender Stürme trägst du, wie die Mutter das entschlummerte Kind, scheu und behutsam über die weichen Blumen der Freude. – – – Aber die Stürme fahren doch auf und greifen nach dem Herzen! ...

Ach was müssen wir nicht alle schon verloren haben, wenn uns die Gemälde seliger Tage nichts abgewinnen als Seufzer! O Ruhe, Ruhe, du Abend der Seele, du stiller Hesperus des müden Herzens, der allezeit neben der Sonne der Tugend bleibt – wenn unser Inneres schon vor deinem sanften Namen in Tränen zerrinnt:[587] ach ist das nicht ein Zeichen, daß wir dich suchen, aber nicht haben? –

Viktor verdankte die Sieste seines Herzens den – Wissenschaften, besonders der Dichtkunst und der Philosophie, die beide sich wie Kometen und Planeten um dieselbe Sonne (der Wahrheit) bewegen und sich nur in der Figur ihres Umlaufs unterscheiden, da Kometen und Dichter bloß die größere Ellipse haben. Seine Erziehung und Anlage hatte ihn an die Lebens- und Feuerluft der Studierstube gewöhnt, die noch die einzige Schlafkammer (Dormitorium) unserer Leidenschaften und das einzige Profeß-Haus und der Glückhafen der Menschen ist, die dem breiten Strudel der Sinne und Sitten entgehen wollen. Die Wissenschaften sind mehr als die Tugend ihr eigner Lohn, und jene machen der Glückseligkeit teilhaftig, diese nur würdig; und die Preismedaillen, Pensionen und positiven Belohnungen und der Inventiondank, die viele Gelehrte für ihr Studieren haben wollen, gehören höchstens den literarischen dienenden Brüdern, die sich dabei abmartern, aber nicht den Meistern vom Stuhle, die sich dabei entzücken. Ein Gelehrter hat keine lange Weile; nur ein Thron-Insaß lässet sich gegen diese Nervenschwindsucht hundert Hof-Feste verschreiben, Gesellschaftkavaliere, ganze Länder und Menschenblut.

Du lieber Himmel! ein Leser, der in Viktors Sabbatwochen eine Leiter genommen hätte und an sein Fenster gestiegen wäre: hätte der etwas anders darin erblickt als ein jubelndes Ding, das auf den wissenschaftlichen Feldern wie unter seligen Inseln umherglitt? – Ein Ding, das entzückt nicht wußte, sollt' es denken oder dichten oder lesen, besonders was? oder wen? aus dem ganzen vor ihm stehenden hohen Adel der Bücher. – In dieser Brautkammer des Geistes (das sind unsere Studierstuben), in diesem Konzertsaal der schönsten aus allen Zeiten und Plätzen versammelten Stimmen hinderten ihn die ästhetischen und philosophischen Lustbarkeiten fast an ihrer Wahl; das Lesen riß ihn ins Schreiben, das Schreiben ins Lesen, das Nachdenken in die Empfindung, diese in jenes –

Ich könnte in dieser Schilderung vergnügter fort fahren, wenn[588] ichs vorher hätte geschrieben gehabt, wie er studierte: daß er nämlich nie schrieb, ohne sich über dieselbe Sache voll gelesen zu haben, und umgekehrt, daß er nie las, ohne sich vorher darüber hungrig gedacht zu haben. Man sollte, sagte er, ohne einen heftigen äußern, d.h. innern Anlaß und Drang nicht bloß keine Verse machen, sondern auch keine philosophischen Paragraphen, und keiner sollte sich hinsetzen und sagen. »Jetzt um drei Uhr am Bartholomäustag will ich doch drüber her sein und folgenden Satz geschickt prüfen.« – Ich kann jetzo fortfahren.

Wenn er nun in diesem geistigen Laboratorium, das weniger der Scheidekunst als der Vereinkunst diente, vom Turmalin an, der Aschestäubchen zieht, bis zur Sonne, die Erden zieht, und bis zur unbekannten Sonne, an welche Sonnensysteme anfliegen, aufstieg – oder wenn ihm die anatomischen Tabellen der perspektivische Aufriß einer göttlichen Bauart waren, und das anatomische Messer zum Sonnenweiser seiner Lieblingwahrheit wurde: daß es, um einen Gott zu glauben, nicht mehr bedürfe als zweier Menschen, wovon noch dazu einer tot sein könnte, damit ihn der lebende studiere und durchblättere16 – oder wenn ihn die Dichtkunst als eine zweite Natur, als eine zweite Musik sanft emporwehte auf ihrem unsichtbaren Äther, und er unentschlossen wählte zwischen der Feder und der Taste, sobald er in der Höhe reden wollte – – kurz, wenn in seiner Himmelkugel, die auf einem Menschen-Halswirbel steht, der Ideen-Nebel allmählich zu hellen und dunkeln Partien zerfiel und sich unter einer ungesehenen Sonne immer mehr mit Äther füllte, wenn eine Wolke der Funkenzieher der andern wurde, wenn endlich das leuchtende Gewölk zusammenrückte: dann wurde vormittags um 11 Uhr der innere Himmel (wie oft draußen der äußere) aus allen Blitzen eine Sonne, aus allen Tropfen wurde ein Guß, und der ganze Himmel der[589] obern Kräfte kam zur Erde der untern nieder, und... einige blaue Stellen der zweiten Welt waren flüchtig offen.

– Unsere innern Zustände können wir nicht philosophischer und klarer nachzeichnen als durch Metaphern, d.h. durch die Farben verwandter Zustände. Die engen Injurianten der Metaphern, die uns statt des Pinsels lieber die Reißkohle gäben, schreiben der Farbengebung die Unkenntlichkeit der Zeichnung zu; sie solltens aber bloß ihrer Unbekanntschaft mit dem Urbilde schuldgeben. Wahrlich der Unsinn spielt Versteckens leichter in den geräumigen abgezogen Kunstwörtern der Philosophen – da die Worte, wie die sinesischen Schatten, mit ihrem Umfange zugleich die Unsichtbarkeit und die Leerheit ihres Inhalts vermehren – als in den engen grünen Hülsen der Dichter. Von der Stoa und dem Portikus des Denkens muß man eine Aussicht haben in die epikurischen Gärten des Dichtens.

– In drei Minuten bin ich wieder bei der Geschichte. – Er müßte, sagte Viktor, Berg-, Garten- und Sumpfwiesen haben, weil er drei verschiedne närrische Seelen besäße, die er auf verschiedene Ländereien zur Weide treiben müßte. Er meinte damit nicht, wie die Scholastiker, die vegetative, sensitive und intellektuelle Seele – noch, wie die Fanatiker, die drei Teile des Menschen: sondern etwas recht Ähnliches, seine humoristische, empfindsame und philosophische Seele. Wer ihm eine davon wegnähme, sagt' er, der möchte ihm immer auch die restierenden gar ausziehen. Ja zuweilen, wenn gerade die humoristische auf der umwechselnden Querbank obenan saß, trieb er den Leichtsinn so weit, daß er den Wunsch äußerte, in Abrahä Schoß würde Spaß gemacht, und er könnte sich auf die zwölf Stühle mit seinen drei Seelen zugleich niederlassen. – –

Seine Nachmittage übergab er bald einer strömenden Laune, die ihre rechten Zuhörer nicht einmal fand – bald den Pfarrleuten bald der ganzen St. Lüner Schuljugend, deren Magen er (zur Ärgernis eines jeden guten Schulmeisters) mehr als ihre Köpfe verproviantierte, weil er glaubte, in den kurzen Jahren, wo das Geiferfleckchen sich ausbreitet bis zu einem Tellertuche, nehme das Vergnügen seinen Weg über die Kinderserviette und habe[590] keinen andern Eingang als den Mund. Er ging nie ohne eine ganze Operationkasse voll kleines Geld in der Weste aus: »Ich verteil' es ohne allen Verstand,« sagt' er; »aber wenn aus diesem herumgesäeten metallischen Samen ganze Freudenabende für arme Teufel aufgehen; und wenn sie gerade die Unschuldigen so selten haben: warum will man nicht für die geschonte Tugend und für die Freude zugleich etwas tun?«

Er sagte, er habe Moral gehört und verlange für seine außergerichtlichen Schenkungen und milden Stiftungen nichts als – Verzeihung. Sein Flamin, der ihn für eine sorglose Säemaschine auf Felsen erklärte, verbrachte seine kleinen Ferien bis zu dem Sessiontisch in glühenden Hoffnungen, an diesem Tische zu nützen, und in Vorbereitungen, um es zu können; oft wenn der höhere Patriotismus mit Heiligenschein und Mosis-Glanz aus dem Angesicht des geliebten Flamins hervorbrach, so standen Tränen der freudigen Freundschaft in Viktors Augen, und im Augenblick einer lyrischen Menschenliebe schworen sich beide an ihren Herzen für die Zukunft gegenseitige Unterstützung im Gutestun und gemeinschaftliche Aufopferungen für die Menschen zu. – Ihr Unterschied war bloß wechselseitige Übertreibung – Flamin war gegen Laster zu intolerant, Viktor zu tolerant – jener verwarf als Regierungrat wie Anabaptisten alle Feste und wie die ersten Christen alle Blumen (in jedem Sinn) – dieser liebte gleich den Griechen beides zu sehr – jener hätte der Ehre Menschenopfer gebracht – dieser kannte keinen Ehrenräuber als das eigne Herz, er sprang über den papiernen Halb-Adel unserer jämmerlichen Ehrenpunkte am Teetisch hinweg und war, spottend über den Spott, nur dem hoben Adel der Tugend untertan. – –

Viktor sog sich mit Laubfroschfüßen an jedes Blumenblatt der Freude an, an Kinder, an Tiere, an Dorf-Luperkalien, an Stunden; – am liebsten aber hatt' er den Sonnabend. Hier tat er Streifzüge durch die freudige Unruhe des Dorfes, vor Knechten vorbei, die ihre Sensen nicht magnetisch, sondern schärfer hämmerten, und vor der Ladentüre des Schulmeisters, an der sein Auge als Schweizer oft eine halbe Stunde stand. Denn er konnte den St. Lünischen Handelflor recht gut im kleinen Großavanturhandel[591] des Schulmeisters bemerken, der keine geringere Börse der Kaufleute kannte als die in seiner Hosentasche. Aus diesem ostindischen Hause sah er spät die wohlfeilen Freuden des Sonntags holen – der Grossierer (der Schulmeister wird gemeint) machte, von den Negersklaven unterstützt, den Sonntagmorgen von St. Lüne mit seinem Sirup süß und mit seinem Kaffee heiß; und sowohl durch den Tabakbau in Deutschland wurde dieser Handelsherr instand gesetzt, mit Spiralwürsten von Lausewenzel die Köpfe der Pfeifen, als durch den Seidenbau, der Töchter ihre mit Sabbat-Wimpeln zu versorgen aus seinem Auerbachischen Hofe. – Unsern Helden kannte alles. Aus jeder Hundhütte wedelte ihm ein Hund entgegen, dem er Brot hineingeworfen; aus jedem Fenster schrien ihm Kinder nach, die er geneckt hatte; und viele Buben, vor denen er vorüberlief, hielten sich für glücklich, wenn sie eine Mütze aufhatten – sie konnten sie vor dem Herrn abnehmen. Denn sein erstes Treiben in St. Lüne war die Geschichte von St. Lüne, die aus den mündlichen Konduitenlisten der historischen Personen selber und aus der Reichspostreiterin, aus der Pfarrerin, geschöpft werden mußte. Letzte hielt als Plutarchin allemal zwei Charaktere wie Tücher zusammen; und ihr Mann las ihm nach bestem Wissen und Gewissen über die Kirchen- und Reformationgeschichte seines Beichtsprengels. Viktor legte sich auf diese mikrokosmische Weltgeschichte aus zwei Absichten: erstlich, um sie – welches Brotstudenten auch bei der größern vorhaben – rein wieder zu vergessen; zweitens, um im Dorfe so zu Hause zu sein wie der Bettelvogt oder die Hebamme, woraus er den Vorteil zu ziehen hoffte, daß er betrübt wurde, wenn ein St. Lüner verstarb, und fröhlich, wenn er vorher heiratete.

– Jetzo schreitet die Geschichte wieder von einem Tage auf den andern fort, gleichsam auf den Steinchen im Strome der Zeit.

So schön war also der Frühling vor ihm vorübergegangen mit Sabbatwochen, mit den Pfingsttagen, mit weißen Blüten, die dem Lenze allmählich wie Schmetterlingflügel ausfielen; – Viktor hatte den Besuch Le Bauts verschoben, weil er dachte: »Ich muß ohnhin bald genug vom weichen Schoße der Natur herunter und auf das Hof-Drahtgestell hinauf und auf den Objektenträger[592] (Thron) des Hof-Mikroskops«; – er hatte sich zwar täglich zugeredet, bald, noch vor Klotildens Ankunft, hinzugehen, um auf seine Absichten keinen Verdacht zu laden, aber immer vergeblich – – als plötzlich (denn tags vorher war der 13te Jun.) der 14te erschien und mit ihm Klotildens Gepäck ohne sie. Nun passierte er (wie die offiziellen Hundberichte enthalten) wirklich am 15ten den Bach von St. Lüne und ging über die Alpen der kammerherrlichen Treppen und schlug auf Le Bauts Kanapee sein Cäsars-Lager auf. Er wußte, daß heute niemand da war, nicht einmal Matz.

»Der Himmel erhalt' uns« (sagt' er) »die Höflichkeit gesund; es wäre ohne sie nicht nur unter keinen Spitzbuben auszuhalten, sondern sie gibt auch Minutensteuer von Freuden, indes die Wohltätigkeit nur Quartalsteuer und Kammerzieler und Karitativsubsidien zahlt.« Herr und Frau Le Baut waren so höflich als nie (ich schwöre darauf, sie hatten etwas von Viktors Hof-Doktorhut und Doktorkrone ausgewittert); nur wußten sie nicht, was für ein Mundstück auf ein so närrisch gewundnes Instrument, wie Viktor war, aufzuschrauben sei. Wie alle Studierstuben-Schaltiere sprach er lieber von Sachen als Personen; Flamin aber umgekehrt. Für das Ehepaar gabs in keiner Messiade etwas Erhabeners, als daß jetzt am Johannistage die italienische Prinzessin kommen würde; davon konnte kein Sterblicher genug reden, zumal auf dem Dorfe. Ich weiß nicht, worin es Viktor versah, daß er die meisten Weiber auf die Meinung brachte, er liebe sie. Genug, die Kammerherrin, die in ihren Jahren nicht mehr Liebe, sondern den Schein der Liebe foderte, dachte: »Vielleicht!« Man verkenne sie nicht: sie brachte zwar allemal die erste Stunde mit einem Manne auf der Sternwarte der Beobachtung zu; aber die zweite nur dann im Jagdschirm, wenn die erste glücklich gewesen, und sie war kalt genug, um nicht mehr zu hoffen als zu sehen; sie verspottete sogar jeden, der bei ihr noch einer weiblichen Eitelkeit, Eroberungen zu leicht vorauszusetzen, anders schmeicheln wollte als öffentlich. Genug, sie beurteilte heute unsern Viktor zu günstig – in ihrem Sinn oder zu ungünstig – in unserem; wie überhaupt die bloßen Hofleute nur bloße Hofleute erraten. – Von Klotilde sprach man kein Wort, nicht einmal von der Zeit ihrer Zurückkehr.[593]

Überhaupt hatte die Le Baut einen ungeheuren Stolz in sich gegen ihre Stieftochter zu bestreiten, von dem mir mein Korrespondent hätte melden sollen, worauf er sich steifte, ob auf Verhältnisse oder auf Verdienste; denn beides war reichlich da, indem die Kammerherrin von des jetzigen Fürsten seligem Herrn Vater die H – gewesen. – Ich und ein gescheiter Mann habens hin und her überlegt, ob sie dem Cäsar in der Liebe oder im Ehrgeiz gleiche. Der gescheite Mann sagt. »In der Liebe«, weil eine Frau die Liebe nie vergesse, wenn ein Fürst ihr Lehrer darin gewesen. Des sel. Herrn Vaters Herz hatte besonders zwei Schönheiten an ihr angebetet, die vor Zeiten von den Schotten17 so gern gefressen wurden, nämlich den Busen und den Steiß. Die Großen haben ihre eignen grossièretés, die den Kleinen nicht träumen. Ich würd' es nicht drucken lassen, aber es war am ganzen Hofe bekannt, und also auch vielen meiner Leser. Da führte der Teufel die Zeit her, die ihre Sense hämmerte und alles wegmähte, was von beiden Reizen Überhang in ihr Gebiet gewesen. Nun hält bei Weibern an Höfen – es sei in einem Schulhof, Packhof oder Viehhof – die Eitelkeit, sobald der alte Saturn (d.h. die Zeit) diese mit seinem Sichelwagen und mit dem kleinen Geschütz aus seiner Sanduhr anfällt, einen der gescheitsten Rückzüge, die ich kenne – die Eitelkeit lässet sich aus einem Werke oder Gliede nach dem andern treiben – endlich aber wirft sie sich aus den weichen Teilen in die festen wie in feste Plätze, z.B. in Fingernägel, Stirne, Füße u.s.w., und da zieht sie der Henker selber nicht heraus. Die Kammerherrin mußte sich einen solchen festen Teil erst machen, nämlich eine gorge de Paris und einen cul de Paris: diese vier Grenzhügel ihres Reichs mußten täglich gegen die Grenzverrückung der Jahre aus Achtung für das Eigentum hergestellt und erhöhet werden. Daraus schließet nun der gescheite Mann, daß ihre Seele ihrem Körper immer Kaperbriefe schreibe.

Ich bin gerade der Gegenfüßler vom gescheiten Mann und verfechte, daß der Amor nur ihr frère servant, nicht ihr Logenmeister – ihr Adjutant, nicht ihr Generalissimus ist; – und dies darum, weil sie noch immer an der Wiederherstellung ihres ersten[594] salomonischen Tempels, wo sie sonst am Hofe als Göttin neben dem Gott angebetet wurde, ihre eigne oder Le Bauts Hand anlegt – weil sie in diesem nichts heiratete als den Kammerherrnschlüssel und seine Assembleen und seine Hoffnungen des künftigen Einflusses – weil sie an Klotilden nicht das Gesicht, sondern das Gehirn aufeindet – weil ihre Liebe jetzt ohne Eifersucht ist. Nämlich sie stand mit dem Evangelisten Matthieu in einem gewissen Liebeverständnis, das sich (nach unserm bürgerlichen Gefühl) vom Hasse in nichts unterscheidet als in der – Dauer. Liebe-Persiflagen waren ihre Lieberklärungen – ihre Blicke waren Epigramme – seine Schäferstunden salzte er mit komischen Erzählungen von seinen Schäferstunden an andern Orten – und zur Zeit, wo ein heiliger Mann seinen Psalm abzubeten pflegt18, waren beide ironisch. Eine solche erotische Verbindung ist nichts als die Unterabteilung irgendeiner politischen... Aber zurück zur Geschichte!

Der Kammerherr wollte seinem Gaste jetzt etwas zeigen, was einen Doktor und Gelehrten mehr interessierte. Zu dem Zimmer, worin das Etwas war, kam man durch der Kammerherrin und durch Klotildens Zimmer. Da man in jener ihrem einen Rasttag hielt: so standen Viktors Augen träumend auf Klotildens Silhouette fest, die Matthieu neulich aus dem Nichts geschnitten, und die die Kammerherrin hier aus Schmeichelei gegen den Schattenreißer unter Glas aufgehangen hatte. Sonderbarer-, d.h. zufälligerweise zersprang jetzo das Glas über dem schönen Angesicht, und Viktor und der Vater fuhren zusammen. Denn letzter war wie die meisten Großen aus Mangel an Zeit abergläubig und ungläubig zugleich; und bekanntlich hält der Aberglaube das Zerspringen eines Porträtglases für einen Vorboten des Todes des Urbildes. Der Vater warf sich ängstlich die Erlaubnis vor, die er Klotilden gegeben, so lange in Maienthal zu bleiben, da sie doch da ihre Gesundheit in unnützen jugendlichen Schwärmereien verderbe. Er meinte ihre Trauer um ihre begrabene Giulia; denn sie war (erzählte er) bloß vor Schmerz über diese, ohne alles Gepäck, am ersten Mai hieher geeilet; und sogar die Kleider der geliebten Freundin hatte sie heute mit unter den ihrigen geschickt. Er brach[595] heiter ab; denn Matthieu kam, der Bruder dieser Giulia, der sich nur zeigen und beurlauben wollte, weil er, wie mehre von der Stief-Brüdergemeine des Hofs, der Prinzessin entgegenreisete.

Viktor wurde stiller und trüber; seine Brust quoll ihm auf einmal voll unsichtbarer Tränen, deren Quelle er an seinem Herzen nicht finden konnte. Und als man noch dazu durch Klotildens stilles leeres Zimmer ging, wo Ordnung und Einfachheit an die schöne Seele der Besitzerin zu stark erinnerten: so fiel sein plötzliches gerührtes Verstummen auch andern auf. Er riß die Augen eiligst weg von einigen Blumenzeichnungen ihrer Hand, von ihrem weißen Schreibzeug und von der schönen Landschaft der Öltapete und trat hastig auf das zu, was Le Baut aufsperrte – es war kein edles Herz, was dieser mit seinem obwohl wie eine Kanone gebohrten Kammerherrnschlüssel sperren konnte (die Titularkammerherren in Wien heften nur einen hermetisch-versiegelten an), sondern sein Cabinet d'histoire naturelle öffnete er. Das Kabinett hatte rare Exemplare und einige Curiosa – einen Blasenstein eines Kindes, 2/17 Zoll lang und 2/17 Zoll breit, oder umgekehrt – die verhärtete Hohlader eines alten Ministers – ein Paar amerikanische Federhosen – erträgliche Fungiten und bessere strombi (z.B. eine unechte Wendeltreppe) – das Modell eines Hebammenstuhls und einer Säemaschine – graue Marmorarten aus Hof im Voigtland – und ein versteinertes Vogelnest – Doubletten gar nicht gerechnet – – inzwischen zieh' ich und der Leser diesem toten Gerümpel darin den Affen vor, der lebte und der das Kabinett allein zierte und – besaß. Camper sollte von diesem lebendigen Exemplar den Kammerherrnkopf wegschneiden und solches sezieren, um nur zu sehen, wie nahe der Affe an den Menschen grenze.

Ein Großer hat allemal irgendeinen wissenschaftlichen Zweig, nach dem er nichts fragt, und auf den er sich also vorzüglich legt. Für Le Bauts wissen-hungrige Seele wars gleich viel, ob sie in ein Siegel- oder in ein Gemmen- oder ein Pistolenkabinett eingestellet wurde. Wär' ich ein Großer: so würd' ich mit dem größten Eifer Knöpfe – oder Entbindungen – oder Bücher – oder Nürnberger Ware – oder Kriege – oder recht gute Anstalten machen, bloß[596] aus verdammter langer – Weile, dieser Essigmutter aller Laster und Tugenden, die unter Hermelinen und Ordensternen hervorgucken. Nichts ist ein größerer Beweis der allgemein wachsenden Verfeinerung als die allgemein wachsende Langeweile – Sogar die Damen machen sich hundertmal aus bloßer platter Langerweile Kurzweile; und der gescheiteste Mensch sagt seine meisten Dummheiten und der beste seine meisten Verleumdungen bloß einem Zirkel, der ihn hinlänglich zu langweilen weiß.

Der Hofjunker war der Musterschreiber des Kabinetts, um vielleicht herumzugehen. Viktor tat ihm unrecht durch die medizinische Vermutung, er affektiere einen gewissen schwankenden weichen Gang vornehmer Debauchés; denn er hatt' ihn wirklich, und das darum, weil er aus ganz andern als Viktors schönen Gründen ungern – saß. Aber weiter! Wenn nicht die Kammerherrin den Vorhang vor Viktors Seele auseinanderschlagen und darin die Gesinnungen gegen sich und Klotilde durch den Schrecken, den ich erzählen will, erforschen wollte; wenns also das nicht war: so kann es nichts als ein sehr böser Geist gewesen sein, der dieser Kammerherrin die Hand führte zu einer Silberstufe. Hinter der Stufe lag eine vielleicht von abgebröckeltem Arsenik verreckte Maus. Eine Leserin, die in ähnlichen Gefahren als Dulderin litt, stellet sichs vor, wie der Kammerherrin war, als sie mit dem Harten etwas Weiches umgriff und hervorbrachte und dann ersah, was es war. Eine wahre Ohnmacht war unvermeidlich. Ich gesteh' es, ich würde selber ihre Ohnmacht bloß für eine verstellte halten, wäre der Anlaß geringer und z.B. der Angriff nicht auf ihre Sinne, sondern nur auf ihre Ehre gewesen; aber etwas anderes ist eine Maus. – Überhaupt mußte sie vor so boshaften Zuschauern, wie ihr Mann und ihr Cicisbeo ist, diesen fünften Akts-Mord längst von ihrem Theater wie vom gallischen verbannt haben; ja ich glaube, sie hätte sich vor einem siegenden Feind ihrer Tugend durch nichts (eine wahre Ohnmacht ausgenommen) so lächerlich machen können als durch eine scheinbare. Der Schrecken über den postiche-Tod beraubte den Evangelisten des Gebrauchs seiner Vernunft und ließ ihm nur den Gebrauch seiner Bosheit und seiner Hände, mit denen er sogleich das Blendwerk und Sparrwerk[597] ihres Busens, kurz die ganze optische Brust zerriß, um der wahren, in deren Brette er einen Stein hatte, nämlich ihr Herz, Luft genug zu machen. Aber Viktor drängte ihn weg und spritzte sie, mit zärterer Achtung für ihre Reize und für ihr Leben, durch wenige Eistropfen wieder empor. Gleichwohl vergab sie dem Junker alles, was sie erriet, und dankte dem Hofmedikus für alles, worin sie irrte...

– – Lasset mich einen Augenblick wegsehen von diesem Haß-Gespinste und die schönere Welt um mich mit Erquickung anschauen auf meiner Insel, wo kein Feind ist – und das plätschernde Spiel der Fische und Kinder am Ufer- und die spielende Mutter, die ihnen Blumen und hütende Blicke zuwirft – und die großen Ahornbäume, die sanft mit tausend Blättern und Mücken flüsternd dem unter den Wellen gaukelnden Baumschlag entgegenschwanken – und wie die warme Erde und der warme Himmel in schlafender Liebe aneinander ruhen und ein Jahrhundert ums andre gebären...

Viktor ging, bange vor dem Ende seiner ländlichen Tage, nach Haus. – Der Sonnabend (der 16te Junius) eilte sanft vorüber und schüttelte ein ganzes Blumenhaupt von beflügelten Samen zu neuen Freudenblumen unter dem Eilen auseinander.

Die Sterne glitten leise über seine Nacht. Ein freundlicher blauer Sonntagmorgen legte sich schwebend über das geputzte Dörfchen und hielt den Atem an, damit er nicht einmal eine reife Lindenblüte oder Dotterblumen-Spreu ausriß. – Viktor konnte das Fortepianissimo aus dem Schlosse über das ausruhende Dorf herübertönen hören und mußte mit der Engbrüstigkeit des glücklichen Sehnens seufzen: »Ach wann muß ich aufhören, über diesem glänzenden stillen Meere, über diesem schönen Ankerplatz des Lebens aufzuschwimmen?« – – als das Schicksal antwortete: heute! Denn gerade heute, am Sonntage, kam aus der Residenzstadt Flachsenfingen ein leichter Narr (im Grunde zwei) in einer ebenso leichten Berline an und packte ein Briefchen vom Lord an ihn aus.

»Den 21sten Junius (Donnerstags) trifft die italienische Prinzessin in Kussewitz ein. Den Mittwoch reis' ich ab und präsentiere[598] dich in St. Lüne dem Fürsten, der mich bis dahin begleitet. Doch bitt' ich dich, am Sonnabend darauf dich in die Insel der Vereinigung19 zu begeben, weil ich das wenige, was ich dir in St. Lüne aus Mangel an Gelegenheit nicht sagen kann, auf die Insel verspare. Du wirst mich dort treffen. Der Überbringer dieses ist unser Herr Hofapotheker Zeusel, in dessen Hause du deine künftige Wohnung als Hofmedikus haben wirst. Lebe wohl!

H.«


»Zeusel?« (fragt der Leser und denkt nach) »ich kenne die Zeusel nicht!« – Und ich ebenso wenig; aber er sage mir, geht es nicht zu weit? Und ist es nicht wahre Plackerei, daß der Korrespondent dieses Werks durch alle Vorstellungen, die ich ihm durch den Hund tue, gleichwohl nicht dahin zu bringen ist, daß ers in dieser Historie nur so ordentlich einrichtete, wie es ja in jedem elenden Roman und sogar im – Zuchthaus ist, wo jeder neue Züchtling den alten gleich in der ersten Stunde seine sämtlichen Fata bis zu den Initialprügeln des Eintritts, von denen der Historiker eben kommt, schön vorerzählt? Beim Himmel! die Leute setzen und springen ja in mein Werk wie in eine Passagierstube hinein, und kein Teufel und kein Leser weiß, wer ihre Hund' und Katzen sind.

»Ich wollt' – «, sagte Viktor und machte sechs Dehnzeichen darauf als Apostrophen von ebenso vielen weggelassenen Flüchen. Denn er sollte jetzt aus der Idylle des Landlebens in die travestierte Äneis des Stadtlebens überziehen; und kein Steig ist doch elender gepflastert als der von der Studierstube in die Hof-Schmelzhütten und chambres ardentes, von der Ruhe zum Gewühl. Zudem hatt' ihm Emanuel noch nicht geschrieben. Klotilde, der Hesperus jener zwei schönen Abende, war gleich dem Hesperus am Himmel nicht zu sehen über St. Lüne. Wie gesagt, erbärmlich war ihm. Nun war noch dazu dieser Zeusel, sein künftiger Mietherr, der Hofapotheker, sozusagen ein Narr, ebenso leicht wie seine Berline oder wie der Hoffurier, mit dem er kam, aber 53 Jahre älter als der Wagen, nämlich 54 Jahr alt, und im ganzen ein menschliches Diminutiv und Essigälchen an Leib und[599] Seele, überall spitz geschaffen an Kinn, Nase, Witz, Kopf, Lippen und Achsel. Dieser feine Essigaal – denn der Aal verfocht, er kenne eine gewisse Feinheit, die nie die Sache eines Roturier wäre, und er leugne nicht, daß sich seine Urahnen nicht Zeusels, sondern von Swobodas geschrieben – reisete mit dem Hoffurier, der in Kussewitz das Quartiermeistertum für die fürstliche Braut versah, dahin ab, um so lange da zu sein, als er da unnötig war. Zeusel wollte durchaus auf den flachsenfingischen Hof mit etwas anderem Einfluß haben als mit seiner Klistier-Wasserkunst und durch anderes auf den Hofstaat wirken als durch Senesblätter; daher kaufte er alle geheime Nachrichten (er besserte sie sogleich in öffentliche um), die er über neue Lufterscheinungen der Hofluft einzog, teuer auf, und dann, wenn einige Leute von den Thronstaffeln herabpurzelten, lächelte er fein genug und bemerkte, er hoffe, diese hätten ihn für ihren Freund genommen und sein Bein nicht gesehen, das er ihnen aus seiner Apotheke heraus heimlich untergeschlagen. Er war trotz einiger Herzensgüte ein Lügner von Haus aus, nicht weil er boshaft, sondern weil er fein sein wollte; und dämpfte seinen gesunden Verstand, um witzig zu perlen. –

Gegen Viktor, als künftigen Hofmann und Gönner, wußt' er doch nicht den aufrechten Hof-Anstand anzunehmen, der sich und andere zugleich ehret; aber gegen die Pfarrleute beobachtete er die ordentliche Hof-Verachtung hinlänglich und zeigte ihnen genugsam, wie wenig er, ohne Absichten auf den Sohn des Lords, nur über ihre Gartenmauer oder Fensterbrüstung geschauet hätte, geschweige gekommen wäre. Viktor haßte an seinem Nächsten nie etwas anders als den Haß der andern Nächsten; und seine Achtung aller Stände, seine Verachtung aller Standes-Narren, sein Groll gegen Zeremonien und seine humoristische Zuneigung zu den kleinen Bühnen des Lebens machten den größten Kontrast mit dem pharmazeutischen Aufgußtierchen und mit dessen Ekel vor Menschen und mit dessen Bücken vor Großen.

Viktor gab seinem Hausherrn dreißig Grüße an den Italiener Tostato in Kussewitz mit, der mit ihm von Göttingen aus 1 1/2 Tag gereiset und gelacht und getanzt hatte. – Der wegfahrende Apotheker[600] ließ in Viktor einen verdrießlichen sauern Bodensatz zurück; sogar über den Blasbalgtreter, der jeden Sonntag den Kaffee hinauftrug, konnt' er nicht wie sonst lachen. Ich will sagen, warum er sonst lachte.

Der Kutscher war dann rasiert, und zwar aus der ersten Hand, von seiner eignen. Nun hatte das Kinn dieses trägen Bock-Insassen mehr Maulwurfhügel – so nenn' ich zierlich die Warzen – vorgestoßen, als nötig sind zum Rasieren und Mähen. Inzwischen hobelte der alte Mann an den Sonntag-Morgen – denn da ziehen die gemeinen Leute zugleich den alten Adam und das alte Hemd aus und lassen Sünden und Bart bloß die Werkeltage wachsen – mit seinem Messer kühn zwischen dem Warzen-Chagrin auf und nieder und schnitt ab. Nun würde der Mensch erbärmlich mit seinem zerpflügten Gesichtvorgrund ausgesehen haben – so daß man hätte Blut weinen müssen über dasjenige, so über das Kinn dieses steinernen Flußgottes in roten Linien ging –, wenn der Prosektor wie ein Römer seine Wunden aus Dummheit vorgezeigt hätte; aber er zeigte nichts; er zausete, verständiger, Tabakschwamm in kleine Kappen aus und setzte die Mützen den wunden Warzen auf und stellte sich so dar.

»Ein Spener, ein Kato der Jüngere«, sagte Viktor, »komm' einmal in meine Stube und lache nicht, wenn ein Balgtreter nachkommt mit Kaffeetassen und mit sechzehn skalpierten Warzen und mit einem in Schwamm gebundnen Kinn, das aussieht wie ein Gartenfelsen mit schön verteiltem Moos bewachsen – ein Spener lache nicht, sage ich, wenn er kann.«

Er konnt' es heute selber. Müde des Tags ging er hinaus in den friedlichen Abend und legte sich mit dem Rücken über die Gipfel eines steilen Bergs herüber; und als die Sonne, in ein Goldgewölke aufgelöset, über den quellenden Blumenfirnis zitternd zerfloß und an dem Gräsermeere der Berge herunterschwamm – und als er näher am warmen schlagenden Herzen der Natur anlag, auf die weiche Erde wie ein ruhender Toter hingesenkt, die Wolken mit Seufzern in sich herunterziehend, von weit herkommenden Winden überflossen, von Bienen und Lerchen eingewiegt: so kam die Erinnerung, dieser Nachsommer der Menschenfreude, in[601] seine Seele und eine Träne in sein Auge und Sehnsucht in die Brust, und er wünschte, daß ihn Emanuel nicht verschmähen möge. – Plötzlich näherten sich kleine Tritte seinen liegenden Ohren: er fuhr auf, erschrak und erschreckte. Ein schwerer Reisewagen taumelte matt herauf; hinten in den Lakaienriemen hatten statt der Bedienten drei bleiche Infanteristen die Hände gesteckt, die zusammen nur ein einziges Bein besaßen, das von Fleisch war, indem sie auf fünf hölzernen Stelzfùßen oder Schuster-Abzeichen fußten, die sie nebst noch etwas Längerem von Holz, nämlich drei gut gearbeiteten Bettelstäben, dem Feinde abgenommen hatten – ein Kutscher ging neben dem Wagen und eine Kammerfrau, und nahe am aufgesprungnen Viktor stand – – Klotilde.

Sie kam aus Maienthal. Ihm verfinsterte diese plötzliche Überstrahlung alle in seiner Seele aufgehangenen Gesetztafeln, und er konnte die Tafeln nicht gleich lesen. Sie schauete ihn mit sanftern Strahlen an als sonst, und die Sonne lieh einige dazu. Mit einem Lächeln, als erriete sie seine ersten Fragen, gab sie ihm einen – Brief von Emanuel. Ein zusammenfahrendes Ach! war seine Antwort; und eh' er sich in zwei Entzückungen schicken konnte: war der Wagen schon oben und sie darin und alles davon.

Er zögerte zitternd, in den stillen blauen Paradiesfluß der schönsten Seele, die sich je ergoß, versunken zu schauen. Endlich blickte er die Züge einer geliebten Menschenhand, die er noch nicht berührt hatte, an und las:


»Horion!


Auf einen Berg steigt der Mensch wie das Kind auf einen Stuhl, um näher am Angesicht der unendlichen Mutter zu stehen und sie zu erlangen mit seiner kleinen Umarmung. Um meine Höhe liegt die Erde unter dem weichen Nebel mit allen ihren Blumenaugen schlafend – aber der Himmel richtet sich schon mit der Sonne unter dem Augenlide auf – unter dem erblaßten Arkturus glimmen Nebel an, und aus Farben ringen sich Farbenlos – der Erdball wälzt sich groß und trunken voll Blüten und Tieren in den glühenden Schoß des Morgens. – –[602]

Sobald die Sonne kommt, so schau' ich in sie hinein, und mein Herz hebt sich empor und schwört dir, daß es dich liebt, Horion! ... Durchglühe, Aurora, das Menschenherz wie dein Gewölk, erhelle das Menschenauge wie deinen Tau und zieh in die dunkle Brust, wie in deinen Himmel, eine Sonne herauf! ...

Ich habe dir jetzo geschworen – ich gebe dir meine ganze Seele und mein kleines Leben, und die Sonne ist das Siegel auf dem Bunde zwischen mir und dir.

Ich kenne dich, Geliebter; aber weißt du, wessen Hand du in deine genommen? Sieh, diese Hand hat in Asien acht edle Augen zugeschlossen – mich überlebte kein Freund – in Europa verhüll' ich mich – meine trübe Geschichte liegt neben der Asche meiner Eltern im Gangesstrom, und am 24sten Junius des künftigen Jahres geh' ich aus der Welt... O Ewiger, ich gehe – am längsten Tage zieht der glückliche Geist geflügelt aus diesem Sonnentempel, und die grüne Erde geht auseinander und schlägt über meine fallende Puppe mit ihren Blumen zusammen und deckt das vergangne Herz mit Rosen zu...

Wehe größere Wellen auf mich zu, Morgenluft! Ziehe mich in deine weiten Fluten, die über unsern Auen und Wäldern stehen, und führe mich im Blütengowölk' über funkelnde Gärten und über glimmende Ströme und laß mich, zwischen fliegenden Blüten und Schmetterlingen taumelnd, unter der Sonne mit ausgebreiteten Armen zerfließend, leise über der Erde schwebend sterben, und die Bluthülle falle, zerronnen zu einer roten Morgenflocke, gleich dem Ichor des Schmetterlings20, der sich befreiet, in die Blumen herab, und den blauhellen Geist sauge ein heißer Sonnenstrahl aus dem Rosenkelch des Herzens in die zweite Welt hinauf. – – Ach ihr Geliebten, ihr Abgeschiednen, seid ihrs, zieht ihr denn jetzt als dunkle Wellen21 im bebenden Blau des Himmels dahin, wogen in jener Tiefe voll überhüllter Welten jetzt eure Ätherhüllen um die verdeckten Sonnen? Ach kommt[603] wieder, wogt wieder, in einem Jahr rinn' ich aufgelöst in euer Herz!

– Und du, mein Freund, suche mich bald! Dich kann auf der Erde keiner so lieben wie ein Mensch, der bald sterben muß. Du gutes Herz, das mir diese milden Tage noch zum Abschied in die Hände drücken, unaussprechlich will ich dich lieben und wärmen – in diesem Jahr, wo ich noch nicht weggehoben werde, will ich bloß bei dir bleiben, und wenn der Tod kommt und mein Herz fodert, findet er es bloß an deiner Brust.

Ich kenne meinen Freund, sein Leben und seine Zukunft. In deinen kommenden Jahren stehen dunkle Marterkammern offen, und wenn ich sterbe und du bei mir bist, werd' ich seufzen: warum kann ich ihn nicht mitnehmen, eh' er seine Tränen vergießet!

Ach Horion! im Menschen steht ein schwarzes Totenmeer, aus dem sich erst, wenn es zittert, die glückliche Insel der zweiten Welt mit ihrem Nebeln vorhebt! Aber meine Lippen werden schon unter dem Erdenkloß liegen, wenn die kalte Stunde zu dir kommt, wo du keinen Gott mehr sehen wirst, wo auf seinem Thron der Tod liegt und um sich mäht und bis ans Nichts seine Frostschatten und seine Sensen-Blitze wirft. – O Geliebter, mein Hügel wird dann schon stehen, wenn deine innere Mitternacht anbricht; mit Jammer wirst du auf ihn steigen und ergrimmt in die sanften Sternenkränze blicken und rufen22: ›Wo ist der, dessen Herz unter mir entzweigeht? Wo ist die Ewigkeit, die Maske der Zeit? Wo ist der Unendliche? Das verhüllte Ich greift nach sich selber umher und stößet an seine kalte Gestalt.... Schimmere mich nicht an, weites Sternengefild, du bist nur das aus Farbenerden zusammengeworfene Gemälde an einem unendlichen Gottesackertore, das vor der Wüste des unter dem Raume begrabnen Lebens steht.... Höhnet mich nicht aus, Gestalten auf höhern Sternen, denn zerrinnt ich, zerrinnt ihr auch. Ein, ein Ding, das der Mensch nicht nennen kann, glüht ewig im unermeßlichen Rauche, und ein Mittelpunkt ohne Maß verkalkt einen Umkreis ohne Maß. – Doch bin ich noch; der Vesuv des Todes dampft noch über[604] mich hinüber, und seine Asche hüllt mich zu – seine fliegenden Felsen durchbohren Sonnen, seine Lavagüsse bewegen zerlassene Welten, und in seinem Krater liegt die Vorwelt ausgestreckt, und lauter Gräber treibt er auf... O Hoffnung, wo bleibst du?‹...

Walle trunken um mich, beseelter Goldstaub, mit deinen dünnen Flügeln, ich zerdrücke dein kurzes Blumenleben nicht – schwelle herauf, taumelnder Zephyr, und spüle mich in deine Blütenkelche hinab – o du unermeßlicher Strahlenguß, falle aus der Sonne Über die enge Erde und führ' auf deinen Glanzfluten das schwere Herz vor den höchsten Thron, damit das ewige unendliche Herz die kleinen, an Asche grenzenden nehme und heile und wärme!

Ist denn ein armer Sohn dieser Erde so unglücklich, daß er verzagen kann mitten im Glanze des Morgens, so nahe an Gott auf den heißen Stufen seines Throns?

Fliehe mich nicht, mein Teurer, weil mich immer ein Schatten umzingelt, der sich täglich verdunkelt, bis er endlich als eine kleine Nacht mich einbauet. Ich sehe den Himmel und dich durch den Schatten; in der Mitternacht lächle ich, und im Nachtwind geht mein Atem voll und warm. Denn, o Mensch, meine Seele hat sich aufgerichtet gegen die Sterne: der Mensch ist ein Engbrüstiger, der erstickt, wenn er liegt und seinen Busen nicht aufhebt. – Aber darfst du die Erde, diesen Vorhimmel, verachten, den der Ewige gewürdigt, unter dem lichten Heer seiner Welten mitzugehen? Das Große, das Göttliche, das du in deiner Seele hast und in der fremden liebst, such auf keinem Sonnenkrater, auf keinem Planetenboden – die ganze zweite Welt, das ganze Elysium, Gott selbst erscheinen dir an keinem andern Ort als mitten in dir. Sei so groß, die Erde zu verschmähen, werde größer, um sie zu achten. Dem Mund, der an sie gebückt ist, scheint sie eine fette Blumen-Ebene – dem Menschen in der Erdnähe ein dunkler Weltkörper – dem Menschen in der Erdferne ein schimmernder Mond. Dann erst fließet das Heilige, das von unbekannten Höhen in den Menschen gesenkt ist, aus deiner Seele, vermischt sich mit dem irdischen Leben und erquickt alles, was dich umgibt: so muß das Wasser aus dem Himmel und seinem Gewölk erst unter die Erde[605] rinnen und aus ihr wieder aufquellen, eh' es zum frischen hellen Trunk geläutert ist. – Die ganze Erde bebt jetzo vor Wonne, daß alles ertönt und singt und ruft, wie Glocken unter dem Erdbeben von selber erklingen. – Und die Seele des Menschen wird immer größer gemacht vom nahen Unsichtbaren – –

Ich liebe dich sehr! –

Emanuel.«


Horion las durch schwimmende Augen: »Ach,« wünscht' er, »wär' ich schon heute mit meinem unordentlichen Herzen bei dir, du Verklärter!« und jetzt fiel ihm erst die Nähe des Johannistages ein, und er nahm sich vor, ihn da zu sehen. Die Sonne war schon verschwunden, die Abendröte sank wie eine reife Äpfelblüte hinab, er fühlte nicht die heißen Tropfen auf seinem Angesicht und den Eistau der Dämmerung an seinen Händen und irrte mit einer von Träumen erleuchteten Brust, mit einem beruhigten, mit der Erde ausgesöhnten Herzen zurück. – –

– Beiläufig! ists denn nötig, daß ich eine Schutzschrift ausarbeite für Emanuel als Stilisten und als Styliten(im höhern Sinne)? Und wenn sie nötig ist, brauch' ich darin etwas anders beizubringen als dieses – daß seine Seele noch das Echo seiner indischen Palmen und des Gangesstromes ist – daß der Gang der bessern entfesselten Menschen, so wie im Traume, immer ein Flug ist daß er sein Leben nicht wie Europäer mit fremdem Tierblut düngt oder in gestorbnem Fleisch auswärmt, und daß dieses Fasten im Essen (ganz anders als das Überladen im Trinken) die Flügel der Phantasie leichter und breiter macht – daß wenige Ideen in ihm, da er ihnen allen geistigen Nahrungsaft einseitig zuleitet (welches nicht nur Wahnsinnige, sondern auch außerordentliche Menschen von ordentlichen abtrennt), ein unverhältnismäßiges Gewicht bekommen müssen, weil die Früchte eines Baums desto dicker und süßer werden, wenn man die andern abgebrochen – und dergleichen mehr? – Denn, aufrichtig zu sprechen, die Leser, die eine Schutzschrift begehren, bedürfen selber eine, und Emanuel ist etwas Besseres wert als einer – peinlichen Defension –

Jetzo sprang dem Helden der Trost wie eine Quelle auf, daß er[606] am Donnerstag seine Seelenwanderung durch die Natur, seine Reise, anhebe: »Beim Henker!« sagt' er aufhüpfend, »was hat ein Christ da nötig, daß er Notmünzen schlägt und Trauermäntel umtut, wenn er am Donnerstage nach Kussewitz zur Übergabe der italienischen Prinzessin reisen kann – und am Sonnabend nach der Insel der Vereinigung und noch am nämlichen Tage, welches ein Tag vor Johannis ist, nach Maienthal zu seinem Teuern, zu seinem Engel?« –

O Himmel, ich wollt', er und ich wären schon über die Reise her – wahrhaftig sie kann, wenn mich nicht alle Hoffnungen belügen, vielleicht ganz erträglich werden! –

– Unter der Wochenbetstunde des Mittwochs rollten zwei Wägen vor; aus dem vollen traten der Lord und der Fürst, aus dem leeren nichts. Die alte Appel hatte sich prächtig angekleidet und in die Speisekammer eingesperrt. Der Kaplan war glücklicher, er dozierte im Tempel. Man macht selten ein gescheites Gesicht, wenn man vorgestellt wird – oder ein dummes, wenn man vorstellt. Der Lord führte dem Fürsten seinen Sohn als ein Unterpfand seiner künftigen Treue in die Hände und ans Herz, aber mit einer Würde, die ebensoviel Ehrfurcht erwarb, als sie erwies. Mein guter Held betrug sich wie ein – Narr; er hatte weit mehr Witz, als unsre Achtung gegen Höhere oder die ihrige gegen uns verstattet; ein Talent, das außer dem Hof-Lehndienste sich äußert, kann als Hochverrat betrachtet werden.

Sein Witz war bloß eine versteckte Verlegenheit, worin ihn zwei Gesichter und eine dritte Ursache setzten. Erstlich das fürstliche...

– Wenn sich die Lesewelt beschwert, daß so allmählich, wie sie sehe, ein neuer Name und Akteur nach dem andern in diesen Venusstern hereinschleiche und ihn so voll mache, bis aus dem historischen Bildersaal ein ordentlicher Vokabelsaal werde, in welchem sie mit einem Adreßkalender in der Hand herumwandeln müsse: so hat sie wahrhaftig nur zu sehr recht, und ich habe mich selber schon am meisten darüber beschwert; denn mir bleibt am Ende doch die größte Last auf dem Halse, weil jeder neue Tropf ein neues herausgezogenes Orgelregister ist, das ich mit spielen muß und das mir das Niederdrücken der Tasten sauerer[607] macht; aber der Korrespondent schickt mir im Kürbis, ohne anzufragen, alle diese Einquartierung zu, und der Schnakenmacher schreibt gar, ich sollt' es nur der Welt sagen, es komme noch mehr Volk. –

Das fürstliche Gesicht setzte den Helden in Verlegenheit, nicht weil es imponierte, sondern weil es dieses bleiben ließ. Es war ein Wochentags- und Kurrentgesicht, das auf Münzen, aber nicht auf Preismedaillen gehörte – mit Arabesken-Zügen, die weder Gutes noch Böses bedeuten – von wenigem Hof-Mattgold überflogen – eingeölet mit einem sanften , das die stärksten Wellen erdrücken konnte – eine Art süßer Wein, mehr den Weibern als Männern trinkbar. Von den feinsten Wendungen, die Viktor zu erwidern gesonnen war, stand nichts zu hören und zu sehen; aber von passenden leichten desto mehr. Viktor wurde durch den Kampf und Wechsel zwischen Höflichkeit und Wahrheit verlegen. Die geselligen Verlegenheiten entstehen nicht aus der Ungewißheit und Unwegsamkeit des Steigs, sondern auf den Kreuzwegen der Wahl und zwischen den zwei Heubündeln des scholastischen Esels. Viktor, dessen Höflichkeit immer aus Menschenliebe entsprang, mußte die heutige aus Eigennutz entspringen lassen; aber dieses wollt' ihm eben nicht ein. Außer dem Vater-Gesicht, vor dem schon bei den meisten Kindern das ganze Räderwerk eines freien Betragens knarrt und stockt, macht' ihn drittens das verlegen und witzig, daß er etwas haben wollte. Ich kanns einem jeden – einen Hofmann ausgenommen, dessen Leben wie das eines Christen ein beständiges Gebet um etwas ist – ansehen, wenn er zur Tür hereinkommt, ob er als Almosensammler und Werkheiliger oder als bloßer Freudenklubist einspricht.

Noch ehe die Leute aus der Kirche gingen, fassete Viktor schon herzliche Liebe zum Fürsten – die Ursache war, er wollt' ihn lieben, und stände der Teufel selber da. Er sagte oft: gebt mir zwei Tage oder eine Nacht, so will ich mich verlieben, in wen ihr vorschlagt. Er fand mit Vergnügen auf Jenners Gesicht keinen Sekunden-, keinen Monatzeiger der Schäferstunden, mit denen ein guter Cäsar sonst gern die langweiligen Ehejahre wie mit Flitterwochen zu durchschießen sucht: sondern in seinem Gesichte war[608] nichts als Enthaltsamkeit aufgeschlagen, und Viktor pflichtete lieber dem Gesichte als dem Rufe bei. Er schießet fehl; denn auf das männliche Gesicht – ob es gleich, wie gewisse Gemälde aus Schreib-Lettern, ebenso aus lauter Buchstaben der Physiognomik gemacht ist – hat doch die Natur die Lesemütter und Malzeichen der Wollust sehr klein geschrieben, auf das weibliche aber größer; welches ein wahres Glück für das erste und stärkere und – unkeuschere Geschlecht ist. Überhaupt ist Ehebrechen für Jenner-Fürsten nichts als eine gelindere Art von Regieren und Kriegen. Und doch stellen rechtschaffene Regenten die Weiber, sobald sie solche erobert haben, stets dem vorigen Eheherrn mit Vergnügen wieder zu. Es ist aber dies dieselbe Größe, womit die Römer den größten Königen ihre Reiche wegnahmen, um sie nachher damit wieder zu beschenken.

Da Fürsten nicht wie die Juristen böse Christen, sondern lieber keine sind: so nahm Jenner unsern Viktor durch verschiedene Funken von Religion und durch einigen Haß gegen die gallischen Enzyklopädisten ein; wiewohl er einsah, daß für einen Fürsten die Religion zwar ihr Gutes, aber auch ihr Schlimmes habe, da nur ein gekrönter Atheist, aber kein Theist das unschätzbare privilegium de non appellando besitzt, das darin besteht, daß die beschwerte Partei nicht (per saltus oder durch einen salto mortale) an die höchste Instanz außerhalb der Erde appellieren darf.

Das Gespräch war gleichgültig und leer wie jedes in solchen Lagen. Überhaupt verdienen die Menschen für ihre Gespräche stumm zu sein; ihre Gedanken sind allezeit besser als ihre Gespräche, und es ist schade, daß man an gute Köpfe keinen Barometrographen oder kein Setzklavier anbringen kann, das außen alles nachschreibt, was innen gedacht wird. Ich wollte wetten, jeder große Kopf geht mit einer ganzen Bibliothek ungedruckter Gedanken in die Erde, und bloß einige wenige Bücherbretter voll gedruckter lässet er in die Welt auslaufen.

Viktor stellte an den Fürsten die gewöhnlichen medizinischen Fragstücke, nicht bloß als Leibarzt, sondern auch als Mensch, um ihn zu lieben. Obgleich Leute aus der großen und größten Welt, wie der Unter-Mensch, der Urangutang, im 25sten Jahre ausgelebt[609] und ausgestorben haben – vielleicht sind deswegen die Könige in manchen Ländern schon im 14ten Jahre mündig –, so hatte doch Jenner sein Leben nicht so weit zurückdatiert und war wirklich älter als mancher Jüngling. – Am meisten bemächtigte sich der Fürst des guten warmen Herzens Sebastians durch das schlichte Betragen ohne Ansprüche, das weder der Eitelkeit noch dem Stolze diente, und dessen Aufrichtigkeit sich durch nichts von der gewöhnlichen unterschied als durch Feinheit. Viktor hatte schon Vasallen neben dem Munde ihres Lehnherrns so stehen sehen, daß der letzte aussah wie ein Haifisch, der quer einen Menschen im Rachen trägt; aber Jenner glich einem Petermännchen23, das darin einen hübschen Stater vorweist.

Dem Hofkaplan wars, da er kam, in seinem Erstaunen über einen gekrönten Gast unmöglich, Lippe oder Fuß zu rühren; er verblieb unbeweglich in der weiten Wasserhose des Priesterrocks, der um ihn wie um Marzipan ein Regalbogen geschlagen war. Das einzige, was er sich erlaubte und erfrechte, war – nicht, die Bibel (den Mauskloben) wegzulegen, sondern – die Augen heimlich in der Stube herumzutreiben, um herauszubringen, ob sie gehörig geheftet, foliiert und überschrieben sei von den Stuben-Registratorinnen.

Der Fürst reisete sogleich mit dem Lord weiter, der seinen Abschied vom Sohne und seine Abschiedpredigten bis auf den einsamen Tag auf der Insel der Vereinigung versparen mußte. Der Sohn bekam zur Nachbarschaft des Fürsten Lust, wenn er dessen Betragen gegen seinen Vater überdachte; er hatte die doppelte Freude des Kindes und des Menschen, da sein Vater das eigne Glück in das Glück des armen Landes verwandelte und bloß, um Gutes zu tun, in dem Thronfelsen sich Fußstapfen austrat, wie man in Italien die Fußtritte der Engel, die erschienen und beglückten, in den Felsen zeigt. Andre Günstlinge gleichen dem Henker, der sich im Sande Fußstapfen aushöhlt, um fester zu stehen, wenn er – köpft.

In der ausgeleerten Stube wurde unter Eymanns Gliedern – er stand noch im Priesterrock-Schilderhaus – der Zeigefinger zuerst[610] wach, der sich ausstreckte und dem Familienzirkel das Bette wies »Es wäre mit lieber und dienlicher,« sagte er, »hätte man mich mit diesem Lumpen totstranguliert, als daß ihn der Serenissimus ausspioniert.« Er meinte aber seine eigne beschmutzte Halsbinde, die er selber in das Ehebette – die Kunstkammer und den Packhof seiner Wäsche – geworfen hatte. Wenn man ihm einen Qual-Einfall widersprach, so bewies er ihn so lange, bis er ihn selber glaubte; räumte man ihn aber ein, so sann er sich einige Skrupel aus und nahm eine andere Meinung an: »Durch die Vorhänge muß Seine Durchlaucht unfehlbar den Fetzen gesehen haben«, versetzte er. Endlich bereisete er alle Plätze, wo Jenner gestanden hatte, und visierte nach der Lumpenbinde und untersuchte ihre Parallaxe. »Ans Blenden der Fenster müssen wir uns halten, wenn wir ruhig bleiben wollen«, beschloß er und – – ich.


Nachschrift. Ich werde allemal nach einem achten Kapitel – weil ich gerade zwei Hundtage in einer Woche fertig bringe – bemerken, daß ich wieder einen Monat lang gearbeitet habe. Ich berichte daher, daß morgen der Junius angeht.

15

Die Büste des Vatikanischen Apollo, an der er keine andre Gestalt bilden lernen wollte als seine eigne.

16

Ein Sonnensystem ist nur ein punktiertes Profil des Weltgenius, aber ein Menschenauge ist sein Miniaturbild. Die Mechanik der Weltkörper können die mathematischen Rechenmeister berechnen, aber die Dioptrik des unter lauter trüben Feuchtigkeiten helle gewordnen Auges übersteigt unsre algebraischen Rechenkammern, die daher von den nachgeäfften Augen (von den Gläsern) den Diffusionraum und das enge Feld nicht wegzurechnen vermögen.

17

Hieronym. cont. Jov. L. 2

18

Bayles Dictionnaire art. François d'Assise not. C.

19

Sowohl der Hund als ich wissen davon, was das für eine Insel ist, weiter nichts.

20

Den Schmetterlingen entfallen in ihrer letzten Verwandlung rote Tropfen, die man sonst Blutregen hieß.

21

Wenn man lange ins Himmelblaue schauet: so fängt es an zu wallen, und diese Luftwogen hält man in der Kindheit für spielende Engel.

22

Dieser Monolog ist ein Stück aus einer frühern schwarzen Stunde, die jedes Herz von Empfindung einmal ergreift.

23

So heißet der Fisch, in dessen Maule Petrus die Steuer Christi gefunden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 584-611.
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