37. Hundposttag

[1105] Der Amoroso am Hofe – Präliminarrezesse der Hochzeit – Rettung des höflichen Krümmens


Am Morgen nach jener großen Nacht nahm Viktor von dieser geweihten Graberde seiner schönsten Tage mit unverhüllten Tränen Abschied. Er sah sich oft um nach diesen Ruinen seines Palmyra, bis nichts davon übrig stand als der Bergrücken als Brandmauer. »Wenn du nach vier Wochen wieder hieher gehest,« dachte er, »so ists nur, um dem Todesengel zuzusehen, wie er deinen Emanuel auf den Altar und unter das Opfermesser legt.« Er sagte sichs, wie teuer er dieses Laubhüttenfest durch den Tod eines Freundes bezahle; und wie dieser ohne einen solchen Ersatz einen[1105] ebenso großen Verlust erleide. Denn er fühlte, daß das fürchterliche Wort »Schurke« als eine ewige Felsenwand zwischen ihre auseinandergeteilten Seelen nun getreten sei. – Er stellte sich zwar vor und recht gern, was den vergangnen Freund lossprach, besonders die Verhetzung durch Matthieu und Flamins Zuhorchen, als er Klotilden ewige Liebe zuschwor; ja er verfiel sogar darauf, daß der Evangelist den armen Flamin vielleicht besondere (die vom Apotheker vorgeschlagnen) Beweggründe einer Liebe, durch deren Gegenstand die Gunst des Fürsten festzumachen war, weit im Hintergrunde sehen lassen – aber sein Gefühl sagte ihm unaufhörlich: »Er hätte doch nicht glauben sollen! – Ach hättest du mich doch« (sagte er gerührt bei der Erblickung der Stadt) »mit Kugeln oder mit andern Schmähungen durchbohrt, damit ich dir hätte leicht vergeben können! – Aber gerade mit diesem fortfressenden Giftlaute!« – Er hat recht; die Beleidigung der Ehre wird darum nicht kleiner, weil sie der andere aus voller Überzeugung des Rechts begeht. Denn die Überzeugung ist eben die Beleidigung; und die Ehre eines Freundes ist etwas so Großes, daß die Zweifel an ihr fast nur durch eigenes Geständnis entstehen dürfen. Aber so werden aus kleinen Verhehlungen leicht Trennungen, wie aus Nebeln im März Gewitter im Julius. Nur eine vollendete edle Seele vermag es, den geprüften Freund nicht mehr zu prüfen – zu glauben, wenn die Feinde des Freundes leugnen – zu erröten wie über einen unreinen Gedanken, wenn ein stummer verfliegender Argwohn das holde Bild beschmutzt – und wenn endlich die Zweifel nicht mehr zu bezwingen sind, diese noch lange aus den Handlungen fortzuweisen, um lieber in eine kameralistische Unvorsichtigkeit zu fallen als in die schwere Sünde gegen den heiligen Geist im Menschen. Dieses feste Vertrauen ist leichter zu verdienen als zu haben.

Im lärmenden Hammer- und Mühlenwerk der Stadt war ihm wie in einer öden Waldung. An zarte Seelen verwöhnt, kamen ihm die städtischen alle so stachlicht und ungeschliffen vor; denn die Liebe hatte wie die Tragödie seine Leidenschaften gereinigt, indem sie solche erregte. Alles hing so verfallen, so verraset zum Einbrechen herüber, indes die reinen Spiegelwände in Maienthal[1106] fest und glänzend aufstiegen. Denn die Liebe ist das einzige, was das Herz des Menschen bis an den Rand vollgießet, wiewohl mit einem bald einsinkenden Nektar-Schaume; sie allein fasset ein Gedicht von etlichen tausend Minuten ab ohne den klirrenden R-Buchstaben, wie der Dominikaner Cardone über sie ein ebenso großes Gedicht unter dem Namen: L'R sbandita ohne ein einziges R verfertigte – daher ist sie wie die Krebse in den Monaten ohne R am schönsten.

Das erste, was er in Flachsenfingen zu machen hatte, war ein Brief an Klotilde. Denn da nun der Evangelist Matthieu aller Wahrscheinlichkeit nach in alle Welt ausgehen und das Evangelium vom Schuß-Zweikampf der beiden Freunde allen Völkern predigen wird: so war nichts anders für den heiligen Ruf seiner Geliebten zu tun, als sie in eine Braut zu verwandeln durch eine öffentlich erklärte Verlobung. Flamins neues Ereifern konnte gegen Klotildens Rechtfertigung in keine Betrachtung kommen. Der Ausruf »Du bist mein Bruder«, den die Konvulsionen der Angst Klotilden entrissen hatten, war natürlich für Flamin unbegreiflich und ohne Wirkung geblieben; für den lauernden Matz aber war er ein herrlicher Kernspruch und ein dictum probans seines Lehrgebäudes von ihrer Verschwisterung geworden. – Im Briefe also ging Viktor seine Freundin um die stumme Erlaubnis zu seinem Werben an; er überließ es ihr schweigend, die uneigennützigsten Beweggründe seiner Bitte zu erraten. –

Er erschien jetzt auf dem Kriegschauplatz der Seelen, von dem man selten eine genaue Karte erwischt, am Hofe; – seinem mit Paradiesen angefüllten Herzen kamen sogar die Zimmer vor wie Glaskästen einer ausgebälgten Voliere, die man mit Streuglanz, Konchylien und Blumen übersäet, und die lebendigen Stücke der Zimmer wie getrocknetes, mit Arsenik oder Holz ausgestopftes Gevögel; durch die Schlangen war Draht geführt, wie durch die Schwänze der großen Tiere, und die Baumläufer am Thron standen auf Draht. – – So sehr wurde er bloß durch das Pfingstfest der Gegenfüßler von uns, die wir bei kälterm Blute das Erhabene und Edle eines Hofs leicht bemerken. – Das Neueste, was er da hörte, war, daß der Fürst in Gesellschaft der Fürstin zum Gesundbrunnen[1107] in St. Lüne abreise, um die gichtbrüchigen Füße, wie jene die Augen, heil zu baden. Viktor war wirklich nicht ganz tolerant, da er bei sich dachte: »Wenn ihrs nicht besser haben wollt, so geht meinetwegen zum T-.« Das Paulinum war für ihn ein Schlachthaus und jedes Vorzimmer eine Marterkammer; der Fürst behandelte ihn nicht höfisch-höflich, sondern kalt, welches ihm desto weher tat, da es bewies, er habe ihn geliebt – die Fürstin stolzer – bloß Matthieu, der mit Leuten am liebsten sprach, die ihn tödlich haßten, hatte ein Gesicht voll Sonnenschein. Von diesem und von seiner Schwester und einigen Ungenannten hatt' er leichtes Schlangengift der Persiflage über seinen Zweikampf einzunehmen und zu verwinden, das wohl der Magen wie anderes Schlangengift verdaut, das aber, in Wunden gesprützt, das Lebensblut auflöset. – Gerät denn nicht sogar mein Korrespondent in Eifer und schickt mir seinen Eifer durch meinen capsarius105, den Spitzhund, zu und sagt: »Es bleibe doch einer einmal kalt, der warm ist, nämlich verliebt, und den noch nicht der Tod kalt gemacht, er verbleib' es, sag' ich, vor dem stechenden Lächeln einer Hof-Schwesterschaft über seine empfindsame Liebe, zumal vor solchen höhern Damen, die Gottheiten sind, auf deren cyprischem Altar allemal (wie bei den Skythen) der Fremde geopfert wird, und denen (wie die Gallier von ihren Göttern glaubten) Übeltäter, Roués, Orleans die liebsten Opfer sind! – Oder er höre sich, wenn er auch das hinnimmt, gelassen von einem Evangelisten über seine Liebe persiflieren, der darin folgende Grundsätze erfindet und einkleidet: ›La décence ajoute aux plaisirs de l'indécence: la vertu est le sel de l'amour; mais n'en prénez pas trop. – J'aime dans les femmes les accès de colère, de douleur, de joie, de peur: il y a toujours dans leur sang bouillant quelque chose qui est favorable aux hommes. – C'est là oú la finesse demeure courte, qu'il faut de l'enthousiasme. – Les femmes s'étonnent rarement d'être crues faibles; c'est du contraire qu'elles s'étonnent un peu. – L'amour pardonne toujours à l'amour, rarement à la raison.‹ – Glücklich sind« (seufzet Knef) »Widersacher, die einander prügeln dürfen.«[1108]

Der Evangelist warf einen beizenden Tropfen auf Viktors Herznerven, da er, trotz seiner Wissenschaft um Flamins adelige Abstammung, ihn damit aufzog, »daß er wie ein neufranzösischer Äquilibrist der Freiheit sich mit Bürgerlichen – zwar nicht vermähle, aber doch – schieße«. Und es ging ihm durch die Seele, seinen ausgestohlnen Freund so sehr an Freunden verarmt zu sehen, daß dieser Matthieu der letzte und der Stammhalter war, der sich nicht einmal vor Viktor die Mühe gab, in den höhern Zirkeln die Rolle eines Freundes von Flamin zu nehmen und fortzuspielen. Einem guten Menschen wird das weiche Herz gleichsam in eine Quetschform eingeschraubt, wenn er vor Leuten stehen muß (wie hier Viktor vor so vielen), die ihn hassen und beleidigen – anfangs ist er heiter und kalt und freuet sich, daß er sich nichts darum schiert – aber er rüstet sich unwissend mit immer mehr Verachtung, um der Beleidigung etwas entgegenzustellen – endlich meldet sich der Anwachs der Verachtung durch das unbehagliche Gefühl der entfliehenden Liebe und des eindringenden Hasses an, und das bittere Scheidewasser ergreift und zerfrißt sein eignes Gefäß, das Herz. – Dann werden die Schmerzen so groß, daß er die alte Menschenliebe, die das warme Element seiner Seele war, wieder in Strömen in den Busen rinnen läßt. Bei Viktor kam noch etwas zur Erbitterung – seine Erweichung; man ist nie kälter als nach großer Wärme, so wie Wasser nach dem Kochen eine größere Kälte annimmt, als es vorher hatte. Liebe, Rausch und zuweilen die aus dem Anblick der Natur getrunkne Begeisterung machen uns gegen unsere Lieblinge zu gut, und gegen unsere Gegenfüßler zu hart. Als nun Viktor in dieser bittern Laune neben einem Spieltisch zusah und über die ganze Assemblee sich innerliche Vorlesungen hielt, lectures upon heads106, wo er sich statt der Köpfe aus Pappendeckel bloß mit dickern behalf: so fiel durch die Erinnerung an die stille Menschenbildung, womit Klotilde sich in eben diese Menschen ihren Eltern zu Liebe bequemet hatte, der ganze Eispanzer, der sich um sein Herz wie um eine Blume gelegt hatte, zerflossen herab, und sein erwärmtes Herz sagte mit der[1109] ersten heutigen Freude: »Warum hass' ich denn diese ebenso gequälten als quälenden Gestalten so hart? Sind sie nur meinetwegen? Haben sie nicht auch ihr Ich? Müssen sie sich mit diesem mangelhaften, gepeinigten Selbst nicht durch die ganze Ewigkeit schleppen? Wird nicht jeder von irgendeiner fremden Seele noch geliebt? Warum willst denn du nur Stoff zum Abscheu an ihnen sehen und aus jeder Miene, aus jedem Laute Säure ziehen? – Nein, ich will die Menschen bloß lieben, weil sie Menschen sind« – Jawohl! die Freundschaft kann Vorzüge begehren, aber die Menschenliebe bloß Menschengestalt. Daher haben wir eben alle eine so kalte, eine so wechselnde Menschenliebe, weil wir den Wert der Menschen mit ihrem Recht vermengen und nichts an ihnen lieben wollen als Tugenden.

Unserm Viktor wurde so leicht wie nach einem Gewitter; das Bitterste, womit uns Beleidigungen angreifen, ist, daß sie uns zu hassen nötigen. Auf der andern Seite fühlte er jetzo, wie unrein unser für Tugend ausgegebener Widerstand gegen Schlimme sei, und wie sauer es selber einer edeln Seele werde, Feinde zu bekämpfen, ohne sie anzufeinden; denn dieses ist noch schwerer, als sie zu beglücken und zu beschützen, ohne sie zu lieben.

So strichen einige Wochen unter seinen erzwungnen Landungen am feindlichen Hofe vorüber – denn die Bitte seines Vaters beherrschte sein Herz – und unter vergeblichen Hoffnungen auf Klotildens Entscheidung und unter tränendem Zurücksehnen in die innehaltenden Tage der Liebe und in die verheerten Tage der Freundschaft. Klotildens Schweigen willigte aber eben in seine Ankunft ein; doch meldete er ihr durch einen zweiten Brief noch zum Überfluß den Tag derselben. Übrigens wurde ihm – so an den Thron wie an eine Säule zum Geißeln gebunden, so aus allen Gegenständen seiner Liebe herausgeschleudert, so auf nichts geheftet als auf eine von weitem donnernde Zukunft, in der sein Emanuel nach vierzehn Tagen unter die Erde einsinkt und seine Klotilde in tausend Schmerzen – die Gegenwart schwül und eng. Um ihn ging ein unreifes Gewitter herum, und wie an den Tag – und Nachtgleichen ruhten die Wolken unbeweglich wie ein großer Nebel über ihm, und das verborgne Arbeiten im hohen Gewölke[1110] des Schicksals hatte noch nicht das Zusammenfließen in Tränen entschieden oder das Zerteilen in Blau.

Endlich ging er nach St. Lüne... Wahrlich nur wehmütigbeglückt! O! konnt' er auf den Lüner Fußsteig blicken oder auf das Pfarrhaus, das die Bühnen der begrabnen Freundschaft bedeckte, ohne das Auge überfließend abzuwenden, ohne daran zu denken, wie viel eitler das Lieben als das Leben der Menschen sei, wie das Schicksal gerade die wärmsten Herzen zur Zerstörung der besten anwende (so wie man nur Brennspiegel zum Einäschern der Edelsteine gebraucht), und wie manche stille Brust nichts ist als der gesunkne Sarg eines erblaßten geliebten Bildes? – Es ist ein namenloses Gefühl, einen Freund lieben zu wollen aus Erinnerung und ihn fliehen zu müssen aus Ehre: Viktor wünschte, er dürfte seinem betörten Liebling vergeben; aber vergeblich: das arsenikalische Wort, das mich in seinem Namen schmerzt, blieb trotz aller, aller versüßenden Säfte, mit denen ers einwickelte, doch unaufgelöset und fressend und tödlich in seiner Seele liegen. Guter Flamin! ein Fremder könnte dich lieben, ich z.B., aber dein Jugendfreund nicht mehr!

Viktor schritt zögernd vor dem Bilder- und Musiksaal seiner nachgespielten und nachgetönten Kindheit vorbei, vor dem Pfarrhaus, desgleichen vor der scheuernden Apollonia, die er gern tiefer grüßte, als sein Stand zuließ, und vor dem alten Mops, der sich in keinen Familienzwist einmengte, sondern ihn freimütig mit dem Schwanz invitierte. – Nicht sein Stolz hielt ihn ab, die (vorgeblichen) Eltern seines Widersachers zu besuchen, sondern die Ängstlichkeit tats, die ihn besorgen ließ, die guten Menschen würden sich vielleicht vor ihm im verlegenen Kampfe zwischen Höflichkeit, zwischen alter Liebe und neuem Groll abquälen. Aber er beschloß, durch einen Brief an die edelmütige Pfarrfrau seine Liebe zu befriedigen und ihre Empfindlichkeit.

Dann trat er vor seine Geliebte! – Ich hab' es vor-vorgestern unter dem Lesen der deutsch-französischen Geschichte, wo bekanntlich auch der gekrönte Name Klotilde regiert, an den verdoppelten Schlägen meines Herzens gemerkt, wie mir erst sein würde, wenn ich diese Klotilde, die ich seit drei Vierteljahren gelobt[1111] habe, vollends gar sähe; denn daß Knef so wie der Hund keine Spitzbuben sind, und daß die ganze Historie nicht bloß vorgefallen ist, sondern auch noch vorfällt, erseh' ich aus hundert Zügen, die wohl keine Phantasie erfinden kann. Würde der Biograph der Heldin ansichtig: dann entstände nichts als ein neues Heft und ein neuer – Held, welcher ich wäre....

Sie war krank; jener Abend war wie ein Stoßvogel auf ihr Herz gefahren und hatte die blutigen Krallen noch nicht herausgezogen. Ihre Seele schien nur der Engel zu sein, der die entseelte Hülle eines Frommen hütet. Der Kammerherr begegnete dem Hofmedikus, als ob er von keinem Duellieren wisse. Was sonst Mütter tun, tat der Vater: er vergab jedem, der von Stande war und der die Tochter wollte. Der Antrag, den ihm Viktor endlich machte, frappierte ihn nur, weil er bisher gedacht hatte, dieser verschieb' ihn bloß wegen der Ungewißheit über Klotildens Erbschaft und Verwandtschaft. Seine Antwort bestand in unendlichem Vergnügen, in unendlicher Ehre etc. und andern Unendlichkeiten; denn bei ihm war alles eine; daher auch Platner mit Recht behauptet, der Mensch könne im Grunde bloß das Endliche nicht denken. Le Baut hätte die Tochter hergegeben, wenn er auch nicht gewollt hätte; er konnte ins Gesicht nichts abschlagen, nicht einmal eine Tochter. Auch konnte keiner kommen und um Klotilden ansuchen, der nicht in irgendeines seiner Projekte (seine vier Gehirnkammern lagen bis an die Decke davon voll) hineingepasset hätte. Natürlicherweise war ihm also ein Schwiegersohn jetzt am meisten erwünscht, da ihm etwan die Tochter gar mit Tod abgehen könnte, ohne daß er sie noch zu einem Springstab und Hebebaum seines Leibes gebraucht hätte – und da ihm zweitens das Duell-Gerede das Herz anfraß; nicht als ob er nicht durch gesunde wurmförmige Bewegungen die härtesten Dinge verdauet hätte, sondern weil er, wie gebildete Menschen ohne Ehre, bei kleinen Beleidigungen gern mit Lärmkanonen und Feuertrommeln erschien, um sich das Recht zu erschleichen, bei vollständigen, aber ergiebigen und mit Silberadern durchzognen Entehrungen mausestill dazuliegen. Das einzige, was der Kammerherr nicht gern sah, was er aber sogleich dadurch hob, daß er[1112] dem Hofmedikus das Wort (über die Tochter) gab, das war, daß er vorher das nämliche Wort (ingeheim) unserem Matz gegeben hatte. Da ihm der bald wiederkommende Lord mehr schaden und helfen konnte als der Minister: so brach er gern das alte Wort, um das neueste zu halten; denn nicht bloß den letzten Willen, sondern auch jeden kann der Mensch ändern, wie er will, und wenn er ein Mann von Wort ist, so wird er gern ganz entgegengesetzte Versprechungen tun, um sich zum Halten zu nötigen. Wenn das lügende Betragen des Kammerherrn nach solchen Entschuldigungen noch eine braucht: so hat er die für sich, daß er gewiß hoffte, Klotilde werde, wenn er sein Ja gegeben, Nein antworten und statt seiner wagen und – büßen. Wenigstens schützte er diese Hoffnung bei seiner zornigen Gemahlin vor und verwies sie auf Klotildens ehemaliges Nein, das unserem Viktor so schwere Stunden aufgelegt, und auf ihre Unveränderlichkeit. Ich wünschte, man hätte nachher sein Gesicht in der Verfassung versteinern oder in Gips abgießen können, in die es durch die Nachricht von Klotildens Ja geriet. Was konnte die Schwiegermutter, die Kammerherrin, die immer die Waffenträgerin und Liguistin des Evangelisten war, weiter dabei machen als ein freundliches Gesicht und die Bemerkung: niemand ist schwerer zu regieren als ein Ehemann, den jeder regiert.

Die Formalien der Verlobung selber warteten auf die Zurückkehr des Lords und auf andere Verhältnisse. – Lasset mich nichts sagen von der durch so viele Leiden veredelten Liebe dieses Paars. Wenn mit der Liebe sich gar die Menschenliebe noch vermählt (welches mancher gar nicht verstehen wird); – wenn im Atem der Liebe alle andere Reize des Herzens schöner werden, alle feine Gefühle noch feiner, jede Flamme für das Erhabne noch höher, wie in der Feuer- und Lebenluft jeder Funke ein Blitz und jedes Johanniswürmchen eine Flamme wird; – wenn beide Menschen einander selten mit den Augen, und oft mit den Gedanken begegnen; – wenn Viktor ein Herz fast zu behalten scheuet, dem er soviel kostet, soviel dunkle Tage, soviel Sorgen und fast einen Bruder; – und wenn Klotilde eben dieses zarte Scheuen errät und ihn für ihre Leiden belohnt: dann ists unmöglich, vielen Menschen[1113] den Umriß einer solchen Ätherflamme, geschweige die Farben derselben zu geben; für wenige ists unnötig.

Gegen eine geliebte Person fängt in jedem neuen Verhältnis, worein sie kömmt, die Liebe wieder von vornen und mit neuen Flammen an, z.B. wenn wir sie in einem andern Hause – oder unter neuen Personen finden – oder als Reisende – oder als Hauswirtin – oder als Blumengärtnerin – oder als Tänzerin – oder (das wirkt am meisten) als Verlobte. Das war Viktors Fall; denn von der Stunde an, wo der Wunsch der Neigung sich zu einem Gebot der Pflicht erhebt, und wo die teuere Seele sich und alle ihre Hoffnungen und den Zügel ihrer ganzen Zukunft in die geliebten Hände liefert, muß es in jedem guten Männerherzen rufen: »Nun hat sie niemand auf der Erde mehr als dich – nun sei sie dir heilig, o! nun schone und bewahre und belohne die liebe Seele, die an dich glaubt!« – Viktor wurde von diesem Verhältnis noch durch den Nebenumstand unaussprechlich gerührt, daß eben diese Klotilde, diese feste stolze Ball- und Himmelkönigin, die mit so vielen Kräften und so unabhängig über die männlichen Schlingen und unter den männlichen Lorbeerkränzen wegging, nun durch die Verlobung ihre Independenzakte mit sanftem Lächeln in Viktors Hände gibt und jetzo nichts mehr wünscht, als zu lieben und geliebt zu werden; für dieses holde Beugen einer so großen Gestalt wußte Viktor kein Opfer, keine Wunde, keine Gabe, die ihm groß genug geschienen hätte, es zu bezahlen. – So muß man lieben; und jedes neue Recht und Opfer, das den gemeinen Menschen erkältet, macht den guten wärmer und zarter.

Obgleich Viktor durch die Rechte seiner neuen Verwandtschaft ein mehr einheimisches und bequemes Leben unter seinen Schwiegereltern fand: so tat es ihm doch wehe, daß er täglich die unvergeßlichen Pfarrleute in ihrem Garten sehen mußte, und doch durch das eiserne Stabgeländer des vorigen Duells und der jetzigen Verlobung von ihren Herzen abgelöset blieb. Daher mußt' er auch die Briten und ihren fortwährenden Klub entbehren. Le Baut fand es aber vorsichtig: »denn man wisse von sicherer Hand, es seien Jakobiner und verkappte Franzosen.« –

Aber Klotildens Seele konnte den erratenen tiefen Schmerz[1114] ihrer Freundin, der Pfarrerin' nicht länger tragen; sie bestellte sie durch ein Blättchen zu einem Spaziergange. An der Warte trafen sich beide; und Viktor sah mit innerster Rührung, wie Klotilde sogleich die Hand seiner ältesten Freundin nahm und sie auf dem ganzen Weg nicht mehr aus ihrer gab.

Klotilde kam wieder mit einem froh erhelleten Angesicht und mit Augen, die sehr geweinet hatten, und mit himmlischen Zügen, in denen eine unnennbare, nicht sowohl heißere als weichere Liebe glänzte. Erst spät war sie ihrer Rührungen mächtig genug, um Viktor etwas von der Unterredung mitzuteilen: denn ich glaube zu erraten, daß es nicht alles war. Die Pfarrerin – erzählte Klotilde – empfing sie mit einer Miene voll drückender Schmerzen, aber weder mit Kälte noch Verdacht. Beide konnten anfangs gar nichts als weinen und sprachen nicht; Klotilde war noch mehr erweicht, und ihre Tränen flossen noch fort, als sie anfing, ihre Verlobung zu erzählen. Sie legte die Hand ihrer Freundin auf ihr Herz und sagte: »Jetzo wird unsere Freundschaft hart geprüft. Ich glaube an die Ihrige fort – glauben Sie an meine. – O bleibe, teure Freundin, nur diesesmal fest! Schwere Geheimnisse, über die ich kein Recht und wenig Aufschluß habe, bringen uns alle diesen grausamen Mißverständnissen so nahe. Nur diesesmal vertrauen Sie fest, daß ich und Sie so wenig unser Verhältnis gegeneinander ändern wie unsern Charakter.« – Hier sah die Pfarrerin sie mit einem großen Blicke, in dem noch die alte Liebe für Viktor nachglimmte, an und umarmte sie denn auf einmal mit trocknen Augen und mit diesen Worten: »Ja, ich vertraue auf Sie, tun Sie, was Sie wollen, und blieb' ich zuletzt die einzige Seele.« – Der letzte Zusatz hätte zu einer andern Zeit Klotilden beleidigt; ach jetzt konnt' ers nicht; o sie war froh, daß sie etwas zu verzeihen hatte.

Nach der Erzählung sagte sie ihrem Freunde, sie unternehme vielleicht, falls die Unsichtbarkeit und das Schweigen des Lords noch länger dauere, lieber die mühsame Reise zu ihrer und Flamins Mutter nach London, um diese als die Auflösung aller dieser gefährlichen Rätsel nach Deutschland zu bereden. – Ach konnte Viktors aufopferndes Herz eine Einwendung gegen fremde Aufopferungen[1115] machen? – Nein! sein Kummer wurde verdoppelt, aber auch seine Achtung und Liebe.

In dieser Lage kam an Klotilde ein kleiner Brief von Emanuel:


»Gestern abends kam mein Julius mit einem Korb voll Gartenerde zu mir und bat mich um Blumentöpfe und um Hyazinthen, weil er für beide die Erde bringe. Er hatte den Boden für seine Blumen von dem Hügel deiner Giulia geholt. – – Ich nahm sein weiß- und rotblühendes Angesicht, das der Federnelke mit dem roten Punkte gleicht, an meine Brust und sagte: ›Ach, wer wartet die Blumen des Menschen, wenn er vorüber ist?‹ Und ich meinte auch ihn mit seiner zarten Blüte, in welche der Schmerz nie seinen schweren Regen werfe! – O Viktor und Klotilde, wenn mich die Lilien der Erde betäuben und in den letzten Schlummer legen, so nehmet meinen blinden Julius auf, und diese Seele voll Liebe werde durch liebende Seelen behütet!

Klotilde! ich bitte oder wünsche jetzo von dir etwas, was du mir wohl schwerlich geben kannst. Ach komme am längsten Tage nach Maienthal, du schöne Seele! Kann es dein Herz nicht ertragen? Hast du nicht deine Giulia bis an das blinde Tor des Grabes begleitet und da ihre Seele auffliegen sehen und ihren Körper niederfallen! O wenn du und dein Freund in der letzten Stunde, wo das Leben seine schillernden Pfauenspiegel zusammenfaltet und sie farbenlos und schwer in das Grab einsenkt, bei mir blieben als die zwei ersten Engel der künftigen Welt! – Denn in der Minute, wo die ganze Erde wie eine Rinde vom Herzen abbricht, hängt das nackte Herz fester an Herzen und will sich erwärmen gegen den Tod, und wenn alle Bande der Erde abreißen, so blühen die Blumenketten der Liebe fort. O Klotilde! wie himmlisch schlösse sich vor deiner elysischen Gestalt mein Leben! Ich würde schon entfesselt auf den Flügeln der Ewigkeit um dich schweben, um dich anzublicken, und ich würde, wenn ich mit der ätherischen Hand nicht deine Tränen nehmen könnte, dein schweres Herz mit einer fremden Entzückung trösten! Ja, und wenn der Mensch im Vorhof der zweiten Welt erblindete, so würde deine Gestalt wie ein nachleuchtendes Sonnenbild vor meinen geschlossenen[1116] Augen bleiben! – O Klotilde, wenn du kämest! Ach, du kommst wohl nicht; und nur der Ewige, der die Stunden des zweiten Lebens zählet, weiß, wenn ich dich wiedersehe auf der zweiten Erde und wie groß auf ihr die Schmerzen der Sehnsucht sind. Und so lebe denn wohl und ziehe, hohe Seele, deine Bahn unter den Wolken hindurch – wenn ich deinen Freund erblicke, wirst du rührend vor mir stehen – und wenn ich an seinem Herzen sterbe, werd' ich für dich beten und zu Gott sagen: gib mir sie wieder, wenn auf ihrem Haupte der Blumenkranz der Erde groß genug ist – oder die Dornenkrone zu groß! – Klotilde, ändre dich nie, und dann frag' ich das Verhängnis nicht: wie lange wird sie drunten lächeln, wie lange wird sie drunten weinen? Ändre dich nie!

Emanuel.«


*


Sie fielen beide einander sanft ans Herz und schwiegen über ihre Gedanken; Emanuels Liebe verherrlichte die ihrige, und Viktor achtete seinen Freund und seine Freundin zu groß, um diese zu trösten. Er fragte sie gar nicht, wie sie Emanuels Bitten beantworte; er wußte, daß sie es versagen müsse, weil sonst ihr Herz neben dem geliebten bräche.

Da er endlich von ihr und St. Lüne schied, und da sie daran denken mußte, daß er in wenigen Tagen nach Maienthal gehe – und da in ihren und seinen Augen Tränen standen, die mehr als einen Schmerz bezeichneten, und die nicht der Mensch abtrocknet, sondern der Tod oder Gott; – so schauete Viktor sie unter dem Abschiede mit der stummen Frage an: »Sag' ich unserem Geliebten nichts?« – Klotildens Seele blieb unter Lasten am meisten aufrecht, und sie erschien nie größer als hinter Tränen, wie die Sterne am Himmel voll Regen lichter und größer herankommen; sie sah gen Himmel, gleichsam fragend: »Könntest du, Allgütiger, uns so tief zerschlagen?« – dann wog sie gepresset den schweren Schmerz – dann fand sie ihn zu groß für die Sprache – und zu groß für ihre Kraft – und sie glaubt' ihn nicht mehr und sagte doppelsinnig mit nassen Augen und mit doppelsinnigem Lächeln: »Nein, Viktor, wir sehen uns ja alle einmal wieder!«

Viktor ging nicht lange vorher fort, eh' die zwei gekrönten[1117] Badgäste mit einigem Gefolge ankamen. – Ich bemerk' es mit ebenso wenigem Groll, als Viktor dabei empfand, daß Agathe, ungeachtet des mütterlichen Beispiels, ganz, erstlich von Viktor, d.h. vom Antipoden und Antichrist ihres geliebten Bruders, abfiel; zweitens von Klotilden noch mehr.

– Es kann kund werden, daß ich den vorigen Brief Emanuels bloß darum in der ersten Auflage unterdrückte – denn in meinen Händen hatt' ich ihn frühe genug, so gut wie viele andere Dokumente dieser Historie, die gleichwohl (aus Gründen) niemals publizieret werden –, weil ich besorgte, er rühre; eine weiche Seele findet ohnehin zu viele Schmerzen in diesem Band! – Allein eben darum wollen wir nichts aus der ersten Ausgabe weggeben, was scherzt, und ich fahre demnach fort:

Wir Leser wollen wie Viktor uns vom Kammerherrn beurlauben, der mit seinen halbaufrechten Augenbraunen – bei der Nasenwurzel neigen sie einander sich in Gestalt des mathematischen Wurzelzeichens zu – mit wahrer verbindlicher Höflichkeit sich von uns trennt. Ich weiß, wenn wir fort sind, läßt er uns Gerechtigkeit widerfahren und macht zuviel aus uns; denn er verleumdet nie, weder aus Bosheit noch Leichtsinn, und wen er verleumdet, den hat er die ernsthafte Absicht zu stürzen, weil er lieber unglücklich als schwarz macht. – Als ich ihn sich so bücken sah gegen uns: verfertigte ich in Gedanken eine halbe Satire auf ihn, wovon das Wahre und Ernsthafte das sein mag: daß die Menschen wirklich dazu erschaffen sind, sich so krumm zu machen, wie der spiritus asper ist. Ich baue eben nicht darauf viel, daß Geometer geschrieben haben, wenn die Götter eine Gestalt annähmen, so müßt' es die vollkommenste, die eines Zirkels sein; ich könnte zwar daraus folgern, ein krummer Rücken sei wenigstens eine Annäherung zur Göttergestalt, weils ein Bogen aus einem Zirkel sei – aber ich mag nicht; denn das Physische ist Kinderei dabei und nur insofern von Belang, als es das innere Krümmen und Kriechen der Seele teils anzeigt, teils (z.B. durch Verengerung der Brust) befördert. Sogar am Hofe würde man das äußere Krümmen erlassen, wenn man gewiß wissen könnte, daß das edlere, innere der Denkart da wäre, ohne das Zeichen; denn[1118] da nach Kant Unterwürfigkeit und Niederschlagung unsers Eigendünkels die Foderung der reinern und der christlichen Moral ist: so muß einer, der gar keine moralischen Vorzüge hat, mit dem Selberbewußtsein davon noch tiefer nieder als zur Demut, die schon der Tugendhafte hat, er muß zu dem sinken, was ich ein edles Kriechen nenne. Ich gestehe, ich verachte die Übung nicht, die darin die kleinen Regeln der Lebensart gewähren, die ja ohnehin nichts sein soll als die Tugend in Kleinigkeiten, die Regeln nämlich, daß man sich bückt, wenn man widerspricht – wenn man lobt – wenn man eine Beleidigung erfährt – wenn man eine antut – wenn man den andern bückt – wenn man gerade eben des Teufels werden möchte. Aber gut ists, daß eine solche Tugend der Krümmung ihre eigenen Exerzierplätze hat und nicht vom Zufall abhängt. Am Hofe würde ein Mensch mit geradem Leibe und Geiste als höfisch-tot ausgeschossen werden, wie ein Krebs mit einem geraden Schwanze' den nur ein krepierter führet. Wenn sonst die Einsiedler niedrige Zellen erwählten, um nicht aufrecht zu stehen: so braucht der Weltmann dies nicht; ihn drücken die hohen Speisesäle, die Lusttempel, die Tanzsäle desto tiefer nieder, je höher sie sind. – Es wäre schlimm, wenn diese so wichtige Tugend der Niederbückung erst eine besondere geistige oder körperliche Stärke, die sich ja niemand geben kann, voraussetzte; aber gerade umgekehrt will sie nur Schwäche haben, welches bei Pferden nicht so ist, die den Schwanz nicht mehr niederbringen, wenn dessen Sehnen abgeschnitten sind. Wenn die Pharisäer Blei in den Mützen führten, um sich das Bücken zu erleichtern:107 so tut das Blei, das man auf die Welt bringt und das im Kopfe liegt, vielleicht noch größere Dienste. Daher ists eine schöne Einrichtung, daß aus großen Seelen, denen wie langen Staturen das Bücken sauer fällt, zum Glück (aber zu ihrer Strafe) nichts wird, anstatt daß mittelmäßige, die sich nichts daraus machen, gedeihen und eine schöne Krone treiben; so sah ich oft beim Brotbacken, daß jeder mäßige Laib im Backofen sich schön erhob und wölbte,[1119] der große aber blieb platt und miserabel sitzen. – Wir wären aber bedauernswürdig, wenn eine Tugend, die den Wert des bürgerlichen Menschen ausmacht, die Tugend, nicht bloß wie Kinder zu werden, sondern wie Fötus, die sich im Mutterleibe zusammenstülpen, wenn diese nur an dem höchsten Orte gediehe, wie man fast denken sollte, da der Hofmann nach dem Falle auf seinem Landgute schon wieder aufrecht geht – anstatt daß die Schlange vor dem Falle und unter dem Verführen nicht kroch. – Allein in allen bürgerlichen Verhältnissen sind Erziehanstalten zu Krümmlingen vorhanden; überall streckt sich in der Luft bald ein geistlicher, bald ein weltlicher Arm mit Händen aus, die uns ordentlich einkrempen, und noch höher sind die allerlängsten angebracht, die über ganze Völker reichen. Der Gelehrte selber bückt sich am Schreibepult unter der Geburt der Zueignungen und Hofschriften und Urtel. Durch das bloße graue Alter reift sowohl der Körper zum verknöcherten Bücklinge als die Seele. Und die niedrige Geistlichkeit arbeitet sich, weil sie immer niederwärts ins Grab sieht, in die gekrümmte Stellung hinein. – Ich schließe mit dem Troste, daß Bücken Aufgeblasenheit nicht ausschließe, sondern ein; da eben der Zirkel, dessen Ausschnitt man wird, unzählig um die geschwollne Kugelfläche läuft.....

Ich würde wahrhaftig dieses Extrablatt eines überschrieben haben – so daß es also der Leser hätte überspringen können –, wenn ich nicht gewollt hätte, daß ers läse, um sich zu zerstreuen und die trüben Stunden meines Viktors leichter mit ihm auszudauern. Denn jeder Glockenschlag ist der aus einer Totenglocke gehende Totenmarsch seiner schönern gescheiterten Stunden.

Noch am Abend, da er in Flachsenfingen eintrat, kamen ihm ebenso fatale als wahrscheinliche Geschichten zu Ohren: Matz hatte dem Apotheker viel erzählt; aber dasmal pflicht' ich seinen Sagen bei.

Der Pfarrer hatte sich nämlich, sobald er die Verlobung vernommen, auf den Weg in die Stadt gemacht, um Mordtaten und Duelle seines Sohnes zu hintertreiben. Da unter dem Ankleiden nicht augenblicklich seine ganze Reiseuniform um ihn lag, so warf er seiner Familie leichte Rötelzeichnungen von den blutigen[1120] Auftritten und Blutgerüsten hin, auf die er sich, sagt' er, Rechnung mache, da er wahrscheinlich wegen des Anziehens zu spät ankomme. Der eingeschrumpfte Stiefel, den Appel am Feuer ein wenig abgetrocknet hatte, war nicht an das Bein zu bringen – Eymann keuchte – zerrete – »es ist möglich,« sagt' er, »daß sie jetzt schon einander zu Leibe gehen«; endlich ließ er die Arme kraftlos zurückfallen und setzte sich ruhig und aufrecht fest und wartete schweigend auf Anfeuern und Anfragen. Da nichts kam, sagt' er ergrimmt: »Welcher Satan nun in meinem Hause mir den Stiefel so hat einlaufen lassen (in einen ledernen Zopf, durch ein Nadelöhr wollt' ich den Fuß treiben, aber darein nicht), der hat den Mord meines Kindes auf seiner Seele. – Ist denn kein Unglückkind da, das mir nur die Ferse mit ein wenig Schmierseife poliert?«- Unter dem Einfahren sah er Appeln noch eifrig an seinem Halbhemd platten: »Genug, Appel, recht gut!«- sagt' er – »ich knöpfe mich wahrlich nicht auf.« – Sie glitt auf der Platte, dem Schrittschuh ihrer Hand, leicht dahin. »Tochter, das Hemd! wünscht dein Vater. Das Leben deines eignen Bruders wird von dir hasardiert – es ist so viel, als gibst du ihm noch einen Gnadenstoß.« Sie fuhr auf ihrem Handschlitten nur noch einmal behend über das Ganze und reichte ihms dann gern.

Unterweges entwarf sich der Kaplan einen haltbaren Geschäftgang bei der Sache. Er wollt' ihm erstlich nichts von der Verlobung eröffnen – dann wollt' er ihm nur den Bußtext über den Maienthaler Zweikampf lesen – dann ihm die Urfehde oder den Eid, zu ruhen, abgewinnen – und erst zuletzt mit dem Bericht hervorbrechen. Unter dem Überdenken des Geschäftganges und der Gefahr lief er sich in eine immer heißere Angst hinein. So wie er sich und einen Patienten, der ein leichtes Ohrenbrausen hatte, einmal durch langes Folgern so weit hinauftrieb, daß sie beide in der nächsten Minute auf Schlagfluß und halbseitige Lähmung aufsahen: so benahm er sich durch eine malerische Behandlung der einzelnen Umstände eines gedenklichen Zweikampfs zuletzt so sehr alle Zweifel über einen schon vorgegangnen, daß er mit der festen Meinung unter dem Stadttor ankam, der Regierrat liege entweder in Ketten oder auf der Bahre. »Gott sei Dank, daß ich[1121] dich ohne Wunden sehe und ohne Ketten!« entfuhr ihm beim Eintritte; und er hätte beinahe seinen ganzen Geschäftgang verdorben, oder doch umgekehrt. Flamin bezog es auf das erste Duell: Eymann konnte desto leichter der Prozeßordnung und Aderlaßtafel seiner Maßregeln nachkommen und sich sozusagen mit dem Duelle duellieren. Der schweigende Sohn setzt' ihm nichts entgegen als – Weißbier. Unter der Anschaffung hatte der Pfarrer an allen Stöcken den Knopf gezogen, um zu sehen, ob es keine Stockdegen wären. Ein Pistolenfeuerzeug blieb ihm von weitem verdächtig. Eine nahe Doppelflinte an der Wand entzog ihm mit dem auf ihn gerichteten – Schafte viel von seinem Mut. Flamin entschuldigte seine Sprachlosigkeit mit der juristischen Überfüllung und Überfracht seines Kopfs und zeigte auf den Stoß Kriminalakten vor ihm. Als er ihm einen Erzählauszug daraus geben mußte und als natürlich die Schlachtwörter Kerker, Blutschuld, Richtschwert wie ein zischender Kugelregen um Eymanns Ohren schweiften: so streckte sich die Angst, die er durch die schnellere Dusche des Weißbiers reizte, so gewaltig in ihm aus, daß die Doppelflinte in die Kammer gehangen werden mußte: »Ich habe«, sagt' er, »nichts davon, wenn sie losbrennt und zerspringt und mir das Flintenschloß ins Gesicht sprengt, oder wenn der Schaft mich gar umbringt!« Jetzt fing er gerührt und trunken zugleich zu weinen und zu ermahnen an: daß ein Mensch an die fünfte Bitte im Vaterunser denken müsse – daß ein Landgeistlicher mit schlechtem Erfolge seinem geistlichen Schafstall Versöhnung predige, wenn er seinen Sohn in der Stadt habe, der unter der Predigt sich schießet – und daß Flamin nie sagen solle, er sei sein Sohn gewesen, wenn er in einem Duelle entweder umkomme oder umbringe. – Bei nichts fuhr in Flamin der Sturmwind seines Zorns so leicht aus der Höhle als bei einer kläglichen Stimme und bei langen Religionedikten: »Um Gottes willen,« schrie Flamin, »lassen Sie es nun genug sein – Gott soll mich strafen, in alle Ewigkeit will ich verloren sein, ich schwör's Ihnen, rühr' ich ihn nur noch an.« Dieser entfahrne Eid war herrlicher Lederzucker und weiches Gefrornes für den heißen Hofkaplan, der aus Vergessen seines Geschäftganges jetzo in der Meinung stand, die Verlobung[1122] sei dem Regierrate schon ganz gut bekannt: »Meinst du nicht, Sohn,« (sagt' er froh) »daß ein solcher Schwur einen besorgten Vater wie Spatregen erfrischt und letzt, zumal da ich mich seit ihrer Verlobung mit ihm gar nichts Bessers zu versehen hatte als Mord und Totschlag? Hab' ich recht oder nicht?« – Flamin hob durch eine einzige Frage die Decke von diesem mörderischen gewaffneten Gespenste seines Herzens ab – und nun hörte er seinen Vater nicht mehr; bleich, voll Krämpfe saß er still da – die Lehne des Stuhls knarrte unter seinem Druck – die Uhrkette wickelte und schnürte er um seine Finger und riß sie ab und klemmte das Trumm wieder um den wunden Finger und zerbröckelte es – in seinen gläsernen Augen standen zwei dicke feste kalte Tropfen – sein Herz kroch leer und entkräftet vor einer nahen gräßlichen Todeskälte zusammen, die allemal, wenn eine Freundschaft in unserer Brust gemordet wird, dem brennenden Grimme darüber vorausgeht. – Ach welchen von uns dauert die unglückliche verlassene Seele nicht? – Eymann schied getäuscht und hielt diese Ruhe für bloße Ruhe und die erstickte gebrochne Stimme für Rührung.

Und in dieser blutigen Lage fand ihn Matthieu, der eben gekommen war, um dem Regierrate (aus einem Handbriefchen der Kammerherrin) Viktors Sieg über sie alle, gleichsam mit 24 blasenden Postillons, zu melden. Dieser setzte nun erst den Eisberg in einen Vulkan um und machte, daß Flamin in eingesperrtem Grimm gern einen Weltteil an dem andern zersplittert hätte.

Viktor hörte jetzt einige Tage nichts. Flamin sperrte sich ein. Matthieu besuchte ihn oft, aber nicht des Apothekers Haus. Das gekrönte Paar reisete endlich ins St. Lüner Bad.

So blieb alles bis an den Morgen, wo Viktor vom Apotheker Abschied nahm, um nach Maienthal vor den Vorhang einer schweren Szene zu gehen. Hier konnte sich der Apotheker das Vergnügen nicht versagen, dem Hofmedikus seines zu nehmen, indem er die (wahrscheinlich falsche) Botschaft brachte, der Hofjunker habe den Kammerherrn gefordert wegen des über Klotilden gebrochnen Versprechens. Wenig oder nichts ist an der Botschaft schon darum, weil der Apotheker nur sein Eigenlob loshusten und in[1123] das Lob Viktors verkleiden wollte, daß dieser mit so unendlicher Feinheit seine neulichen Winke, den Evangelisten zu untergraben, zu vollführen gewußt. Die Winke waren, wie man sich erinnert, die zwei Vorschläge, der Liebhaber der Fürstin und der Ehemann Klotildens zu werden, um den Fürsten zu gewinnen und, wie ein Schwein die Klapperschlange, so Matzen ohne Schaden zu verschlucken. Man muß der von einem Wurmstock von Schmerzen angenagten Seele Viktors vergeben, daß er aufbrauste und mit einem Auge voll tiefster Verachtung Zeuseln anfuhr: »Ich weiß nicht, wer verdiente, solche Vorschläge anzuhören – wenns nicht einer ist, der sie machen kann.«

Der Korrespondent hört traurig und kurz mit den Worten auf: »Abends kam Viktor spät und mit geschwollnen Augen in Maienthal an, um zu sehen, ob am andern Tage der schönste Lehrer und der größte Freund verwelke.« – – Wir können uns alle denken, wie die Umarmung eines Geliebten wenige Schritte von seinem Grabe sein mußte. Der Freund, der uns sein Sterben drohet, greift schmerzhaft unsere Seele an, auch wenn wir es bezweifeln. Wir können uns alle das nasse Auge denken, das Viktor über die noch blühende Stätte seines verwelkten Rosenfests geworfen. – Was ihn tröstet, ist die Unwahrscheinlichkeit des prophezeiten Sterbens, da Emanuel sich wie sonst befindet, und da der Selbermord noch unmöglicher bei diesem frommen Geiste ist, der den Selbermörder schon längst mit dem Hummer verglich, der die eine Schere, die er selber mit der andern aus Stumpfsinn zerknirscht und kneipt, nicht herauszieht, sondern absprengt. – Möge mir der Leser zur Beschreibung des längsten Tages108, die ich einsam unter der erhebenden Stille der Nacht machen werde, ein Herz wie des Indiers mitbringen, das gleich alten Tempeln stumm und dunkel, aber weit und voll heiliger Bilder ist![1124]

105

So hieß der römische Sklave, der den Kindern die Schulbücher nachtrug.

106

So nannte Steevens sein satirisches Kollegienlesen über Köpfe aus Pappendeckel, dem halb London zulief.

107

Die Pharisäer taten es – wie gewisse Juden, die auch immer gekrümmt einherzogen und darum Krümmlinge hießen –, um Gott, der die ganze Erde ausfüllt, ein wenig Platz zu machen. Altes und neues Judentum. 2. B. S. 47.

108

So nennte Emanuel immer den Johannistag, ob wohl nicht ganz astronomisch-richtig.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 1, München 1959–1963, S. 1105-1125.
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