1. Über die natürliche Magie der Einbildungskraft

[195] Gedächtnis ist nur eine eingeschränktere Phantasie. Erinnerung ist nicht die bloße Wahrnehmung der Identität zweier Bilder, sondern sie ist die Wahrnehmung der Verschiedenheit des räumlichen und zeitlichen Verhältnisses gleicher Bilder. Folglich breitet sich die Erinnerung über die Verhältnisse der Zeit und des Orts und also über Reih und Folge aus; aber bloßes Ein- und Vorbilden stellet einen Gegenstand nur abgerissen dar.

Die fünf Sinne heben mir außerhalb, die Phantasie innerhalb meines Kopfes einen Blumengarten vor die Seele; jene gestalten und malen, diese tut es auch; jene drücken die Natur mit fünf verschiedenen Platten ab, diese als sensorium commune liefert sie alle mit einer. Die Phantasie ist zwar nicht der matte Nachklang der Sinne, wie Helvetius meint, aber doch das Unisono derselben. Wie die Fühlfäden der Sinnennerven zu den Empfindungen, so verhalten sich die Gehirnkügelchen (oder welches körperliche adjuvans einer annehmen will) zu den innern Bildern; und ob wir gleich nur diese zu erzeugen, und jene zu empfangen glauben: so ists doch bei den Empfindungen falsch, die wir, wie Kant genug erwiesen, ebensogut (nach und mit einer unbegreiflichen plastischen Form in uns) erzeugen als innere Bilder. Da der Spielraum der Sinne enger ist als der Phantasie: so entsteht die Täuschung, daß wir uns jene nur in den Ketten des Körpers und diese nur in den Zügeln des Willens denken, da wir doch ebensowohl in einem fort phantasieren als empfinden müssen. Die Empfindung stellet mit dem Kolorit der Schmelz- oder Musivmalerei z.B. einen Menschen vor mich, die Phantasie tuts mit der Blässe der schwarzen Kunst oder (in einem Dichter) mit aqua tinta. Daß beide sich bloß im Kolorit unterscheiden, sieht man am meisten[195] dann, wenn die Lebhaftigkeit der Phantasie diesen Unterschied der Farbengebung aufhebt – ich meine im hitzigen Fieber, wo der bleiche Leichnam (ich meine die Vorstellung von einem Menschen) in dem Kopfe mit so viel Lebensgeistern und Blut ausgesprützet wird, daß ihn der Fieberkranke wirklich als einen Lebendigen außer seinem Kopfe zu erblicken meint; und dann sieht die Vorstellung so lebhaft und ganz so aus wie eine Empfindung.

Allerdings ist noch ein Unterschied und ein größerer – denn ich suche mit jenen Ähnlichkeiten nicht die Phantasie zu verkörpern, sondern bloß die Sinne zu vergeistigen –; es ist nämlich der, daß unser bekanntes Ich die Sukzession in der Phantasie (wie das Simultaneum in der Empfindung) ordnet und regelt, sogar im Chaos des Traums, da die drei Gesetze der Ideenassoziation bloß vom Körper auf keine Weise beobachtet werden könnten.

Zufolge jener Ähnlichkeit ist also Stärke der (fünf-sinnigen) Empfindung immer um und neben der Stärke der Phantasie (dieser transzendenten und verpflanzten Empfindung). Daher sind beide in Wilden, Landleuten und Weibern kräftiger und feiner: denn Schauspiele, Erzählungen, Töne und Träume ziehen tiefere Furchen in ihren Seelen. Auch der Rausch macht zugleich die Phantasie und die Sinne schärfer. Freilich sind oft am dichterischen Genie alle äußere Sinnen-Nerven verdorret und abgewelkt; aber der Wuchs des einen Zweiges hatte nur die andern ausgesogen, so wie ja auch die Sinne – z.B. Aug und Ohr – einander gegenseitig berauben und erstatten. Unter den Wilden wird bloß das Genie die schärfsten Sinne haben.

Jetzt hab' ich zweierlei zu tun. Ich muß erweisen, wie diesem allen ungeachtet die Phantasie uns in ihren Ländereien mit Zauberspiegeln und Zauberflöten so süß betören und so magisch blenden könne; – zweitens muß ich vorher die meisten dieser magischen Kunststücke aufzählen.

Alle Personen, die bloß auf dem Zauberboden der Phantasie stehen, verklären sich unbeschreiblich vor uns, z.B. Tote – Abwesende – Unbekannte. – Der Held einer Biographie sei uns noch so treu vorgezeichnet: gleichwohl fängt ihn unsere metamorphotische [196] Einbildung größer auf, als unsere plane Netzhaut ihn malen würde, wie in der Malerei ein treu abgemalter Menschenkopf größer scheint als sein Urbild von gleichem Quadratinhalt. Daher stehet der Landmann auf dem elektrischen Isolatorium des Idyllendichters strahlend und mit einem Heiligenschein umzogen; ebenso steht auch der Wilde in Rousseaus Kopf und die Kinder in jedem dichterischen.

So zieht das Fernrohr der Phantasie einen bunten Diffusionsraum um die glücklichen Inseln der Vergangenheit, um das geliebte Land der Zukunft.

Die Personen aller dramatischen Gedichte, selber die bösen, empfangen in ihrem Dunst- und Zauberkreise Reize, die ihnen alle im kahlen lichten gemeinen Leben abfallen würden, wenn sie darin erschienen.

Der Traum ist das Tempe-Tal und Mutterland der Phantasie: die Konzerte, die in diesem dämmernden Arkadien ertönen, die elysischen Felder, die es bedecken, die himmlischen Gestalten, die es bewohnen, leiden keine Vergleichung mit irgend etwas, das die Erde gibt, und ich habe oft gedacht: »Da der Mensch aus mancherlei schönen Träumen erwacht, aus denen der Jugend, der Hoffnung, des Glücks, der Liebe: ach könnt' er nur – sie wären ihm dann alle wiedergegeben – in den schönen Träumen des Schlummers länger bleiben!«

Noch größer ist die phantasierende Kraft, wenn sie auswärts reicht und die Gegenwart selber zum Marmorblock oder Teige ihrer Gebilde macht. Ich will mehr als ein Beispiel geben. Das erste ist nicht das deutlichste: bei rauschenden Freudenfesten, auf Bällen, auf nächtlichen Freudengelagen schmückt sich jeder Augenblick mit dem Widerschein des nächsten künftigen; und solange dieses dauert, vermengen wir den süßen Durst des Herzens mit dem Trank; – denn der Mensch hat so wenig, daß er nur froh ist, wenn er stark begehren kann, und daß er die Stärke seiner Wünsche zu ihren Befriedigungen rechnet. – Aber es kommt eine trunknere Stunde, wo im langen Freudengelage unsere Phantasien unsere Sinnen übertönen, wo die Gegenwart mehr zum Traume, die Musik mehr zum Echo ermattet und wo wir im wirbelnden[197] bunten Rauche um uns schwindeln und dann im Schwindel unsere Umkreisungen für fremde nehmen; dann sind wir gesättigt und voll, ach! fast vor Ermüdung! –

Im Rausche dringen die Wolken der innen brennenden Räucherkerzen hinaus und legen sich außen an den Gegenständen an und geben ihnen eine vergrößerte, abgeründete, zitternde Gestalt.

In der Liebe ist das Amalgama der Gegenwart mit der Phantasie noch inniger. Schaue die Gestalt an, die du einmal geliebt hattest und die nun mit allen ihren Reizen nicht einmal den idealischen Zauber einer Bildsäule für dich hat! Warum sonst ist sie jetzt ein lackierter Blumenstab für dich, als bloß weil alle Rosen, die deine Phantasie an diesem Stabe hinaufgezogen, nun ausgerissen sind? – Ich wünschte, der Leser liebte eine Schwester, die besondere Familienähnlichkeit mit ihrem Bruder hätte, den er nicht leiden könnte: er würde dann am leichtesten das geliebte Gesicht von dem Brautschmuck, womit seine Phantasie als Folienschlägerin es blasoniert und übergoldet, trennen können. Kurz eine geliebte Person hat den Nimbus einer abwesenden – einer gestorbenen – einer dramatischen. –

Noch mehr. Leute, deren Kopf voll poetischer Kreaturen ist finden auch außerhalb desselben keine geringern. Dem echten Dichter ist das ganze Leben dramatisch, alle Nachbarn sind ihm Charaktere, alle fremde Schmerzen sind ihm süße der Illusion, alles erscheint ihm beweglich, erhoben, arkadisch, fliehend und froh, und er kommt nie darhinter, wie bürgerlich-eng einem armen Archivsekretär mit sechs Kindern – gesetzt er wäre das selber – zumute ist. Denn ist er selber bürgerlich unglücklich, z.B. ein Träger des Lazarus-Orden: so kommt es ihm vor, als mach' er eine Gastrolle in Gays Bettleroper; das Schicksal ist der Theaterdichter, und Frau und Kind sind die stehende Truppe.

– Und wahrlich, der Philosoph und der Mensch dürfen hier nicht anders denken als der Dichter; und der, für den das äußere (bürgerliche, physische) Leben mehr ist als eine Rolle: der ist ein Komödiantenkind, das seine Rolle mit seinem Leben verwirrt und das auf dem Theater zu weinen anfängt. Dieser Gesichtspunkt, der metaphorischer scheint, als er ist, erhebt zu einer Standhaftigkeit,[198] die erhabener, seltener und süßer ist als die stoische Apathie und die uns an der Freude alles empfinden lässet, ausgenommen ihren Verlust.

Belesene Mädchen, die im Sommer aufs Land gehen, machen aus den Landleuten wandelnde Geßnerische Idyllen-Ideale. Die Landleute idealisieren ihrerseits wieder die Mädchen zu Prinzessinnen der Marionetten und der Historienbücher hinauf. Und ebenso hab' ich im dreizehnten Kapitel der vorigen Biographie den Pfarrer und den mir sonst verhaßten Zwinger und Schuldturm des bürgerlichen Lebens gepriesen, weil ich an ihm und an seinem Notstall schon den biographischen und idealischen Mondschein glimmen sah, den ich nachher auf ihn warf Auch im Komischen kann man wirkliche Toren, die man handeln sieht, insgeheim zu komischen Akteurs und zu gut durchgeführten komischen Charakteren idealisieren. – –

Woher kömmt nun, da die Phantasie nur der goldene Abendwiderschein der Sinne ist, dieser Reiz eigner Art, der an Träumen, Abwesenden, Geliebten, entrückten Zeiten und Ländern, an Kinderjahren und – was ich kaum zu nennen brauchte – an den von den Dichtern in die Welt geschickten Blumengöttinnen und Blumenparterren haftet? – Wenn wir heraushaben, warum uns die Dichter gefallen: so wissen wir das übrige auch.

Davon könnte man mehrere Ursachen angeben, die richtig wären, ohne zureichend zu sein. Z.B. Wir denken das ganze Jahr weniger mit Bildern als mit Zeichen, d.h. zwar mit Bildern, aber nur mit dunklern kleinern, mit Klängen und Lettern: der Dichter aber rücket nicht nur in unserem Kopfe alle Bilder und Farben zu einem einzigen Altarblatte zusammen, sondern er frischet uns auch jedes einzelne Bild und Farbenkorn durch folgenden Kunstgriff auf. Indem er durch die Metapher einen Körper zur Hülle von etwas Geistigen macht (z.B. Blüte einer Wissenschaft): so zwingt er uns, dieses Körperliche, also hier »Blüte«, heller zu sehen, als in einer Botanik geschähe. Und wieder umgekehrt gibt er, wie vermittelst der Metapher dem Körperlichen durch das Geistige, ebenso vermittelst der Personifikation dem Geistigen durch das Körperliche höhere Farben.[199]

Ferner könnte man – und kann auch – sagen: der dramatische Dichter überwältigt uns durch die Verwandlung der Wochen in Minuten und erweckt, indem er die tragische, vielleicht über Jahre hingesponnene Geschichte in wenige Stunden zusammenzieht, unsere Leidenschaften bloß darum, weil er ihnen gleicht, da sie auch wie Taschenspieler und Heerführer uns durch Geschwindigkeit berücken.

Aber ich eile zu dem, was mich befriedigt. Die Arme des Menschen strecken sich nach der Unendlichkeit aus: alle unsere Begierden sind nur Abteilungen eines großen unendlichen Wunsches. Es ist sonderbar, daß man von der Phantasie, deren Flügel einen unendlichen Raum und eine unendliche Zeit bedecken wollen, weil sie über jede endliche reichen, und von der Vernunft, die keine endliche Kausalreihe denken kann, nicht weiter fortgeschlossen hat auf den Willen. Alle unsere Affekten führen ein unvertilgbares Gefühl ihrer Ewigkeit und Überschwenglichkeit bei sich – jede Liebe und jeder Haß, jeder Schmerz und jede Freude fühlen sich ewig und unendlich. So gibt es auch eine Furcht vor etwas Unendlichen, wovon die Gespensterfurcht, wie ich anderswo42 bewiesen, eine Äußerung ist. Wir sind unvermögend, uns nur eine Glückseligkeit vorzuträumen, die uns ausfüllte und ewig befriedigte. – Dein Genius entführe dich und lege dich in der schönsten Pappelinsel dieser Erde nieder – er ziehe Lusthaine durch die Insel, und Gärten um die Haine, und Blumen um die Gärten – er öffne dein Auge und zeige dir alles, was du hast: einen stillen Himmel und zwei Menschen, die du liebst – er fliege in dein Herz zurück und wohne darin unter dem Namen der Tugend und Weisheit; – Glücklicher! wirst du niemals seufzen? Und steigt dein erster Seufzer als Übersättigung auf, mit der sich ja kein Wunsch, kein Hunger gesellen könnte? – All unser Ringen nach Freude soll nur unser Schmachten übertäuben: wir liegen brütend auf der kalten Erde wie die Vögel auf Kreide, nicht um etwas auszubrüten, sondern um die Bruthitze der siechen Brust zu lindern.

Was nun unserem Sinne des Grenzenlosen – so will ich immer der Kürze wegen sagen – die scharfabgeteilten Felder der Natur[200] verweigern, das vergönnen ihm die schwimmenden nebligen elysischen der Phantasie. Kant setzet schon das Erhabene der Dichtkunst und der Natur in ein angeschauetes Unendliche. Die Natur zwar selber als Sinnengegenstand ist nicht erhaben, d.h. unendlich, weil sie alle ihre Massen wenigstens mit optischen Grenzen scharf abschneidet, das unabsehliche Meer mit Nebel oder Morgenrot, den unergründlichen Himmel mit Blau, die Abgründe mit Schwarz. Gleichwohl sind das Meer, der Himmel, der Abgrund erhaben; aber nicht durch die Gabe der Sinn der Phantasie, die sich an die optischen Grenzen, an jene scheinbare Grenzenlosigkeit hinstellet, um in eine wahre hinüberzuschauen. Man könnte fragen: warum tut sie es nicht bei jedem Blau, bei jedem Schwarz? – Man könnte antworten: weil nicht jedes Blau einen so großen Gegenstand umschließet. Man könnte wieder fragen: warum denn eine dem Meere an Größe gleiche Blumenebene sich mit Nebeln schließe, ohne so erhaben zu sein wie das Meer. Die letzte Antwort aber bleibt: weil alles Große einfärbig sein muß, da jede neue Farbe einen neuen Gegenstand anfängt. Im einfachen Blau des Himmels wiegt die Seele ihre Flügel auf und nieder – und aus dem letzten Stern stürzt sie sich mit ausgebreiteten Schwingen in die Unermeßlichkeit.

Stelle dir ein Arkadien vor: in dem, worauf du trittst, halten überall Herkules-Säulen deine Genüsse auf und lassen bloß deine Wünsche über die Säulen fliegen; aber in einem dichterischen kann ja dein Wunsch nicht größer sein als dein Bezirk, und das, was du wünschest, hast du ja eben vorher erschaffen. –

Der Steig der Wirklichkeit ist nicht bloß steiniger, sondern auch länger als der der Phantasie, die über ihm schweifet; aber wenn du einen Dichter liesest, so hast du noch dazu die Freude, den blumigen Irrgang einer fremden Phantasie mit deiner eignen zu durchkreuzen. Wie wird die Phantasie, die schon die Wirklichkeit aufschmückt, erst Träume verzieren! –

Wenn ich oft meiner Phantasie in schönen Landschaften erlaubte, Landschaftsmalereien zu machen für mich, nicht für das Publikum: so fand ich – und auch sonst –, daß die aus mir aufsteigenden Fluren nur Inseln und Erdstriche aus der längst versunknen[201] Kindheit waren. Der Traum führet auch (wie schon Herder bemerkt) die längst weggeschobenen bunten Glasmalereien der Kindheit wieder in die dunkle Kammer des Schlafes zurück. Die Kindheits-Erinnerungen können aber nicht als Erinnerungen, deren uns ja aus jedem Alter bleiben, so sehr laben: sondern es muß darum sein, weil ihre magische Dunkelheit und das Andenken an unsere damalige kindliche Erwartung eines unendlichen Genusses, mit der uns die vollen jungen Kräfte und die Unbekanntschaft mit dem Leben belogen, unserem Sinne des Grenzenlosen mehr schmeicheln.

Das Idealische in der Poesie ist nichts anders als diese vorgespiegelte Unendlichkeit; ohne diese Unendlichkeit gibt die Poesie nur platte abgefärbte Schieferabdrücke, aber keine Blumenstücke der hohen Natur. Folglich muß alle Poesie idealisieren: die Teile müssen wirklich, aber das Ganze idealisch sein. Die richtigste Beschreibung einer Gegend gehöret darum noch in keinen Musenalmanach, sondern mehr in ein Flurbuch – ein Protokoll ist darum noch keine Szene aus einem Lustspiel – die Nachahmung der Natur ist noch keine Dichtkunst, weil die Kopie nicht mehr enthalten kann als das Urbild. –

Die Poesie ist eigentlich dramatisch und malt Empfindungen, fremde oder eigene: das übrige – die Bilder, der Flug, der Wohlklang, die Nachahmung der Natur – diese Dinge sind nur die Reißkohlen, Malerschatullen und Gerüste zu jener Malerei. Diese Werkzeuge verhalten sich zur Poesie wie der Generalbaß oder die Harmonie zur Melodie, wie das Kolorit zur Zeichnung. Dazu setz' ich nun weiter: alle Quantitäten sind für uns endlich, alle Qualitäten sind unendlich. Von jenen können wir durch die äußern Sinne Kenntnis haben, von diesen nur durch den innern. Folglich ist jede Qualität für uns eine geistige Eigenschaft. Geister und ihre Äußerungen stellen sich unserem Innern ebenso grenzenlos als dunkel dar. Mithin muß das in uns geworfene Sonnenbild, das wir uns vom Dichter machen, vergrößert, vervielfältigt und schimmernd in den Wellen zittern, die er selber in uns zusammentrieb.43[202]

Aber das wars nicht, worauf ich kommen wollte, sondern darauf, wodurch und womit die schönen Künste auf uns wirken. Durchaus nur mit und durch Phantasie: das, was die Gebilde der Malerei und Plastik von andern Körpern absondert, muß ein besonderes Verhältnis zu unserer Phantasie sein. Dieses Verhältnis kann nicht auf die bloße kahle Vergleichung hinauslaufen, die wir zwischen dem Ur- und Abbilde anstellen und aus der wir nur das matte Vergnügen besiegter Schwierigkeiten schöpfen könnten. Sulzer sagt: ein Gemälde gefället uns, aber nicht das treuere Bild im Spiegel, eine Statue entzückt uns, aber nicht die treuere Wachsfigur: denn die Ähnlichkeit muß ihre Grenzen haben. Ich frage aber: warum? Weswegen soll die vollendete Ähnlichkeit (die Gleichheit) weniger vermögen als die unvollendete? Es ist in diesem Sinne nicht einmal wahr, und ein Porträt, dem zum Spiegelbilde nichts abginge als die Beweglichkeit, würde uns um so mehr bezaubern.

Aber in einem andern Sinne ist allerdings eine Unähnlichkeit vonnöten: diejenige, die in die Materie die Pantomine eines Geistes eindrückt, kurz das Idealische. Wir stellen uns am Christuskopfe nicht den gemalten, sondern den gedachten vor, der vor der Seele des Künstlers ruhte, kurz die Seele des Künstlers, eine Qualität, eine Kraft, etwas Unendliches. Wie die Schauspieler nur die Lettern, nur die trocknen Tuschen sind, womit der Theaterdichter seine Ideale auf das Theater malet – daher wird jedes Trauerspiel mit größerem Vorteil seines Idealischen im Kopfe als auf dem Schauplatz aufgeführet –: so sind die Farben und Linien nur die Lettern des Malers. Die typographische Pracht dieser Lettern vermenge man nicht mit dem erhabenen Sinn, dessen unwillkürliche Zeichen sie sind.

Ich sagte unwillkürliche. Unsere Seele schreibt mit vierundzwanzig Zeichen der Zeichen (d.h. mit vierundzwanzig Buchstaben der Wörter) an Seelen; die Natur mit Millionen. Sie zwingt uns, an fremde Ichs neben unserem zu glauben, da wir ewig nur Körper sehen – also unsere Seele in fremde Augen, Nasen, Lippen[203] überzutragen. Kurz, durch Physiognomik und Pathognomik beseelen wir erstlich alle Leiber – später alle unorganisierte Körper. Dem Baume, dem Kirchturme, dem Milchtopfe teilen wir eine ferne Menschenbildung zu und mit dieser den Geist. Die Schönheit des Gesichts putzet sich nicht mit der Schönheit der Linien an, sondern umgekehrt ist alle Linien- und Farbenschönheit nur ein übertragener Widerschein der menschlichen. Unser Unvermögen, uns etwas Lebloses existierend, d.h. lebend zu denken, verknüpft mit unserer Angewöhnung an ein ewiges Personifizieren der ganzen Schöpfung, macht, daß eine schöne Gegend uns ein malerischer oder poetischer Gedanke ist – daß große Massen uns anreden, als wohnte ein großer Geist in ihnen oder ein unendlicher – und daß ein gebildeter Apollos und ein gemalter Johanneskopf nichts sind als die schöne echte Physiognomie der großen Seelen, die beide geschaffen, um in homogenern Körpern zu wohnen, als die eignen sind. –

Als Tithon sich vom Jupiter die Unsterblichkeit erflehte, hatte er in seine Bitte nicht die Jugend eingeschlossen, und er schwand zuletzt ein zu einer unsterblichen – Stimme: So verfället, erbleichet das Leben hinter uns, und unserer einschwindenden vertrocknenden Vergangenheit bleibt nur etwas Unsterbliches – eine Stimme: die Musik. Daß nun die Töne, die in einem dunkeln Mondlicht mit Kräften ohne Körper unser Herz umfließen, die unsere Seele so verdoppeln, daß sie sich selber zuhört, und mit denen unsere tief heraufgewühlten unendlichen exaltierten Hoffnungen und Erinnerungen gleichsam im Schlafe reden, daß nun die Töne ihre Allmacht von dem Sinne des Grenzenlosen überkommen, das brauch' ich nicht weiter zu sagen. Die Harmonie füllet uns zum Teil durch ihre arithmetischen Verhältnisse; aber die Melodie, der Lebensgeist der Musik, erkläret sich aus nichts als etwan aus der poetischen reinen Nachahmung der rohern Töne, die unsere Freuden und unsere Schmerzen von sich geben. Die äußere Musik erzeugt also im eigentlichen Sinn innere; daher auch alle Töne uns einen Reiz zum Singen geben. – –

Aber genug! Ich schließe, wie ein Schauspiel, mit der geliebten Tonkunst. Ich hätte noch viel einzuschränken, zu beantworten[204] und nachzuholen, z.B. das, daß es eine genießende und eine schaffende Phantasie gebe und daß jenes die poetische Seele sei, die den Sinn des Unendlichen feiner hat, und dieses die schöpferische, die ihn versorgt und nährt, oft ohne ihn zu haben; ich könnte noch mit den Kräften des Mondscheins, der Nacht, der bunten Farbenwogen in Tautropfen meinen Satz befestigen; aber einer, der bei Tageslicht blind wäre, würde auch bei wolkenlosem Sonnenlicht nichts sehen. Es ist mir – so sehr personifizieret der Mensch sogar seine eignen Teile –, als müßt' ich jetzt der Phantasie, über die ich zu lange geschrieben und unter deren heißen Linie wie unter der andern ein ewiger Morgenwind der Jugend weht, als müßt' ich ihr dankbare Empfindungen für die Stunden, für die Gärten, für die Blumen, selber für die Wünsche bringen, die sie wie Girlanden um das einfärbige Leben flicht. Aber hier will wieder der Mensch, wie so oft, lieber der Gabe als dem Geber danken. – Und was soll unser Dank sein? – Zufriedenheit! Abscheu vor der Unart, den köstlichen Ersatz der Wirklichkeit und die Wirklichkeit zugleich zu begehren, zu den unverwelklichen Blumenstücken der Phantasie noch die dünnen Blumen der irdischen Freude dazu zu fordern und überhaupt das zu vergessen, daß der dichterische Regenbogen (wie der optische) sich gerade beim niedrigsten Stande der Sonne (im Abend und Winter) am höchsten wölbe. – Wohl gleichen wir hier mit unserer lechzenden Brust Schlafenden, die so lange dürsten, als sie den Mund öffnen: sie sind gestillet, wenn sie ihn schließen, und wir auch, wenn unsern die letzte Hand zudrückt. Aber wir sind voll himmlischer Träume, die uns tränken – und wenn dann die Wonne oder die Erwartung der träumerischen Labung zu groß wird, dann werden wir etwas Bessers als satt – wach.[205]

42

Mumien. 1. T. S. 278. 279.

43

Ohne die Erwägung des Geistes, der schuf, wär' es nicht zu erklären, warum eine Szene aus Shakespeare nur halb gefiele, wenn wir wüßten, er hätte sie von Wort zu Wort aus irgendeinem wirklichen Zufall, Protokoll, Dialoge ausgeschrieben.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 4, München 1959–1963, S. 195-206.
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