72. Zykel

[389] Die Stunde der Abfahrt rollte auf schnellern Rädern heran, mehrere Sternbilder der Freude gingen unter, als heraufkamen. So grünen die blühenden Weingärten des Lebens immer an einem bergigen Hinauf und Hinab, nie in einer ruhigen Ebene. Die zwei Liebenden brauchten jetzt Stille, keine Gänge. Sie machten den nächsten, den ins Donnerhäuschen. Sie traten in die wehende Vesper-Erde wie in ein neues Land; mitten im Tage wird der Mensch aus einem Traum nach dem andern wach und hat immer vergessen und sieht immer verneuet. In Albano stand der goldne Saitenglanz der Freude noch unter der wegrückenden Sonne; er sagte ihr froh, wie oft er sie besuchen würde bei ihren Eltern und wie er diese gewiß befreundet zu finden hoffte. Liane malte alle seine Hoffnungen noch als Tochter und Liebende mit ihren aus. Aber jetzt ließ sie ihr vorhin leichtes Herz, das auf den Blumen des Scherzes sich wiegte, auf dem festern Ernst ausruhen.

Wenn im Menschen Friede und Fülle ist, so will er nichts mehr genießen als sich, jede Bewegung, sogar die körperliche, verschüttet den vollen Nektarkelch. – Sie eilten aus dem lauten, regen Garten ins stille, dunkle Donnerhäuschen. Aber da sie, wie geschieden von der Welt, die um die Fenster hellglänzend und sich entfernend hinauslag, in der kleinen Dämmerung einsam nebeneinander standen und sich ansahen – und da Albanos Seele war wie ein sonnentrunkenes Gebirge am Abend, licht, warm,[389] fest und schön, und Lianens Seele wie die aufdringende Quelle am Gebirge, die hellrein und kühl und verborgen dahinrinnt, und nur vom Abendstrahl berührt, rosenrot glüht – und da diese einzigen Seelen gerade sich fanden in der weiten uneinigen Erde: so durchschauerte sie eine gewaltsame Freude wie ein Gebet, und sie stürzten sich ans Herz und glühten weinend und schaueten sich groß an in der Umarmung; – und an der Äolsharfe taten sich schnell die Flügeltüren eines begeisterten Konzertsaales auf, und herausschlagende Harmonien wehten vorbei, und schnell gingen die Pforten wieder zu.

Sie setzten sich ans luftige Morgenfenster, vor welchem die Blumenbühler Berge und Lilars Hügel und Pfade im Sonnenglanze lagen. Um sie war der Abendschatten und alles still, und die Ätherharfe atmete leise. Sie sahen sich nur an und freueten sich ins Innerste hinein, daß sie einander liebten und bewahrten. Wie entronnen blickten sie, von dieser Burg beschirmt, hinab in die rauschende, bewegliche Welt; unten blies der Wind die Mohn und Tulpen-Lohe breiter und in die schwere, gelbe Ernte – die Silberpappeln, ewigen Mai-Schnee tragend, flatterten mit aufgewühltem Glanz – ein Taubenflug rauschte eintauchend ins Blau hinein – und drüben standen unter fliegenden Wolken die runden Tempel Gottes, die Berge, nebeneinander in Reihen und trugen bald Nächte, bald Tage – und der fromme Vater stand allein auf seiner Höhe und reichte seinem Rehe weiche Äste.

»So bleiben wir!« sagte Albano und drückte ihre liebe Hand mit seinen beiden an sein Herz. »Hier und dort!« (sagte sie) »Albano, wie oft hab' ich gewünscht, du wärest zugleich meine Freundin, damit ich mit dir von dir reden könnte. Wer weiß es auf der Erde, wie ich dich achte, als ich allein!« – »Hier und dort? – Liane, ich bin glücklicher als du, denn ich allein glaube an unser langes Leben hier«, sagte er auf einmal verändert.

Welche Ursache es nun sei – entweder die, daß der Mensch gar nicht gewohnt ist, in einer von aller Zukunft und Vergangenheit abgelöseten reinen Gegenwart glücklich zu sein, weil sein innerer Himmel wie der physische immer gerade und nahe über ihm finsterblau aussieht, und erst um den fernen Horizont herum[390] glänzend – oder daß es ein so zartes überirdisches Glück gibt, was wie der Mondschein von jeder Wolke zu dunkel wird, indes rohes wie das Tageslicht die breiteste verträgt – oder daß Albano zu sehr den Männern glich, die immer in der Freude ihre Kräfte so stark fühlen, daß sie lieber den Göttertisch umstoßen als ein Gericht und Himmelsbrot weniger darauf sehen wollen, lieber ganz unglücklich sein als nicht ganz glücklich –: genug er konnte und wollte der Furcht und dem Verhüllen nichts mehr schuldig sein.

Daher als Liane ihn statt zu beantworten nur umarmte und schwieg, weil sie den ganzen Tag ihrem Versprechen treu bleiben wollte, die Festtapeten schöner Tage mit keinem Trauertuche auszuschlagen: so sagte er, wie von einem fremden Geiste fortgestoßen, geradezu: »Du beantwortest nichts? – Nur Freuden, nicht Leiden soll ich teilen? – Du hast deinen Schleier nicht? Mich willst du schonen wie einen Schwachen? Und dich allein drückt dein Todes-Glaube fort? – Liane, ich will auch Schmerzen haben und alle deine, sag alles!«

»Wahrlich, nur mein Versprechen wollt' ich halten« (sagte sie) »und mehr nicht. Aber was soll ich denn zu dir sagen, Lieber?« – »Du stirbst also gewiß nach einem Jahre, glaubst du, Abergläubige? – Himmlische!« sagte er.

»Wofern es Gottes Wille so ist, gewiß!« (sagte sie) »O mein guter Albano, was kann ich denn für meinen Glauben, der dich auch so schmerzt?« Und hier konnte sie ihre Tränen nicht mehr hindern, und alle Kruzifixe der Erinnerung regten sich in der schönen Seele lebendig und bluteten heftig.

»Gottes Wille?« (fragt' er) – »Ebensogut könnt' er jetzt einen Winter wie einen Eisberg in diesen frohen Sommer stürzen – Gott?« wiederholt' er, sah auf, kniete hin und betete: »O, du alliebender Gott...«

»Und du stirbst mir nicht!« kehrt' er sich wie zornig gegen sie, zum Weiterbeten unfähig vor dem Geschrei seines Herzens und mit beiden Händen hastig über sein nasses Gesicht wegstreifend – Nun betete er sanfter-zitternd fort: »Nein, du Alliebender! töte nicht dieses schöne, junge Leben! Laß uns beisammen, lang und fromm!«

Sie kniete unwillkürlich neben ihn – heute matter von Freuden[391] und unbekannten innern Siegen, sogar vom langen Gehen – desto heftiger angefallen von einer rührenden Wirklichkeit, da sie von rührenden Phantasien verwöhnt und erweicht war – und unsäglich leidend bei Albanos Schmerz – sie konnte nicht reden – wie unter einer schnell aufgeworfnen Last bückte sich ihr Haupt und Hals – und so blickte sie, wie vom ganzen Leben schwer umwölkt, auf den Boden hin – der umfangende Todesfluß rauschte mit einem Arm um sie – da sah sie, ohne aufzublicken, irgendwo ihre Karoline im Brautkleide und mit dem weißen, gold-punktierten Schleier ziehen, der sich lang über das Leben wegschleppte, und sie sah es deutlich, wie die Gestalt, da Albano um ihr Leben bat, langsam hin- und herschüttelte.

»Hör auf zu betenl« (rief sie trostlos) »Du harte Erscheinung, erhöre aber mich und mache nur Ihn glücklich!« betete sie, aber sie sah nichts mehr; und sie verbarg das von Qualen durchzogne Gesicht mit unaussprechlicher Liebe an seiner Brust.

Hier rief ihr Bruder herauf, der Wagen sei da. Sie warf ein schnelles, dünnes Ja hinab. »Trennen wir uns?« fragte Albano; der Feuerregen der Entzückung war nun als ein finsterer Aschenregen in seine offne Seele zurückgefallen – und darum fuhr er ohne alle Schranken seines Schmerzes fort: »So haben wir uns zum letztenmal gesehen?« und unter dem geschlossenen Augenlide weinte sein gutes Auge.

»Nein, bei dem Allgütigen, nein!« sagte sie und stand auf, um zu gehen. »Bleibe!« sagt' er, und sie blieb und umarmte ihn wieder. »Aber begleite mich nicht!« bat sie. »Nicht!« sagt' er und hielt die Wegziehende lang' an den Fingerspitzen; es schmerzte ihn so sehr, da er die auf diese stille Gestalt getriebnen Leiden ansah, daß diese weißen Schwingen der Unschuld sich an seinen Klippen und Berghörnern voll Blut geschlagen. Er zog sie wieder an sich, eh' er sie und sein Heil entließ. Er sah ihr nach, wie sie langsam an dem sonnigen Berg, unter den Zweigen sich trocknend, hinunterschlich und gesenkt lauter heitere, blühende Wege des Vormittags ging. Er schauete aber nicht nach, da ihr Wagen über den fröhlichen Wald wegrollte; er stand am Morgenfenster und sah seine Kindheits-Berge zittern, weil er seine Augen zu trocknen vergaß.[392]

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 389-393.
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