17. Zykel

[100] Wenn wir beide Schulstuben aufmachen, so sehen wir den Schachtelmagister vormittags über den zweidottrigen Eiern des Eleven sitzen und brüten, und den Exerzitienmeister nachmittags, so wie der Tauber das Nest in jener Tagszeit, die Taube in dieser hütet. –

Wehmeier wollte nun so gut wie sein Nebenrenner sich mit ganz neuen Lehren des Zöglings bemeistern; aber neue für diesen waren neue für ihn selber. Wie die meisten ältern Schullehrer wußt' er von der Sternkunde außer dem wenigen, was im Buch Josua stand, und von der Naturkunde außer den wenigen Irrtümern, die in seinen eher vergessenen als zerrissenen Heften standen, und von der Weltweisheit außer der Gottschedianischen, für die aber ein reiferer Eleve gehörte, und von andern Realien genau gesprochen – nichts, ausgenommen etwas Historie. Kamen ihm zuweilen in seiner literarischen Sarawüste, in welche ihn die quälende Schulstunden-Schraube ohne Ende und die Bettel- oder Kröpelfuhre eines mehr verschlackten als vererzten Lebens ohne Geld verwiesen hatten, neue Lehrmethoden oder neue Entdeckungen zu Ohren (zu Augen nie): so merkt' er den Augenblick, daß es seine eignen wären, nur schwach abgeändert; und er verhielt niemand das Plagium. Ich bitte aber alle seidene und gepuderte und lockige Prinzen-Instruktoren von Herzen: verdenket meinem armen, von den schweren dicken Erdlagen des Schicksals tief überbaueten Wehmeier seine unterirdische Optik und sein Krummstehen nicht zu sehr, sondern zählt seine acht Kinder und seine acht Schulstunden und seine nahen Funfziger in seiner Lebens-Höhle von Antiparos und entscheidet dann, ob der Mann damit wieder herauskann ans Licht![100] Aber von der Historie wußt' er, wie gesagt, doch etwas; und diese ergriff er als pädagogischen Diebsdaumen und Fortunatus-Wünschhut. Hatt' er nicht schon mit jener epischen ausmalenden Paraphrase, womit er die kleinste Marktflecken-Historie so interessant und lügenhaft erzählte (denn woher will ein guter Erzähler die 1000 kleinern, aber nötigen Züge nehmen als aus der Luft?), seinem Albano Hübners biblische äußerst rührend vorgetragen? Und wer weinte dabei mehr, der Lehrer oder der Schüler?

Nun hatt' er drei historische Wege vor sich offen. Er konnte den geographischen einschlagen, der mit der elendesten Geschichte von der Welt anfängt, mit der Landesgeschichte. Aber bloß höchstens Briten und Gallier können die Geschichte wie eine epische und eine Erdbeschreibung von hinten anfangen; hingegen eine haarhaarsche, eine baireuthische, eine Mecklenburger Landesväter-Patristik gibt hohlen Zähnen hohle Nüsse aufzubeißen, ohne Kern für Kopf und Herz. Und schwellet man nicht dadurch einen Holzzweig der Historie, auf welchen der Zufall der Geburt den jungen Borkenkäfer abgesetzt, unverhältnismäßig zu einem Stammbaume derselben an? Und was fragt man z.B. in Berlin nach einer Markgrafen-, oder in Hof nach der hohenzollerischen Regentenlinie?

Die zweite Methode ist die chronologische oder die vornen anspannende; diese hebt vom Geburtstage der Welt an, die nach Petav und den Rabbinen den 22sten Oktober29 vormittags auf die Welt kam, schreitet zum 28sten Oktober, dem ersten Flegel- und Tölpeltage des jungen Adams, dann über den 29sten, den ersten Sonn-, Buß- und Karenztag, hinweg und so fort bis zum Karenz- und Bußtage des neuesten Adamssöhnchens, das eben der Sache zuhorchen muß.[101]

Diese Milchstraße war unserm Magister zu lang, zu öde, zu fremd. Er schiffte die mittlere Straße zwischen den vorigen, die nach den reichen beiden Indien der Geschichte führt, nach Griechenland und Rom. Die Alten wirken mehr durch ihre Taten als durch ihre Schriften auf uns, mehr auf das Herz wie auf den Geschmack; ein gefallenes Jahrhundert um das andere empfängt von ihnen die doppelte Geschichte als die zwei Sakramente und Gnadenmittel der moralischen Stärkung; und ihre Schriften, an welche ihre steinernen Kunstwerke jede Nachwelt heften, sind die ewige Bibelanstalt gegen jeden Verfall der Cansteinischen Aber nun lasset uns an einem schönen Sommermorgen etliche Male vor der Rektoratswohnung vorbeigehen und es außen mit anhören, mit welcher Stimme der Magister drinnen, obwohl in altväterischen Wendungen aus dem Plutarch – dem biographischen Shakespeare der Weltgeschichte –, nicht die Schattenwelt von Staaten, sondern die darin glänzenden Engel der Gemeine zitiert, die heilige Familie großer Menschen, und werfet im Vorbeigehen einen Blick auf das funkelnde Auge, womit der begeisterte Knabe an den moralischen Antiken hängt, die der Lehrer wie in einem Abgußsaale um ihn versammlet. O wenn so die großen Wetterwolken der heroischen Vergangenheit sich an Zesarens Seele wie an ein Gebirge hingen und daran mit stillem Blitzen und Tropfen niedergingen: wurde da nicht das ganze Gebirge mit himmlischem Feuer geladen und alles, was darauf grünte und keimte, befruchtet, erquickt und herausgetrieben? Und konnt' er dann, so schön bewölkt, wohl in die tiefe Wirklichkeit schauen? Ja blieb es nicht dem Lehrer wie dem Schüler unter dem Marktgetöse des römischen und des athenischen Forums, wo sie im Gefolge Katos und Sokrates' mit herumgingen, völlig unbekannt, daß die rüstige Magisterin neben ihnen koche, bette, keife und scheuere? Von den acht lärmenden Kindern vernahmen sie schon der Menge wegen nichts; denn nur eine sausende Mücke hält man nicht ohne entsetzliche Anstrengung im Zimmer aus, leicht aber einen ganzen Schwarm. Ebenso wurde die Schulstube, auf deren Boden nichts fehlte, was man in Kanarien-Heckkasten zum Nestmachen wirft, Heu, Moos, Rehhaar,[102] ausgezauseter Flanell und fingerlanges Garn, beiden durch den Fußboden der alten (geographischen und historischen) Welt zugedeckt, welcher, der römischen Paulskirche ihrem gleich, aus Marmortrümmern voll abgebrochener Inschriften besteht.

29

Die vorhergehenden schönen Oktobertage so wie die Kanikularferien und der April und kurz der Vorrest des Jahres wurden am gedachten 22sten Oktober und dieser selber nachgeschaffen. So lehn' ich leicht die Frage nach der Vorzeit ab. Denn datiert einer die Welt anders, z.B. vom 20sten März, wie Lipsius und die Patres taten. so muß er immer zu meinem Nachschaffen des Vorjahrs greifen, wenn ich ihm mit seiner eignen obigen Frage zu Leibe gehe.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 100-103.
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