20. Zykel

[109] Plötzlich wurde unser Zesara, der in die Jahre trat, wo der Gesang der Dichter und der Nachtigallen tiefer in die aufgeweichte Seele quillt, ein anderer Mensch. Er wurde stiller und wilder zugleich, sanfter und aufbrausender, wie er denn einmal einem unter Prügeln schreienden Hunde im wildesten Harnische zu Hülfe lief – Himmel und Erde, die bisher in ihm, wie nach dem ägyptischen Systeme, ineinander gelegen, nämlich das Ideal und die Wirklichkeit, arbeiteten sich voneinander los, und der Himmel stieg rein und hoch und glänzend zurück – über die innere Welt ging eine Sonne auf und über die äußere ein Mond, aber beide Welten und Halbkugeln zogen sich zu einer ganzen an sein Aufschritt wurde langsamer, sein helles Auge träumerisch, seine Athleten-Gymnastik seltener – er mußte jetzt alle Menschen wärmer lieben und sie näher fühlen, und er fiel oft seiner Pflegemutter mit geschlossenen Augen zitternd um den Hals oder nahm draußen im Freien von dem verreisenden Pflegevater einen einsamern und heißern Abschied. –

Und nun wurde vor solchen reinen und scharfen Augen der Isis-Schleier der Natur durchsichtig, und eine lebendige Göttin blickte mit seelenvollen Zügen darunter in sein Herz. Ach als wenn er seine Mutter fände, so fand er jetzt die Natur – jetzt erst wußt' er, was der Frühling sei und der Mond und das Morgenrot und die Sternennacht Ach wir haben es alle einmal gewußt, wir wurden alle einmal von der Morgenröte des Lebens gefärbt!

.... O warum achten wir nicht alle ersten Regungen der menschlichen Natur für heilig, als Erstlinge für den göttlichen Altar?

Es gibt ja nichts Reineres und Wärmeres als unsere erste Freundschaft, unsere erste Liebe, unser erstes Streben nach Wahrheiten, unser erstes Gefühl für die Natur; wie Adam werden wir erst aus Unsterblichen Sterbliche; wie Ägypter werden wir früher von Göttern als Menschen regiert; – und das Ideal eilet der[109] Wirklichkeit, wie bei einigen Bäumen die weichen Bluten den breiten rohen Blättern, vor, damit nicht diese sich vor das Stäuben und Befruchten jener stellen. –

Wenn oft Albano von seinen innern und äußern Irrgängen nach Hause kam, zugleich trunken und durstig – zugleich mit geschlossenen Sinnen und mit geschärften, träumend, aber wie Schläfer, die das Auslöschen des Lichts herber empfinden –: so braucht' es freilich wenige kalte Tropfen von kalten Worten, damit die heiße, in Fluß gebrachte Seele von den fremden kalten Körpern in Zickzack und Klumpen zerschoß, indes eine warme Form den Guß zur lieblichsten Gestalt geründet hätte. –

Bei so bewandten Umständen wird sich freilich keiner wundern über das, was ich bald berichten werde. Der Tanz-, Musik- und Fecht-Meister, der wenig auf seine Pas, Griffe und Stöße großtat, aber desto mehr auf seine (Reichstags-) Literatur – denn die neuen Monatsnamen, die Klopstocksche Rechtschreibung und die lateinischen Lettern in deutschen Briefen hatt' er früher in seinen als einer von uns –, wollte dem Wehrfritzischen Hause gern zeigen, daß er ein wenig mehr von Literatur verstehe und da wisse, wo der Hase liegt, als andere Wiener (um so mehr, da er gar nichts las, nicht einmal politische Zeitungen und Romane, weil ihm lebendige wahre Menschen lieber waren); – er trat daher nie ins Haus, ohne zwei Taschen voll Romane und Verse für Rabette und Albano. Dazu half seine unendliche Dienstbeflissenheit – und sein kollegialisches Wettrennen mit Wehmeier im Bilden und sein Anteilnehmen am verstummenden Jünglinge, dem er aus den süßen Träumen, die der Rubin30 des glänzenden jugendlichen Lebens schenkt, mit den exegetischen Traumbüchern, den Dichterwerken, helfen wollte. Die Umwälzung des Jünglings, der nun ganze romantische Everdingens-Wiesen abmähete und ganze poetische Huysums-Blumenrabatten abpflückte, auch nur leidlich zu schildern, hab' ich jetzt wegen der oben versprochnen Wundersache weder Zeit noch Lust; genug, daß Albano, so dasitzend – der Himmel der Dichtkunst vor ihm aufgetan, das gelobte Land des Romans vor ihm ausgebreitet –, einem Erdballe glich, an welchen[110] mehrere Schwanzsterne sich brausend anwerfen und der mit ihnen gemeinschaftlich aufbrennt.

Allein wie weiter? Der Wiener, das muß ich noch vorher sagen, war ein eitler Narr (wenigstens in Punkten der Demut, z.B. seiner Zwergfüße, seiner Literatur, seines Glücks bei Weibern) und ließ besonders durch vertraute Gemälde von Großen und Damen gern auf sein Föderativsystem mit den Originalen schließen. Der arme Teufel war freilich arm und glaubte mit mehrern Autoren, er und diese hätten – ungleich dem Salomo, der Weisheit erbat und Gold erhielt – umgekehrt das Unglück gehabt, nur erstere zu empfangen, indes sie um letzteres geworben. Kurz aus solchen Gründen wollt' er – im Vorbeigehen gesagt – gern den Glauben im Wehrfritzischen Hause ausgebreitet wissen, daß er sehr gut stehe bei seiner vorigen Schülerin, der Ministers-Tochter- Liane, glaub' ich, wenn ich anders Hafenreffer Hand richtig lese –, und daß er sie oft genug sehe und spreche bei ihrer Mutter. Dazu kam noch, daß kein wahres Wort daran war; durch den Tempel, worin Liane war, ging kein Durchgang für ihn. Allein um so weniger konnt' er den Direktor vorauslassen, der sie öfters sah und zu Hause immer eifriger lobte, bloß um die roh unschuldige, von niemand je erzogne Rabette auszuschelten. Der Wiener wollte freilich auch noch den Grafen – dem er nur die Küste der Freundschaftsinsel Roquairols von weitem zeigte, aber keine Anfurt zur Landung – durch die Schwester listig von dem Bruder ablenken (er war unvermögend, ihn länger zu belügen und hinzuhalten): denn warum malt' ers ihm so lange aus, wie giftig vor einigen Jahren der Nacht- und Todesfrost über den Retraiteschuß des Bruders, den sie zu innig liebe, auf diese so zarten weißen Herzblätter gefallen sei?

Öfters hing er unter dem Essen breite, von Wehrfritz kontrasignierte Meritentafeln von Lianens musikalischen und malerischen Fortschritten auf, um scheinbar seinen Klavier- und Zeichenschüler zu größern anzutreiben. Denn wär' es nicht scheinbar: warum klebt' er ebenso lange Altarsblätter von Lianens Reizen bei Rabetten auf, bei dieser Unparteiischen, die, nur mit Pfarrers-, nicht mit Ministers-Töchtern wettrennend, fast so[111] freudig städtische Schönheiten wie wir Homerische preisen hörte und vor der nur ein windiger Tropf, der sich vor Weibern aufrecht und im Sattel durch Lobgesänge auf fremde erhalten will, seine auf Lianen anstimmen konnte? Wahrlich, vor einer so resignierten und neidlosen Seele, als Rabette war – zumal da ihre Gesichtshaut und Hände und Haare nicht am weichsten waren, wenigstens härter als die Falterleschen –, wär' ich um keine Medaille in der Welt imstande gewesen – wie ers doch war –, den glücklichen Erfolg näher zu kolorieren, womit der Minister, um Lianens ungewöhnliche Schönheit der jüngern Jahre durch Erziehung in die jetzigen herüberzubringen, das Seinige getan durch zarte und fast magere Kost – durch Einschnüren – durch Zusperren seines Orangeriehauses, dessen Fenster er selten von dieser Blume eines mildern Klimas abhob – noch weniger hätt' ich wie er malen können, daß sie dadurch ein zartes, nur aus Pastellstaub zusammengelegtes Gebilde geworden, das die Windstöße des Schicksals und die Passatwinde des Klimas fast zerblasen können – und daß sie sich wirklich nur mit Seifenspiritus waschen könne und nur mit den weichsten Linnen ohne Schmerzen trocknen und nicht drei Stachelbeeren ohne blutende Finger ab nehmen.

– Der flache Wiener, der vor keinem auf einer Bergkuppe stehenden Manne von Stande unten im Sumpfe den Hut abziehen konnte, ohne leise dabei zu sagen: »Ihr ganz Untertänigster!« und der von vornehmen Leuten höchstens nur im vertrauten oder satirischen Tone (seine Konnexion zu zeigen), aber nie im ernsthaft-kritischen sprach, war freilich – was doch seine Pflicht war – nicht imstande, den alten Froulay einen festen scharfen Leichenstein zu heißen, unter welchem zwei so weiche Blumen wie seine Frau mit dem ihr angeschlungenen Efeu, mit Lianen, sich gebogen und gedrückt ans Licht aufwinden. Herr v. Hafenreffer macht hier zu seiner Ehre – in Betracht, daß er ein Legationsrat und Lehnpropst ist – die ganz andere, gefühlvollere Bemerkung, daß die harten Erdschichten solcher Verhältnisse, wodurch Lianens Lebensquelle dringen und sickern müsse, diese reiner und heller machen, so wie alle harte Schichten Filtriersteine des Wassers[112] sind – und alle ihre Reize werden zwar durch ihren Vater Qualen, aber auch alle ihre Qualen durch ihr Dulden Reize. – Aber, guter Zesara! wenn du nun das alles täglich hören mußt – und wenn der Exerzitienmeister ohnehin nicht zu schildern vergisset, wie sie ihn nie mit einer ungehorsamen Miene oder einer Zögerung gekränkt, wie froh sie ihm die papiernen Stundenmarken und am Ende das Schulgeld oder eine Einladung gebracht – und wie besorgt und mild und höflich sie gegen ihre Dienerschaft gewesen und wie man hätte denken sollen, ihr Herz, könne nicht wärmer werden, als schon die Menschenliebe es mache, hätte man nicht ihre noch heißere Tochterliebe gegen die Mutter gesehn – – guter Zesara, sag' ich, wenn du das alles neben deinen Romanen vernimmst und noch dazu von der Schwester deines Roquairols – weil jeder, wenn es nur halb praktikabel ist, sich gern mit der Schwester seines Freundes einspinnt in eine Chrysalide – und noch überdies von einem Mädchen in der geheiligten Lindenstadt, um welche Don Gaspard, wie die alten Preußen31 um ihre Götter-Haine, noch mystische Vorhänge herumzieht – und was ärger als alles ist, gerade nach deinem 16 1/2 Jahre, Zesara, wo schon die Moussons und Frühlingswinde der Leidenschaften über die Blutwellen fahren! Denn früher freilich wars allerdings von dir mitten im gelehrten Kränzchen von so vielen Linguisten – d.h. von Büchern der Linguisten – von Eklektikern – Ober-Rabbinern – von 10 Weisen aus Morgen- und aus Griechenland – und wegen der ungemein blendenden Epiktetslampen, die das gedachte Weisen-Dezemvirat am Tags-Sterne der Weisen angezündet hatte, da wars wenig zu vermuten, daß dir Amors Turiner Lichtchen, das er noch unaufgebrochen in der Tasche hatte, sehr ins Auge fallen möchte! – Aber jetzt, mein Lieber, jetzt, sag' ich! – Wahrlich nirgends war es uns allen weniger übelzunehmen, wenn wir ungemein attent darauf sind, was er im 21sten Zykel macht, als im zwanzigsten.[113]

30

Man glaubte sonst, daß ein Rubin angenehme Träume gebe.

31

Arnolds Kirchengeschichte von Preußen. 1. B.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 109-114.
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