11. Zykel

[72] Es war nämlich an einem herrlichen Jakobustage – und zugleich am Geburtstage des Landschaftsdirektors Wehrfritz, der aber damals noch keiner war –, als dieser am Morgen den Wagen herausschieben ließ, um darin nach Pestitz zum Minister zu fahren und die Dreschmaschine des Staates als Unterhändler der Landschaft versuchsweise in eine Säemaschine umzustellen. Er war ein rüstiger Mann, dem ein Ferientag länger wurde als andern ein Exerzitientag und dem nichts Langweile machte als Kurzweile: »Aber abends« (dacht' er) »mach' ich mir einen guten Tag, denn es ist einmal mein Geburtstag.« – Sein Angebinde sollte darin bestehen, daß er eines – machte; er wollte nämlich aus Pestitz dem kleinen Albano einen Österleinschen Flügel aus seinem eignen Beutel – so wenig darin war – und obendrein einen Musikmeister auf Don Gaspards Verlangen mitbringen.

Aber warum will man das dem Leser nicht vorher auf das deutlichste auseinandersetzen?

Don Gaspard hatte nämlich in der Revision des Erziehungswesens für Albano gewollt, daß auf dessen körperliche Gesundheit mehr als auf die geistige Superfötation gesehen würde; der Erkenntnisbaum sollte mit dem Lebensbaume ablaktieret werden. Ach wer der Weisheit die Gesundheit opfert, hat meistens die Weisheit auch mitgeopfert; und nur angeborne, nicht erworbne Kränklichkeit ist Kopf und Herzen dienlich. Daher hatte Albano in seinem Bücherriemen nicht die vielbändige Enzyklopädie aller Wissenschaften gebückt zu schleppen, sondern bloß Sprachlehren. Nach den Schulstunden der Dorfjugend suchte nämlich der Rektor des Orts – namens Wehmeier, bekannter unter dem Titel: Schachtelmagister – seine schönsten Struveschen Nebenstunden, seine Otia und Noctes hagianae darin, daß er ihn unterwies und in die von innern Strömen angefaßte Mühlwelle des ewig regen Knaben alphabetische Stifte zu einer Sprachwalze einschlug. Freilich aber wollte Zesara bald etwas Schwerers bewegen als die Sprach-Tastatur; so wurde z.B. die Sprachwalze im eigentlichen Sinne zur Spielwalze; denn stundenlang versucht' er[72] auf der Orgel des Orts ohne sonderliche Kenntnis des Kontrapunkts (er kannte keine Note und Taste und stand unter dem Orgelstücke auf dem fortbrausenden Pedale fest) sich in den entsetzlichsten Mißtönen, wogegen die Enharmonika aller Piccinisten verstummen muß, senkte sich aber desto länger und tiefer in den zufälligen Treffer eines Wohllauts ein. – Ebenso arbeitete sich die saftvolle Seele gleichsam in Laubknöpfen, Holztrieben und Ranken aus und machte Gemälde, Tongebilde, Sonnenuhren und Plane aller Art, und sogar in den juristischen Felsen des Pflegevaters, z.B. in Fabris Staatskanzlei, trieb sie, wie oft Kräuter in Herbarien, ihre durstigen Wurzeln herum und über die dürren Blätter hinaus. O wie schmachtete er (so wie in der Kindheit von Oktav- zu Quart-Büchern, von Quart zu Folio, von Folio bis zu einem Buche so groß wie die Welt – welches eben die Welt ist) jetzt nach geahneten Lehren und Lehrern! – Aber desto bessert Nur der Hunger verdauet, nur die Liebe befruchtet, nur der Seufzer der Sehnsucht ist die belebende aura seminalis für das Orpheus-Ei der Wissenschaften. Das bedenket ihr nicht, ihr Fluglehrer, die ihr Kindern den Trank früher gebt als den Durst, die ihr wie einige Blumisten in den gespaltenen Stengel der Blumen fertige Lackfarben, und in ihren Kelchfremden Bisam legt, anstatt ihnen bloß Morgensonne und Blumenerde zu geben – und die ihr jungen Seelen keine stille Stunden gönnt, sondern um sie unter dem Stäuben ihres blühenden Weins gegen alle Winzer-Regeln mit Behacken, Bedüngen, Beschneiden hantiert. – O könnt ihr ihnen jemals, wenn ihr sie vorzeitig und mit unreifen Organen in das große Reich der Wahrheiten und Schönheiten hineintreibt, gerade so wie wir alle leider mit dunkeln Sinnen in die schöne Natur einkriechen und uns gegen sie abstumpfen, könnt ihr ihnen mit irgend etwas das große Jahr vergüten, das sie erlebet hätten, wenn sie ausgewachsen, wie der erschaffne Adam, mit durstigen offnen Sinnen in dem herrlichen geistigen Universum sich hätten umherdrehen können? – Daher gleichen auch euere Eleven den Fußpfaden so sehr, die im Frühling vor allem grünen, später aber sich gelb und eingetreten durch die blühenden Wiesen ziehen. –[73]

Wehrfritz erneuerte, da er schon auf der Wagentreppe das Gesicht in diesen kehrte, wieder den Befehl der Aufsicht über den jungen Grafen und machte die Signatur, womit Kaufleute kostbare Warenkisten der Post empfehlen, recht dick auf diesem: er liebte das feurige Kind wie seines (er hatte nur eins, aber keinen Sohn); – der Ritter hatte Vertrauen auf ihn, und um dieses zu rechtfertigen, würd' er, da der Ehrenpunkt der Schwerpunkt und die Himmelsachse aller seiner Bewegungen war, sich ohne Bedenken, wenn der Knabe z.B. den Hals gebrochen hätte, seinen abgeschnitten haben; – auch sollte Albano abends vor dem neuen Lehrer aus der Stadt auffallend gut bestehen.

Albine von Wehrfritz, die Gemahlin, versprach alles hoch und teuer; sie konnte sich den Evangelisten Markus und Johannes gleichsetzen, weil ihr heftiger Mann die Gesellschafts-Tiere beider, die Tierkönige Löwe und Adler, öfters repräsentierte, so wie sich manche andere Gattin in Hinsicht ihrer Begleitung mit dem Lukas vergleichen mag und meine mit dem Matthäus21. Sie hatte ohnehin auf abends ein kleines Familienfest voll spielender buntgefärbter Ephemeren der Freude ausgeschrieben; und zum größten Glück war schon vor einigen Tagen das Diplom eingelaufen, das unsern Wehrfritz zum Landschaftsdirektor installierte, und das man als ein Patengeschenk des Geburtstages auf heute aufhob.

Aber kaum fuhr Wehrfritz hinter dem Schloßgarten, so trat Alban mit seinem Projekte hervor und berichtete, er wolle den ganzen Feiertag droben im einsamen Schießhäuslein versitzen; denn er spielte gern allein, und ein elterlicher Gast war ihm lieber als ein Spielknabe. Die Weiber gleichen dem Pater Lodoli, der (nach Lambergs Tagebuche) nichts so mied als das Wörtchen Ja; wenigstens sagen sie es erst nach dem Nein. Die Pflegemutter (ich will aber künftig bei ihr und der Pflegeschwester Rabette das verdrießliche Pflege wegstreichen) sagte ohne Bedenken Nein, ob sie gleich wußte, daß sie noch keines gegen den Trotzkopf durchgesetzt. – Dann entlehnte sie sehr gute Dehortatorien vom Willen des Landschaftsdirektors und hieß ihn bedenken – dann[74] schlug sich die rotbackige gutmeinende Rabette zum Bruder und bat mit, ohne zu wissen warum – dann beteuerte Albine, wenigstens das Essen soll' er nur nicht auf den Berg nachgeliefert erwarten – dann marschierte er zum Hofe hinaus So stand ich schon öfters dabei und sah zu, wie die weiblichen Ellenbogen und Knochen unter dem Wegstemmen allmählich vor meinen Augen Knorpel wurden und sich umbogen. Nur in Wehrfritzens Beisein hatte Albine Kraft zum langen Nein.

21

Bekanntlich wird diesem Evangelisten ein Engel beigesellet.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 72-75.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Titan
Sämtliche Werke, 10 Bde., Bd.3, Titan
Titan (insel taschenbuch)
Titan. Bd. 1/2
Titan: A Romance from the German (German Edition)
Titan, Volumes 1-2 (German Edition)