105. Zykel

[582] Albano wurde wie eine Welt von Rom wunderbar verändert. Nachdem er so mehrere Wochen zwischen Romas Ruinen und Schöpfungen gelagert war – nachdem er aus Raffaels kristallenem Zauberbecher getrunken, dessen erste Züge nur kühlen, wenn die letzten ein welsches Feuer durch alle Adern führen – nachdem er den Bergstrom Michel Angelos bald als Katarakte, bald als Ätherspiegel gesehen – nachdem er sich vor den letzten größten Nachkommen Griechenlands gebeugt und geheiligt hatte, vor dessen Göttern, die mit ruhigem heitern Antlitz in die unharmonische Welt hereinblicken, und vor dem vatikanischen Sonnengott, welcher zürnt über die Prosa der Zeit, über diese niedrige Pythonische Schlange, die sich immer wieder verjüngt-nachdem er lange so vor dem Vollmond der Vergangenheit im Glanze gestanden: so überzog sich auf einmal seine ganze innere Welt und wurde ein einziges Gewölk. Er suchte Einsamkeit – er hörte auf zu zeichnen und Musik zu treiben – er sprach wenig mehr von Roms Herrlichkeit – nachts, wo der tägliche Regen aufhörte, besucht' er allein die großen Trümmer der Erde, das Forum, das Coliseo, das Kapitolium – er wurde heftiger, ungeselliger, schärfer – ein tief eingesenkter Ernst waltete auf der hohen Stirn, und durch das Auge brannte ein düsterer Geist.

Gaspard schickte unbemerkt seinen Blick allen geheimen Entfaltungen des Jünglings nach. Ein bloßer Nachschmerz über Liane schien sein Zustand nicht zu sein. Im nordischen Winter wäre diese Wunde nur zugefroren und nicht zugeheilt; aber hier, im Tempel der Welt, wo Götter begraben liegen, stärkte sich ein edles Herz und schlug für ältere Gräber. Die Fürstin, die unter dem Deckmantel des Vaters dem Sohne nachjagte, suchte er weniger als den alten kalten Lauria und den feurigen Dian.[582]

In derselben Zeit sehnt' er sich schmerzlich nach seinem Schoppe; an dieser Brust, dacht' er, hätte das Geheimnis der seinigen den rechten Ort und Trost gefunden. Es war ihm, als hab' er seit dieser Abwesenheit in einem fort mit ihm zusammengelebt und sich fester verbrüdert. So wohnen und schmelzen die Geister im unsichtbaren Lande zusammen; und wenn sich die Leiber im sichtbaren wieder begegnen, finden die Herzen sich bekannter wieder. Leider hört' er, so viel auch sein Vater Briefe aus Pestitz bekam, keinen Laut von dem Freunde über die Berge herüber, den er in den dunkeln Verhältnissen einer wunderbaren verwirrenden Leidenschaft zurückgelassen. Er rechnete Schoppen, dessen Haß und Zank gegen alles Briefschreiben er kannte, das Schweigen nicht an; aber sein eignes Herz konnt' es nicht verlängern, und er schrieb so an ihn:


»Wir wurden schlafend voneinander gerissen, Schoppe! Jene Zeit hat sich bedeckt und bleibt es. Sehr wach wollen wir uns wieder erblicken. Von dir weiß ich nichts; wenn mir Rabette nicht schreibt, muß ich die brennende Ungeduld bis zu unserer Zusammenkunft im Sommer umhertragen und leiden. Was ist von mir zu schreiben? Ich bin verändert bis ins Innerste hinab und von einer hineingreifenden Riesenhand. Wenn die Sonne über den Scheitelpunkt der Länder zieht, so hüllen sie sich alle in ein tiefes Gewölk; so bin ich jetzt unter der höchsten Sonne und bin eingehüllt. Wie in Rom, im wirklichen Rom, ein Mensch nur genießen und vor dem Feuer der Kunst weich zerschmelzen könne, anstatt sich schamrot aufzumachen und nach Kräften und Taten zu ringen, das begreif' ich nicht. Im gemalten, gedichteten Rom, darin mag die Muße schwelgen; aber im wahren, wo dich die Obelisken, das Coliseo, das Kapitolium, die Triumphbogen unaufhörlich ansehen und tadeln, wo die Geschichte der alten Taten den ganzen Tag wie ein unsichtbarer Sturmwind durch die Stadt fortrauschet und dich drängt und hebt, o wer kann sich unwürdig und zusehend hinlegen vor die herrliche Bewegung der Welt? – Die Geister der Heiligen, der Helden, der Künstler gehen dem lebendigen Menschen nach und fragen zornig: was bist du?[583] – Ganz anders gehst du aus dem Vatikan des Raffaels und über das Kapitolium herunter, als du aus irgendeiner deutschen Bildergalerie und einem Antikenkabinett heraustrittst. Dort siehst du auf allen Hügeln alte ewige Herrlichkeit, jede Römerin ist mit Gestalt und Stolz noch ihrer Stadt verwandt, der Transteveriner ist der Sparter, und du findest so wenig einen Römer als einen Juden stumpf; indes du in Pestitz fast unduldsam werden mußt schon gegen den Kontrast der bloßen Gestalt. Sogar der ruhige Dian behauptet, die häßlichen Masken der Alten sähen wie die deutschen Gassen-Gesichter und ihre Faunen und andere Tiergötter wie edlere Hof-Gesichter aus; ihre Kopierbilder Alexanders, der Philosophen, der römischen Tyrannen wären, so scharf und prosaisch sie sich auch von ihren poetischen Statuen der Götter abschnitten, den jetzigen Idealen der Maler gleich.

Tut es da genug, mit Augen voll Bewunderung und gefalteten Händen um die Riesen zu schleichen und dann welk und klein zu ihren Füßen zu verschmachten? Freund, wie oft pries ich in den Tagen des Unmuts die Künstler und Dichter glücklich, die ihre Sehnsucht doch stillen dürfen durch frohe leichte Schöpfungen, und welche durch schöne Spiele die großen Toten feiern, Archimimen der Heldenzeit. – Und doch sind diese schwelgerischen Spiele nur das Glockenspiel am Blitzableiter; es gibt etwas Höheres, Tun ist Leben, darin regt sich der ganze Mensch und blüht mit allen Zweigen. – Es ist nicht von den bangen engen Kleintaten auf der Ruder- und auf der Ruhebank der Zeit die Rede. Noch stehet an der Krönungsstadt des Geistes ein Tor offen, das Opfertor, das Janustor. Wo ist denn weiter auf der Erde die Stelle als auf dem Schlachtfeld, wo alle Kräfte, alle Opfer und Tugenden eines ganzen Lebens, in eine Stunde gedrängt, in göttlicher Freiheit zusammenspielen mit tausend Schwester-Kräften und Opfern? Wo sind denn allen Kräften, von dem schnellsten Scharfblick an bis zu allen körperlichen Fertigkeiten und Abhärtungen, von der höchsten Großmut und Ehre an bis auf die weichste Träne herab, von jeder Verachtung des Körpers an bis zur tödlichen Wunde hinauf, so alle Schranken aufgetan für einen wetteifernden Bund? Wiewohl eben darum der Spielraum aller Götter[584] auch dem Larventanz aller Furien freisteht. Nimm nur den Krieg höher, wo die Geister, ohne Verhältnis des Gewinstes zum Verlust, nur aus Kraft der Ehre und des Zwecks, sich dem Schicksal verdingen, daß es unter ihren Körpern die Leichen auslese und das Los des Sieges aus den Gräbern ziehe. – Zwei Völker gehen auf die Schlacht-Ebene, die tragische Bühne eines höhern Geistes, um ohne persönlichen Haß die Todesrollen gegeneinander zu spielen – still und schwarz liegt die Gewitterwolke auf dem Schlachtfeld – die Völker ziehen hinein in die Wolke, und alle ihre Donner schlagen, und düster und allein brennt die Todesfackel über ihr – es wird endlich Licht, und zwei Ehrenpforten stehen aufgebauet, die Todespforte und das Siegestor, und das Heer hat sich geteilt und ist durch beide gezogen, aber durch beide mit Kränzen. – Und wenn es vorüber ist, stehen die Toten und die Lebendigen erhaben in der Welt, weil sie das Leben nicht geachtet hatten. – Wenn aber der große Tag noch größer werden, wenn dem Geiste das Köstlichste kommen soll, was das Leben heiligen kann: so stellt Gott einen Epaminondas, einen Kato, einen Gustav Adolph vor das geheiligte Heer – und die Freiheit ist zugleich die Fahne und die Palme – o selig, wer dann lebt oder stirbt für den Kriegs-Gott und für die Friedens-Göttin zugleich. –

Lasse mich das nicht durch Sprechen entweihen. Nimm aber hier mein leises festes Wort und leg es in deine Brust zurück, daß ich mir, sobald Galliens wahrscheinlicher Freiheitskrieg anhebt, meine Rolle durchaus nehme in ihm, für ihn. Abhalten kann mich nichts, auch nicht mein Vater. Dieser Entschluß gehört zu meiner Ruhe und Existenz. Aus Ehrgeiz ergreif' ich ihn nicht; obwohl aus Ehrliebe gegen mich selber. Schon in meinen frühern Jahren konnt' ich nie das platte Lob einer ewigen häuslichen Glückseligkeit genießen, was gewiß eher Weibern als Männern geziemt. Freilich deine Stärke oder Gemütsweise, alles Große ruhig aufzunehmen und die Welt still in einen innern Traum zu zerschmelzen, hat wohl niemand. Du schauest die Abendwolken an und hernach die Milchstraße und sagst kalt: Gewölk! Kommst du aber doch nicht zu tief in dieses Gefühl, in diese kalte Gruft[585] hinunter? Zwar will das Gift dieses Gefühls einen überall und gerade in Rom, diesem Kirchhof so ferner Völker, so entgegengesetzter Jahrhunderte, süßer als irgendwo verzehren; aber wüßtest du vom Vergänglichen ohne den Nebenstand des Unvergänglichen, und wo wohnt der Tod als im Leben? Lasse verstieben und versiegen! es gibt doch drei Unsterblichkeiten – wiewohl du die erste, die überirdische, nicht glaubst –: die unterirdische (denn das All kann verstäuben, aber nicht sein Staub) und die ewigwirkende darin, die, daß jede Tat viel gewisser eine ewige Mutter wird als eine ewige Tochter ist. Und dieser Bund mit dem Universum und mit der Ewigkeit macht der Ephemere Mut, in ihrer Flug-Minute das Blütenstäubchen weiterzutragen und auszusäen, das im nächsten Jahrtausend vielleicht als Palmenwald dasteht.

Ob ich mich meinem Vater entdecke, ist mir noch zweifelhaft, weil ich es noch darüber bin, ob ich seine bisherigen Äußerungen gegen die Neufranken für scharfen Ernst zu nehmen habe oder nur für die scherzhafte Kälte, womit er sonst gerade seine Gottheiten – Homer, Raffael, Cäsar, Shakespeare – aus Ekel gegen den nachsprecherischen Götzendienst, den der Pöbel der wahren Hoheit wie der falschen erweiset, im Munde führet. – Grüße meinen braven mannhaften Wehrfritz und erinner' ihn an unser Bundesfest am Zeitungstage der niedergerissenen Bastille. Lebe wohl und bleibe bei mir!

Albano.«


An dem Abende dieses Briefes ging er mit seinem Vater in eine Conversazione im Palazzo Colonna – hier fanden sie die schwarzmarmorne Galerie voll Antiken und Gemälde aus einem Kunst- und Gesellschaftszimmer in einen Fechtboden verkehrt, alle Arme und Zungen der Römer waren in Bewegung und Kampf über die neuesten Entwicklungen der gallischen Revolution, und die meisten für sie. Es war damals, wo fast ganz Europa einige Tage lang vergaß, was es aus der politischen und poetischen Geschichte Frankreichs jahrhundertelang gelernt hatte, daß dasselbe leichter eine vergrößerte als eine große Nation werden könnte. Der Ritter allein gab sich lieber den Kunstwerken als[586] dem leeren Gefechte seiner Nachbarschaft hin; endlich aber hört' er von weitem, wie Albano, gleich allen damaligen Jünglingen, der Him mels-Königin, der Freiheit, jauchzend nachzog, unter den ewigen Freien und ewigen Sklaven mitgehend nach der damaligen Gleichheit; da trat er näher und merkte nach seiner Weise an: »die Revolution sei etwas sehr Großes; er finde indes an großen Werken, z.B. an einem Coliseo, Obeliskus, an dem Flor einer Wissenschaft, an dem Kriege, an der Höhe der Astronomie, der Physik weniger als andere zu bewundern, denn bloß die Menge in der Zeit oder im Raume schaff' es, eine beträchtliche Vielheit kleiner Kräfte. Aber nur große achte man178. In der Revolution seh' er mehr jene als diese – Freiheit werde an einem Tage so wenig gewonnen als verloren; wie schwache Individuen im Rausche gerade ihr Gegenteil wären, so geb' es auch wohl einen Rausch der Menge durch die Menge.«

Bouverot versetzte darauf: »Das ist ganz meine Meinung auch.« Albano antwortete recht sichtbar nur seinem Vater – weil er den deutschen Herrn tief verachtete und ihn ganz unwürdig des Genusses hoher Kunstwerke hielt, wofür er vornehmen Geschmack mitgebracht, obwohl keinen Sinn – und sagte: »Lieber Vater, die 12000 Juden entwarfen nicht das Coliseo, das sie baueten, aber die Idee war doch irgendeinmal ganz in einem Menschen, im Vespasian; und so muß überall den konzentrischen Richtungen kleiner Kräfte irgendeine große vorstehen, und wär' es Gottsel ber.« – »Dahin« (sagte Gaspard) »wo alles Göttliche verlegt wird, magst du es denn auch versetzen.« – Bouverot lächelte. – »Der gallische Rausch« (versetzte Albano heftig) »ist doch wahrlich kein zufälliger, sondern ein Enthusiasmus, in der Menschheit und Zeit zugleich gegründet; woher denn sonst der allgemeine Anteil?[587]

– Sie können vielleicht sinken, aber um höher zu fliegen. Durch ein rotes Meer des Bluts und Kriegs watet die Menschheit dem gelobten Lande entgegen, und ihre Wüste ist lang; mit zerschnittenen, nur blutig-klebenden Händen klimmt sie wie die Gemsenjäger empor.« – »Die Gemsenjäger selber« (sagte der Ritter) »tun das mehr, wenn sie von der Alpe herabwollen; indes sind solche Hoffnungen reizend, und wir wollen gern ihre Erfüllung wünschen.« – »Signor Conte« (setzte Bouverot dazu) »nannte sehr gut den Aufstand einen Rausch. Man schläft ihn aus; aber am Morgen ist manches zerbrochen und zu bezahlen.« »Rausch?« (sagte Albano) »Welches Beste ist nicht im Enthusiasmus geschehen, und welches Schlechteste nicht in der Kälte? Welches, Herr von Bouverot? Ja es gibt einen gräßlichen, grimmigen Seelen-Frost, so wie einen ähnlichen physischen, der wie die größte Hitze schwarz und blind und wund macht179; so etwas wie die französische Tragödie, kalt und doch grausam.«

»Du näherst dich dem Tragischen, Sohn« (unterbrach ihn Gaspard und schützte den deutschen Herrn)- »Wir dürfen von den Franzosen recht viel politische Sagazität erwarten, zumal in der Not; das ist ihre Stärke. Darin kommen sie den Weibern bei Auch sind sie wie die Weiber entweder ungemein zart, sittlich und human, wenn sie gut sind, oder wie diese ebenso grausam und roh, wenn sie außer sich kommen. – Es lässet sich weissagen, daß sie in einem Freiheitskriege, wenn er ausbräche, an Tapferkeit es allen Parteien zuvortun werden. Das wird sehr blenden, da doch nichts seltener ist als ein feiges Volk. Man lernt die Kriegstapferkeit gemäßigt schätzen, wenn man sieht, daß die römischen Legionen, gerade als sie feil, schlecht, sklavisch und zur Hälfte Freigelassene waren, nämlich unter dem Triumvirat, mutiger stritten als vorher. Für den unbedeutenden Mordbrenner Katilina stritten und starben die Bürger bis auf den letzten Mann, und nur Sklaven wurden gefangen.«

Diese Rede drückte ein heißes Siegel auf Albanos Mund; es schien ordentlich, als errate ihn der Vater und mache sich die alte Freude, wie ein Schicksal einen Enthusiasmus zu erkälten und Erwartungen[588] Lügen zu strafen, sogar trübe. Der beleidigte, sich selber ausbrennende Geist blieb nun fest vor Gaspard und Bouverot zugedeckt.

Aber seinem Dian zeigt' er alles am Morgen darauf; er wußte, wie dieser mit dem Arme eines Künstlers und Jünglings zugleich die Freiheitsfahne trug und schwang, und darum brach er vor ihm das dunkle Siegel seines bisherigen Trübsinns auf. Er gestand dem geliebtesten Lehrer den großgewachsenen Vorsatz, sobald der unheilige Krieg gegen die gallische Freiheit, der jetzt seine Pechkränze in allen Straßen der Stadt Gottes aushing, in Flammen schlage, an die Seite der Freiheit zu treten und früher zu fallen als sie. »Wahrlich, Ihr seid ein wackerer Mensch« (sagte Dian) – »Hätte ich mir nicht Kind und Kegel aufgehalset, bei Gott! ich zöge selber mit. Der Alte, wie dergleichen, sieht viel und hört schlecht. Wittern soll er nichts und seine Bestie von Barigello auch nicht.« Den Kunstrat Fraischdörfer meint' er, den er mit Künstler-Eigensinn ewig verabscheuete, weil der Kunstrat schlechter malte und besser kritisierte als er. »Dian, Euer Wort ist schön gesagt, ja wohl macht das Alter physisch und moralisch weitsichtig für sich und taub gegen den andern«, sagte Albano. »Hab' ich gut gesprochen, Albano? Aber wahrlich so ist die Sache«, sagt' er, sehr erfreuet, bei seinem Mißtrauen in seine Sprache, über das Lob ihrer Schönheit.

Nach einiger Zeit sagte der Ritter, gleich als sehe er durch das Siegel hindurch, einige Worte, die den Jüngling auf allen Seiten griffen: »Es gibt« (sagt' er) »einige wackere Naturen, die gerade auf der Grenze des Genies und des Talentes stehen, halb zum tätigen, halb zum idealischen Streben ausgerüstet – dabei von brennendem Ehrgeize. – Sie fühlen alles Schöne und Große gewaltig und wollen es aus sich wieder erschaffen, aber es gelingt ihnen nur schwach; sie haben nicht wie das Genie eine Richtung nach dem Schwerpunkt, sondern stehen selber im Schwerpunkte, so daß die Richtungen einander aufheben. Bald sind sie Dichter, bald Maler, bald Musiker; am meisten lieben sie in der Jugend körperliche Tapferkeit, weil sich hier die Kraft am kürzesten und leichtesten durch den Arm ausspricht. Daher macht sie früher[589] alles Große, was sie sehen, entzückt, weil sie es nachzuschaffen denken, später aber ganz verdrüßlich, weil sie es doch nicht vermögen. Sie sollten aber einsehen, daß gerade sie, wenn sie ihren Ehrgeiz früh einzulenken wissen, das schönste Los vielartiger und harmonischer Kräfte gezogen; sowohl zum Genusse alles Schönen als zur moralischen Ausbildung und zur Besonnenheit ihres Wesens scheinen sie recht bestimmt zu sein, zu ganzen Menschen; wie etwan ein Fürst sein muß, weil dieser für seine allseitige Bestimmung allseitige Richtungen und Kenntnisse haben muß.«

Sie standen gerade, als er dies sagte, auf dem Aventinischen Berge, vor sich die Cestius-Pyramide, dieses Epitaphium des Ketzer-Gottesackers, worin so mancher unausgebildete Künstler und Jüngling schläft, und nahe dabei der hohe Scherben-Berg180 (monte testaccio), wovor Albano immer mit einem ekeln kahlen Gefühl schaler Ödheit vorbeiging. Der Stoß der väterlichen Ideen gegen seine und die Verwandtschaft des Scherben-Bergs mit dem Fremden-Kirchhof machten, daß Albano mehr sich als dem Vater antwortete, mit einem geschmolzenen Eisen-Tropfen des Unwillens im Auge: »Ein solcher namenloser Töpfer-Berg ist im ganzen auch die Geschichte der Völker. – Aber man möchte sich doch lieber auf der Stelle töten, als erst nach einem langen Leben sich so namen- und tatenlos in die Menge eingraben.«

Seit seiner Einigkeit mit sich selber wurd' er glücklicher; mit Eifer tat er sich schon jetzt zum Werk, seiner Natur gemäß, die wie im Samenkorn Stamm und Wurzel aus einer Samenspitze trieb, Gedanken und Taten.

Er warf alles andere Treiben weg und studierte alte und neue Kriegskunst, wozu ihm Dian die Bücher und das Museum borgte und lieferte. Mit namenloser Entzückung und Erhebung durchlief er wieder die Sonnenkarten der römischen Geschichte, hier auf dem ausgebrannten Sonnenkörper selber, und oft, wenn er ihre Entzündungen gezeichnet las, stand er eben in den Kratern, wo sie aufgegangen waren.

Dian gab noch dazu seine Kenntnis des kleinen Dienstes und[590] sich gern zu körperlichen Übungen her, wenn er ihn vorher zu dem Gottesdienste unter Raffaels Kunsthimmel hinaufgezogen, wo Grazien wie Sternbilder im hohen Äther gehen; denn bei Dian war Leib und Seele ein Guß, der weichste Augennerve und härteste Armmuskel ein Band. Zuletzt führt' er, da ihm ein Wort viel sauerer wurde als eine Tat und da er lieber den ganzen Leib als die Zunge regte, dem Grafen einen rednerischen Kriegs-Genossen zu, einen korsischen Jüngling, lebendig wie aus lauter Mark des Lebens geformt.

Beide Jünglinge liebten und übten sich eine Zeitlang in romantischer Freiheit, ohne einander nur die Namen abzufragen. Sie fochten, lasen, schwammen. Der Korse vergötterte fast Albanos Gestalt, Kraft, Kopf und Mut und goß sein ganzes Herz in eines, das er nicht ganz faßte; wie viele Mädchen nirgends als in der Liebe, so zeigte er nirgends als im Kriegsspiele Seele und Sinn. Albanos helles Gold spiegelte gefällig die fremde Gestalt zurück, ohne wie Glas dabei die eigne zu vernichten.

Einst wurde des Korsen Glut eine Flamme, die das ganze eigne Leben dem Freunde beleuchtet zeigte und seinen einzigen Zweck und Durst, nämlich den nach Franzosen-Blut, »den er« (sagt' er) »im kommenden Kriege zu löschen hoffe«. Wär' ihm Albano ähnlich gewesen, so hätten sie sich wie kämpfende Hirsche in die Geweihe tödlich verwickelt; denn die störrische, unbiegsame Tapferkeit des Korsen – mehr eine sinnliche, so wie Albanos seine mehr eine geistige – litt kein Gegenwort. Gleich seiner Klasse begehrte er auf seine Rede ein recht starkes Zuwort von Albano; aber dieser sagte: »Das ist eben das Große im Kriege, daß man ohne leidenschaftliche Erbitterung, ohne persönliche Feindschaft alles kann und wagt, was der Schwächling nur durch sie vermag; wahrlich es wäre edler, in der Schlacht einen Geliebten als einen Gehaßten zu töten.« – »Tolle Chimären!« (sagte der Korse zornig »wie? du willst die Franzosen töten und sie doch lieben?« – Albanos Großsinn warf jede bange Larve ab und sagte: »Mit einem Wort, ich streite einst für die Gallier mit.« -»Du, Falscher?« (sagte der Korse »Unmöglich! – Gegen mich?« -»Nein,« (versetzte Albano) »ich bitte Gott, daß wir uns in jener Stunde nie[591] begegnen.« – »Und ich will ihn recht anflehen,« (sagte der Korse) »daß wir uns nicht mehr treffen als einmal mit dem Bajonett. Addio!« So schied er entrüstet von ihm und kam nicht wieder.

178

Die Summe und das System elektrischer, galvanischer, chemischer, anatomischer Erfahrungen, die Taktik, ein corpus juris u.s.w. können uns wohl in Erstaunen setzen, aber die Menschheit selber erscheint nicht größer durch Riesengebäude, die von Millionen Elefantenameisen zusammengetragen werden; allein wenn ein Elefant ein Gebäude trägt, wenn ein Individuum irgendeine Kraft in neuen Graden und Verhältnissen zeigt, Newton die mathematische Anschauung, Raffael die bildende, Aristoteles, Lessing, Fichte den Scharfsinn, oder ein anderes die Güte, die Festigkeit, den Witz u.s.w.: dann gewinnt die Menschheit, und ihre Schranken rücken hinaus.

179

In Grönland macht die heftige Kälte schwarz und blind.

180

Wohin seit Servius Tullius' Zeit alle Scherben geworfen werden.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 3, München 1959–1963, S. 582-592.
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