§ 12
Besonnenheit

[56] Die erste ist die Besonnenheit. Sie setzt in jedem Grade ein Gleichgewicht und einen Wechselstreit zwischen Tun und Leiden,[56] zwischen Sub- und Objekt voraus. In ihrem gemeinsten Grade, der den Menschen vom Tier, und den Wachen vom Schläfer absondert, fodert sie das Äquilibrieren zwischen äußerer und innerer Welt; im Tiere verschlingt die äußere die innere, im bewegten Menschen diese oft jene. Nun gibt es eine höhere Besonnenheit, die, welche die innere Welt selber entzweit und entzweiteilt in ein Ich und in dessen Reich, in einen Schöpfer und dessen Welt. Diese göttliche Besonnenheit ist so weit von der gemeinen unterschieden wie Vernunft von Verstand, eben die Eltern von beiden. Die gemeine geschäftige Besonnenheit ist nur nach außen gekehrt und ist im höhern Sinne immer außer sich, nie bei sich, ihre Menschen haben mehr Bewußtsein als Selbstbewußtsein, welches letzte ein ganzes Sichselbersehen des zu- und des abgewandten Menschen in zwei Spiegeln zugleich ist. So sehr sondert die Besonnenheit des Genies sich von der andern ab, daß sie sogar als ihr Gegenteil öfters erscheint, und daß diese ewige fortbrennende Lampe im Innern, gleich Begräbnis-Lampen, auslöscht, wenn sie äußere Luft und Welt berührt.26 – Aber was vermittelt sie? Gleichheit setzet stärker Freiheit voraus als Freiheit Gleichheit. Die innere Freiheit der Besonnenheit wird für das Ich durch das Wechseln und Bewegen großer Kräfte vermittelt und gelassen, wovon keine sich durch Übermacht zu einem After-Ich konstituiert, und die es gleichwohl so bewegen und beruhigen kann, daß sich nie der Schöpfer ins Geschöpf verliert.

Daher ist der Dichter, wie der Philosoph, ein Auge; alle Pfeiler in ihm sind Spiegelpfeiler; sein Flug ist der freie einer Flamme, nicht der Wurf durch eine leidenschaftlich-springende Mine. Daher kann der wildeste Dichter ein sanfter Mensch sein – man schaue nur in Shakespeares himmelklares Angesicht oder noch lieber in dessen großes Dramen-Epos –; ja der Mensch kann umgekehrt[57] auf dem Sklavenmarkte des Augenblicks jede Minute verkauft werden und doch dichtend sich sanft und frei erheben, wie Guido im Sturme seiner Persönlichkeit seine milden Kinder und Engelsköpfe ründete und auflockte, gleich dem Meere voll Ströme und Wellen, das dennoch ein ruhendes reines Morgen und Abendrot gen Himmel haucht. Nur der unverständigte Jüngling kann glauben, geniales Feuer brenne als leidenschaftliches, so wie etwan für die Büste des nüchtern-dichterischen Platons die Büste des Bacchus ausgegeben wird. Der ewig zum Schwindel bewegte Alfieri fand auf Kosten seiner Schöpfungen weniger Ruhe in als außer sich. Der rechte Genius beruhigt sich von innen; nicht das hochauffahrende Wogen, sondern die glatte Tiefe spiegelt die Welt.

Diese Besonnenheit des Dichters, welche man bei den Philosophen am liebsten voraussetzt, bekräftiget die Verwandtschaft beider. In wenigen Dichtern und Philosophen leuchtete sie aber so hell als in Platon, der eben beides war; von seinen scharfen Charakteren an bis zu seinen Hymnen und Ideen hinauf, diesen Sternbildern eines unterirdischen Himmels. Man begreift die Möglichkeit, wie man zwanzig Anfänge seiner Republik nach seinem Tode finden konnte, wenn man im Phädrus, der alle unsere Rhetoriken verurteilt, die besonnene spielende Kritik erwägt, womit Sokrates den Hymnus auf die Liebe zergliedert. Die geniale Ruhe gleicht der sogenannten Unruhe, welche in der Uhr bloß für das Mäßigen und dadurch für das Unterhalten der Bewegung arbeitet. Was fehlte unserem großen Herder bei einem solchen Scharf-, Tief- und Viel- und Weitsinne zum höhern Dichter? Nur die letzte Ähnlichkeit mit Platon; daß nämlich seine Lenkfedern (pennae rectrices) im abgemessenen Verhältnis gegen seine gewaltigen Schwungfedern (remiges) gestanden hätten.

Mißverstand und Vorurteil ists, aus dieser Besonnenheit gegen den Enthusiasmus des Dichters etwas zu schließen; denn er muß ja im Kleinsten zugleich Flammen werfen und an die Flammen den Wärmemesser legen; er muß mitten im Kriegfeuer aller Kräfte die zarte Waage einzelner Silben festhalten und muß (in[58] einer andern Metapher) den Strom seiner Empfindungen gegen die Mündung eines Rheins zu leiten. Nur das Ganze wird von der Begeisterung erzeugt, aber die Teile werden von der Ruhe erzogen. Beleidigt übrigens z.B. der Philosoph den Gott in sich, weil er, so gut er kann, einen Standpunkt nach dem andern zu ersteigen sucht, um in dessen Licht zu blicken, und ist Philosophieren über das Gewissen gegen das Gewissen? – Wenn Besonnenheit als solche könnte zu groß werden: so stände ja der besonnene Mensch hinter dem sinnlosen Tiere und dem unbesonnenen Kinde, und der Unendliche, der obwohl uns unfaßbar, nichts sein kann, was er nicht weiß, hinter dem Endlichen!

Gleichwohl muß jenem Mißverstand und Vorurteil ein Verstand und Urteil vor- und unterliegen. Denn der Mensch achtet (nach Jacobi) nur das, was nicht mechanisch nachzumachen ist; die Besonnenheit aber scheint eben immer nachzumachen und mit Willkür und Heucheln göttliche Eingebung und Empfindung nachzuspielen und folglich – aufzuheben. Und hier braucht man die Beispiele ruchloser Geistes-Gegenwart nicht aus dem Denken, Dichten und Tun der ausgeleerten Selbstlinge jetziger Zeit zu holen, sondern die alte gelehrte Welt reicht uns besonders aus der rhetorischen und humanistischen in ihren frechen kalten Anleitungen, wie die schönsten Empfindungen darzustellen sind, besonnene Gliedermänner wie aus Gräbern zu Exempeln. Mit vergnügter ruhmliebender Kälte wählt und bewegt z.B. der alte Schulmann seine nötigen Muskeln und Tränendrüsen (nach Peucer oder Morhof), um mit einem leidenden Gesicht voll Zähren in einer Threnodie auf das Grab eines Vorfahrers öffentlich herabzusehen aus dem Schul-Fenster, und zählt mit dem Regenmesser vergnügt jeden Tropfen.

Wie unterscheidet sich nun die göttliche Besonnenheit von der sündigen? – Durch den Instinkt des Unbewußten und die Liebe dafür.[59]

26

Denn Unbesonnenheit im Handeln, d.i. das Vergessen der persönlichen Verhältnisse verträgt sich so gut mit dichtender und denkender Besonnenheit, daß ja im Traume und Wahnsinne, wo jenes Vergessen am stärksten waltet, Reflektieren und Dichten häufig eintreten. Das Genie ist in mehr als einem Sinne ein Nachtwandler: in seinem hellen Traume vermag es mehr als der Wache und besteigt jede Höhe der Wirklichkeit im Dunkeln; aber raubt ihm die träumerische Welt, so stürzt es in der wirklichen.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 56-60.
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