§ 18
Schönheit oder Ideal

[74] Die zweite Hauptfarbe der Griechen, das Ideale oder das Schöne, mischt sich aus ihrer Helden- und ihrer Götter-Lehre und aus deren Mutter, der harmonischen Mitte aller Kräfte und Lagen. In der Mythologie, in diesem Durchgange durch eine Sonne,[74] einen Phöbus, hatten alle Wesen das Gemeine und den Überfluß der Individualität abgestreift; jeder Genuß hatte auf dem Olymp seinen Verklärung-Tabor gefunden. Ferner durch die wilden barbarischen Kräfte der Vorzeit, von der Entfernung ins Große gebildet, von früher Poesie ins Schöne gemalt, wurden Ahnen und Götter in ein glänzendes Gewebe gereihet und der goldene Faden bis in die Gegenwart herübergezogen, so daß nirgends die Vergötterung aufhörte. Mußte diese Nähe des Olymps am Parnasse nicht auch lauter glänzende Gestalten auf diesen herübersenden und ihn mit seinem himmlischen Lichte überziehen? – Eine Hülfe zur innern Himmelfahrt der Dichter war, daß ihre Gesänge nicht bloß auf, sondern meist auch für Götter gemacht waren und sich also schmücken und erheben mußten für ihre künftige Thronstelle in einem Tempel oder unter gottesdienstlichen Spielen. Endlich wenn Schönheit – die Feindin des Übermaßes und der Leere – nur wie das Genie im Ebenmaße aller Kräfte, nur im Frühling des Lebens, fast wie der Jahrszeit, blüht: so mußte sie in der gemäßigten Zone aller Verhältnisse am vollsten ihre Rosen öffnen; die Krampf-Verzerrungen der Knechtschaft, des gefesselten Strebens, des barbarischen Luxus, der religiösen Fieber und dergleichen waren den Griechen erspart. Gehört Einfachheit zum Schönen: so wurde sie ihnen fast von selber zuteil, da sie nicht, wie wir Nachahmer der Jahrhunderte, das Beschriebene wieder zu beschreiben und also das Schöne zu verschönern hatten. Einfachheit der Einkleidung wird nur durch Fülle des Sinns entschuldigt und errungen, so wie ein König und Krösus leicht in ungesticktem Gewande sich zeigt. Einfachheit an sich würde mancher bequem und willig nachahmen, aber was hätt' er davon, wenn er seine innere Armut noch in äußere einkleidete und in einen Bettler Rock den Bettelmusikanten? – Die geistige Plastik konnte so die Farbenzier verschmähen wie die körperliche jede an den Statuen, welche sich bloß mit der einzigen Farbe ihres Stoffs bekleiden.

Doch gibt es noch eine reine frische Nebenquelle des griechischen Ideals. – Alles sogenannte Edle, der höhere Stil begreift stets das Allgemeine, das Rein-Menschliche und schließt die Zufälligkeiten der Individualität aus, sogar die schönen. Daher die[75] Griechen (nach Winckelmann) ihren weiblichen Kunstgebilden das reizende Grübchen nicht liehen, als eine zu individuelle Bestimmung. Die Poesie fodert überall (ausgenommen die komische, aus künftigen Gründen) das Allgemeinste der Menschheit; das Ackergeräte z.B. ist edel, aber nicht das Backgeräte; – die ewigen Teile der Natur sind edler als die des Zufalls und des bürgerlichen Verhältnisses; z.B. Tigerflecke sind edel, Fettflecke nicht; – der Teil, wieder in Unterteile zerlegt, ist weniger edel39, z.B. Kniescheibe statt Knie; – so sind die ausländischen Wörter, als mehr eingeschränkt, nicht so edel als das inländische Wort, das für uns als solches alle fremde der Menschheit umschließt und darbietet; z.B. das Epos kann sagen die Befehle des Gewissens, aber nicht die Dekrete, Ukasen etc. desselben40 – so reicht und herrscht diese Allgemeinheit auch durch die Charaktere, welche sich erheben, indem sie sich entkleiden, wie Verklärte, des individuellen Ansatzes.

Warum oder daß vor uns alles in dem Verhältnisse, wie wir das Zufällige zurückwerfen, von Stufe zu Stufe schöner und lichter aufsteigt – so daß das Allgemeinste zugleich unvermutet das Höchste wird, nämlich endliches Dasein, dann unendliches Sein, nämlich Gott –: dies ist ein stiller Beweis oder eine stille Folge einer heimlichen angebornen Theodizée.

Nun sucht der Jüngling, welcher aus Güte, Unkunde und Kraft stets nach dem Höchsten strebt, das Allgemeine früher als das Besondere; daher ihm das Lyrische leicht und das Komische mit seiner Individualisierung so schwer wird. Die Griechen waren aber frische Jünglinge der Welt41; folglich half ihr schöner Lebensfrühling das Blühen aller idealen Geschöpfe begünstigen.[76]

39

Daher die Franzosen in ihren gebildeten Zirkeln das allgemeine Wort vorziehen, z.B. la glace statt miroir, oder spectacle statt théatre.

40

Im Lateinischen und Russischen gälte wieder das Umgekehrte aus demselben Grunde. Wenn man in dem zwar talent-verworrenen, doch talentreichen Trauerspiele Cadutti aus der höhern Region des Allgemeinen plötzlich durch die Worte: »Und was sich mildern lässet, Soll in der Appellations-Instanz gemildert werden« in die juristische Region herabstürzt: so ist eine ganze Szene getötet, denn man lacht bis zur nächsten.

41

Jugend eines Volks ist keine Metapher, sondern eine Wahrheit, ein Volk wiederholt, nur in größeren Verhältnissen der Zeit und der Umgebung die Geschichte des Individuums.

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 74-77.
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