§ 23
Quelle der romantischen Poesie

[93] Ursprung und Charakter der ganzen neueren Poesie läßt sich so leicht aus dem Christentume ableiten, daß man die romantische ebensogut die christliche nennen könnte. Das Christentum vertilgte, wie ein Jüngster Tag, die ganze Sinnenwelt mit allen ihren Reizen, drückte sie zu einem Grabeshügel, zu einer Himmelsstaffel zusammen und setzte eine neue Geister-Welt an die Stelle. Die Dämonologie wurde die eigentliche Mythologie48 der Körperwelt, und Teufel als Verführer zogen in Menschen und Götterstatuen; alle Erden-Gegenwart war zu Himmels-Zukunft verflüchtigt. Was blieb nun dem poetischen Geiste nach diesem Einsturze der äußern Welt noch übrig? – Die, worin sie einstürzte, die innere. Der Geist stieg in sich und seine Nacht und sah Geister. Da aber die Endlichkeit nur an Körpern haftet und da in Geistern alles unendlich ist oder ungeendigt: so blühte in der Poesie das Reich des Unendlichen über der Brandstätte der Endlichkeit auf. Engel, Teufel, Heilige, Selige und der Unendliche hatten keine Körper-Formen49 und Götter-Leiber; dafür öffnete das Ungeheuere und Unermeßliche seine Tiefe; statt der griechischen heitern Freude erschien entweder unendliche Sehnsucht oder die unaussprechliche Seligkeit – die zeit- und schrankenlose Verdammnis – die Geisterfurcht, welche vor sich selber schaudert – die schwärmerische beschauliche Liebe – die grenzenlose Mönchs-Entsagung – die platonische und neuplatonische Philosophie.

In der weiten Nacht des Unendlichen war der Mensch öfter[93] fürchtend als hoffend. Schon an und für sich ist Furcht gewaltiger und reicher als Hoffnung (so wie am Himmel eine weiße Wolke die schwarze hebt, nicht diese jene), weil für die Furcht die Phantasie viel mehr Bilder findet als für die Hoffnung; und dies wieder darum, weil der Sinn und die Handhabe des Schmerzes, das körperliche Gefühl, uns in jedem Haut-Punkte die Quelle eines Höllenflusses werden kann, indes die Sinnen für die Freude einen so magern und engen Boden bescheren. Die Hölle wurde mit Flammen gemalt, der Himmel höchstens durch Musik50 bestimmt, die selber wieder unbestimmtes Sehnen gibt. So war die Astrologie voll gefährlicher Mächte. So war der Aberglaube öfter drohend als verheißend. Als Mitteltinten der dunkeln Farbengebung mögen noch das Durcheinanderwerfen der Völker, die Kriege, die Pesten, die Gewalt-Taufen, die düstere Polar-Mythologie im Bund mit der orientalischen Sprach-Glut dazukommen und gelten.

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Man weiß, wie nach den Manichäern die ganze Körperwelt den bösen Engeln zugehörte, wie die Orthodoxen den Fluch des Sündenfalls auf alle Kreaturen ausdehnten u.s.w.

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Oder das Überirdische knüpfte sich an unkünstlerische Verkörperungen, an Reliquien, Kreuze, Kruzifixe, Hostien, Mönche, Glocken, Heiligenbilder, die alle mehr als Buchstaben und Zeichen denn als Körper sprachen. Sogar die Taten suchten das Körperliche zu entbehren, d.h. die Gegenwart: die Kreuzzüge suchten eine heilige Vergangenheit mit einer heiligen Zukunft zu verbinden. So die Legenden der Wunderwerke. So die Erwartung des Jüngsten Tags.

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Half nicht vielleicht der unbestimmte romantische Charakter der Musik es miterzeugen, daß gerade die nebligen Niederlande viel früher große Komponisten bekamen als das heitere helle Italien, das lieber die Schärfe der Malerei erwählte, so wie aus demselben Grunde jene mehr in der unbestimmten Landschaftmalerei idealisierten und die Welschen mehr in der bestimmten Menschengestalt?

Quelle:
Jean Paul: Werke. Band 5, München 1959–1963, S. 93-94.
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