An einen Freund der melancholisch den Tod einer Freundin beweinte

[42] Der du mit finstern Blicken ganz verächtlich

Glück, Ruhm und Freuden übersiehst,

Nicht mehr Lorenzo bist, und einsam mitternächtlich

Ein andrer Young, den Schlummer fliehst,


Und jammernd sitzest, hier, wo die Gebeine

Der Freundin ruhn, mit Sand bestreut;

Die Freundschaft führt mich nach, auf daß ich mit dir weine,

Gerührt durch deine Traurigkeit!


Auf meine Leyer will ich ernste Saiten

Mit fromm gewordnen Händen ziehn,

Will singen, wie der Geist sich feyerlich bereiten

Soll, in die obre Welt zu ziehn!
[43]

Den Tod und seinen vollgefüllten Köcher,

Aus dem er Pfeil an Pfeile nimt;

Den Regenbogen-Thron, besessen von dem Rächer

Der Frevler für die Glut bestimmt;


Die Donner des Gerichtes, wie sie rollen

Von Pol zu Pol, und, wie alsdann

Gebürge vor dem Zorn den Sünder decken sollen,

Der nicht den Blick ertragen kan,


Mit dem der Richter von des Himmels Höhe

Ihn zürnet in den Pfuhl hinab!

Er stürzt; o, wenn doch nur den Höllensturz nicht sähe,

Der Engel, den der Herr ihm gab!


Freund, also will ich singen, daß dich Schauer

Ergreifen sollen, wenn du hörst,

Bis daß du deine hochgeliebte süsse Trauer

Die Wollust deines Herzens mehrst.
[44]

Das Rauschen meines Liedes soll dich fassen

Und mit dir über Wolkengang

Zu deiner Freundin fliehn, und plözlich dich verlassen,

Bey ihrem himmlischen Gesang!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 42-45.
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