Klagen einer Witwe

[56] Mir zur Last fühl ich mein Leben,

Einsam finden meine Tage mich,

Die mit Wolken sind umgeben;

Keiner hüllt aus seinem Nebel sich.

Alles mein Vergnügen

Muß im Staube liegen!

Ach wie ganz hat mich der Tod beraubt!

Wie der kalte Herbst den Garten,

Den er ganz entlaubt.
[57]

Todtenblässe überziehet

Mein von Thränen nasses Angesicht,

Wenn mein Herz, das mir entfliehet,

Mit Bewohnern kalter Gräber spricht.

Auf dem Leichensteine,

Sitz ich dann und weine

Meinen Jammer in den dürren Sand,

Der das beste Herz bedecket,

Das für mich empfand!


Dunkler sind mir meine Nächte

Als Egyptens dicke Mitternacht.

Wenn der Tag den Cörper schwächte,

Wird die Nacht mit trübem Gram durchwacht!

Vor mir hin verbreiten

Sich verfloßne Zeiten!

Als mein Freund mir an der Seite lag,

Ach da fand im Arm der Freude

Mich der junge Tag!
[58]

Unter dem Tumult der Sorgen

Werd ich jezt die Sonne nicht gewahr!

Mir erscheint kein heitrer Morgen

Und für mich becränzt sich nicht das Jahr!

Blumen, Lenz und Lieder

Sind mir nur zuwieder,

Und das grüne Thal ergözt mich nie,

Selbst die Nachtigallen singen

Mir Melancholie!


Rauscht ihr silberklaren Bäche!

Rausche stärker, du zu stille Spree!

Wiederhohle was ich spreche,

Wenn ich um dein Ufer wankend geh.

Ihr verschwiegnen Linden,

Mein betrübt Empfinden

Grab ich tief in eure Stämme ein,

Und ihr sollt von meinem Jammer,

Das Geschichtbuch seyn.
[59]

Du, o Mond mit voller Wange,

Sey ein Zeuge, wie betrübt ich bin!

Und wenn ich noch Trost verlange

Blickt auf mich, ihr Sterne! Mitleid hin.

Seht die Thränen rollen

Die euch sagen sollen,

Daß mein Schicksal hart mit mir verfuhr.

Ach, ich bin noch Freuden-loser,

Als die öde Flur!


O, ihr Bürger jener Welten

Die ihr über meinem Haupte wohnt!

Hört, wie ich den Tod muß schelten

Daß er unbarmherzig mich verschont.

Aber nein, vernehmet!

Wie mein Herz sich schämet,

Daß es ungeduldig sich empört,

Und den Willen eures Schöpfers

Murrend hat entehrt!
[60]

Nie will ich dem Leben fluchen

Selbst mein Kummer soll mir heilig seyn.

Oft will ich den Staub besuchen,

Und ihm eine stille Thräne weyhn.

Der entflogne Schatten

Meines theuren Gatten,

Lächelt dann mit euch auf mich herab,

Und behorcht die frommen Seufzer

Hingestöhnt aufs Grab!

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Auserlesene Gedichte, Berlin 1764, S. 56-61.
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