|
[72] Halberstadt, den 29. Septbr. 1761.
Sie eilt, wir müssen sie haschen
O Freund, die fliehende Zeit,
Komm zum befruchteten Garten,
Der Herbst hat Freuden für uns.
Brich diese lockende Aepfel:
Sie lächeln unter dem Laub,
Wie Wangen blühender Mädchen,
Für Dich gereifet, hervor.
[72]
Die schlanken, neidischen Aeste,
Für Deine Griffe zu hoch;
Hilf mit dem hüpfenden Fuße
Der Hand, und pflücke die Frucht.
Du hast sie. Lohnender Arbeit
Verrichtung nennen wir Lust.
Wie viel bestrebten sich Hände
Nach Deinem Herzen umsonst!
Sieh diesen höckrigten Apfel:
Wie seine Brüder geblüht
Hat er in währender Bildung,
Und dennoch ward er ein Zwerg.
In seinem Fleische genähret
Ward der fortfressende Wurm:
So wächst mit kommenden Tagen
Im Knaben Bosheit herauf,
Der nicht vom Hauche des Lebens,
Als ein kaum werdender Mensch,
Zu großen schönen Gedanken
Beseelt geworden, wie Du.
[73]
Sieh der hartschäligen Nüsse
Herunterfallen vom Baum:
Ihn zwingt der schlagende Jüngling,
Sonst würf er keine herab.
So schließt der Geizige treulich
Ans Herz gesammeltes Gold,
Verschließt die kargende Rechte
Dem Armen, welcher ihn fleht.
Darbt im Besitze des Reichthums,
Schmeckt nie den köstlichen Wein,
Und nie den süßeren Nektar
Der Freundschaft, die er nicht fühlt.
Laß ihm die magere Wollust.
Er ruh auf todtem Metall:
Wir, in der deckenden Laube,
Beneiden Könige nicht.
Genieß mit Augen des Geizes
Das bald hinsterbende Grün
Im Garten unter den Bäumen.
Schon macht der nächtliche Reif
[74]
Die Blätter alle zu Kranken:
So reißt die mächtige Zeit,
Und ein durchdringendes Fieber
Den Reiz vom Menschen dahin.
Spät in dem Sommer des Lebens
Sind wir, sie fliehen zu schnell
Die Stunden, brauche sie frölich,
Uns macht das Alter zu Eis.
[75]
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1792)
|
Buchempfehlung
Noch in der Berufungsphase zum Schulrat veröffentlicht Stifter 1853 seine Sammlung von sechs Erzählungen »Bunte Steine«. In der berühmten Vorrede bekennt er, Dichtung sei für ihn nach der Religion das Höchste auf Erden. Das sanfte Gesetz des natürlichen Lebens schwebt über der idyllischen Welt seiner Erzählungen, in denen überraschende Gefahren und ausweglose Situationen lauern, denen nur durch das sittlich Notwendige zu entkommen ist.
230 Seiten, 9.60 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro