An den kleinen von K. über die Landkarte von Persien, Griechenland und ganz Asien

[98] Mein Wilhelm! Strecke nicht die zarte

Die kaum gebaute Kinderhand

Nach dieser kunstbezognen Karte,

Du kennest weder See noch Land.


Wenn sieben Sommer sind entwichen

Und Dein Verstand begreifen kann,

Da staunst Du bey den seinen Strichen

Des Alexanders Feldzug an.
[98]

Dir zeiget Deiner Mutter Finger

Viel Königreiche, die der Gang

Und Anblick von dem Städtezwinger

Schnell unter seine Füße zwang.


Du siehst den Hellespont und hörest

Von Xerres stolzen Uebermuth,

Du siehst Thermopylä und ehrest

Der Griechen edle Heldenwuth.


Das Vaterland der alten Dichter,

Die schon Jahrtausende geglänzt

Wie um den Mond die Sternenlichter,

Von der Unsterblichkeit gekränzt.


Athen und Lesbos siehst Du Knabe,

Und Theben und Lacedämon,

Und fragst nach des Homerus Grabe,

Und fragst: Wo schläft Anacreon?


Wo Sophocles? Achill? und jener

Berühmte Pindar? und Socrat,

Der Philosoph, der als ein schöner

Erhabner Geist im Tode that?
[99]

Wo schlummern Helden? wo die Weisen,

Von welchen die Geschichte sagt,

Nach welchen auf entfernten Reisen

Des Jünglings Neubegierde fragt?


O beste Mutter! alle diese

Berühmte Männer sind dahin,

Wie Herbstgras von gemähter Wiese;

Nichts schont des Schicksals Eigensinn.


Nichts blieb zurück als ihre Tugend

Und ihres großen Geistes Ruhm –

Geliebte! Treib Du meine Jugend

Stets in der Weisheit Heiligthum!
[100]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 98-101.
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