An eine Dichterin,

welche das Klavier spielte

[78] 1767.


Des Jovis, der Latona Sohn

Hat mir ein Saitenspiel gegeben;

Du aber kannst im süßen Ton

Die Stimme zum Gesang erheben.


Dein Finger hüpfet wie der West,

Der an dem schönsten Tag des Mayen

In jugendliche Blumen bläst,

Die Deines Lieblings Blick erfreuen.


Hör auf, geliebte Zauberin!

Hör auf zu singen und zu spielen;

Ich brenne, da ich weiblich bin,

Was wird nicht dieser Jüngling fühlen,
[78]

Der über Deine Schultern sieht,

Bald Deinen weißen Hals betrachtet

Bald dieses Auge, welches glüht

Und redet, und im Sprechen schmachtet?


Hör auf, o Mädchen! jeder Schlag

Dringt tiefer in des Jünglings Busen,

Und das, was Dein Klavier vermag,

Vermag kaum eine von den Musen.
[79]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 78-80.
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