An Milon

[288] Einfältig machte die Natur

Mein Herz und meine Sinnen;

Beständig lieben kann ich nur,

Und alle mein Beginnen,

Mein Dichten, Trachten, Wunsch und Flehn

Bestehet bloß darinnen

Dich aufzusuchen und zu sehn

Und Deinen Blick zu fühlen.

Ich habe nie daran gedacht

Dir einen Streich zu spielen;

Doch gestern hab ichs fein gemacht,

O laß Dirs nur gestehen:

Die Rose, die ich Dir gebracht

Fing schon an zu vergehen,[288]

Sie fiel dir endlich aus der Hand.

Du hubst sie auf und bliesest

Den Staub von ihr, und ich empfand,

Was du ihr jetzt erwiesest,

Die Ehre, die ihr ward gethan.

Saß hinter dir mit Lauschen

Scharfaugicht wie ein Falk, und san

Darauf, sie umzutauschen.

Und das gelang mir gar zu gut:

Sie lag vor meinem Blicke

Ganz säuberlich in deinem Huth;

Und mir zum großen Glücke

Sprachst du mit irgend einem Hirt.

Husch fuhr ich zu, und raubte

Die Rose, die mich stärken wird,

Bey schon gesunknem Haupte.

Husch legt ich eine größre hin

Mit unverwelkten Blättern,

Und dankete mit frohem Sinn

Herzinnig allen Göttern,

Daß ich den Streich so klug gespielt,

Nicht ohne Furcht und Beben

Hab ich den süßen Raub erzielt,

Du wirst mirs doch vergeben?
[289]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 288-290.
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