Jupiter und sein Adler

[26] An den Verfasser des Gesanges Ptolomäus und Berenice.


1765.


Freund! des Olympus Götter leerten

Jüngst ihre Nektarschaalen nicht,

Sie ließen sich herab und hörten,

Auf Wolken lauschend, Dein Gedicht.


Die Wonnelächelnde Cythere

Trat zur Olympia, und sprach:

Welch Sterblicher singt mir zur Ehre

So lieblich dem Apollo nach?


Wie einst Homer ihm nachgesungen,

Als er des Donnergottes Trieb

Und neue süße Schmeichelungen

Und meines Gürtels Macht beschrieb?
[26]

So sagte Venus, und die große

Verfolgerinn des Herkuls schwieg,

Als von des Wolkenlenkers Schooße

Selbst Ganimed zur Erde stieg;


Und selbst der Adler von dem Sitze

Des Gottes sich erhub, und kühn

Zurückwarf die getragnen Blitze,

Und auf dem Haine vor Berlin


Sein ewig glänzendes Gefieder,

Indem er horchte, niedersank,

Und Jupiter ihm rief: Komm wieder!

Und bringe mir zum Göttertrank.


Das goldne Trinkgefäß, und bringe

Des Dichters Lied darin gelegt,

Daß der Latona Sohn es singe,

Wenn er vor uns die Cyther schlägt;


Und trag in deiner rechten Klaue

Der Berenice Locke, die

Ich dir auf immer anvertraue;

Statt meiner Blitze führe sie!
[27]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 26-28.
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