Ueber die Begierden und Wünsche

[22] An den jungen Herrn von der H*st.


O glaube mir, der Du im Jünglingsfuße

Die Flüchtigkeit des Rehes hast,

Du wünschest viel, und bist doch im Genusse,

Was Du erwünschest, satt.


Der Garten lockt; Du girrest gleich der Taube,

Die lange Zeit verlassen ward:

»Freund, laß mich gehn zum Rosenstock. – Erlaube,

Mein lieber Eberhard?«


Er wird besiegt durch süße Schmeicheleyen,

Wie von der Juno Jupiter,

Du hüpfest fort, und alsobald erfreuen

Die Blumen Dich nicht mehr.
[22]

Dir ekelt vor dem Honigduft der Rose,

Wie Jakobs Enkeln vor dem Mann;

Dein Auge blickt gleich einem Gräbermoose

Die grüne Myrthen an.


Dein Busen schwillt von neuen Wünschen schwanger

Bis an das glatte Kinn herauf,

Der Sommertag ist dir ein leerer, langer

Beschwerter Stundenlauf.


Dein Führer braucht bey mancher ungestümen

Begierde, die Dein Busen fühlt,

Mehr Kraft, als Nestor, der die Lenkungsriemen

Der scheuen Rosse hielt,


Da Diomed wie Mars daher gefahren

Vor Ilium, bis seinem Drohn

Des Donnergottes Blitze schrecklich waren

Und er zurückgeflohn.
[23]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 22-24.
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