An die Ostersonne

[270] 1791.


Ostersonne! du bist schön

Meiner Freundin aufgegangen,

Kinder werden um sie stehn,

Ihren Seegen zu empfangen,

Und dazu ein buntes Ei,

Und ich hoffe, daß sie heiter

Wie der Ostermorgen sey,

Hoffe, daß sie mich noch weiter

Lieb behalten wird, ob ich

Gleich ihr Antlitz nicht mehr sehe –

Osterwasser läßt Sie sich

Wol nicht schöpfen in der Nähe

Aus der Elbe, wo du dich

Dreymal hüpfend hast gespiegelt,

Sie will nicht verschönert seyn –

Grüße hat Sie fortgeflügelt,

Und vielleicht ist einer mein

Unter diesen Ostergrüßen,

Und in diesem Erdenthal

Werd ich heute Dich genießen

Ganz gewiß zum letztenmal;

Denn ich darf nichts mehr versuchen[270]

Vom gebratnen Osterlamm,

Oder auch vom Osterkuchen;

Ich bin wie ein Weidenstamm,

Den der Wurm ganz hohl gefressen

Und die Fluth halb abgespühlt

Von dem Raum, wo er gesessen.

Meine Seele lebt und fühlt

Nur noch deinen Glanz, du milde

Süße Knospenöfnerin!

Nur mein Auge sicht noch hin

Ins beblümte Grasgefilde,

Bleibt noch munter, bis es bricht;

Brechen wirds eh du vorhanden

Wieder bist, und singen hörst:

Von dem, den du hüpfend ehrst,

Er sey auferstanden –

Auferstehen soll auch ich,

Aber ob mit diesem Leibe,

Den du wärmest, wenn ich dich

Sehe durch die Fensterscheibe,

Ob mit dieser welken Haut

Und mit diesen morschen Knochen?

Ob mein Grab wird durchgebrochen

Von dem Kopfe, der jezt sich

In die Höhe kann erheben,

Wenn die Nacht dem Tage wich[271]

Und du Thätigkeit gegeben

Einer halben Welt wie mir –

Ob du mich siehst auferstehen,

Oder ob auch deine Zier

Mit den Bergen untergehen,

Mit den Thürmen stürzen muß? –

Ach! dies kann kein Weiser sagen,

Und ich wills auch beim Genuß

Nicht ergrübeln, nicht erfragen,

Will genießen deinen Glanz

In des jungen Frühlings Tagen,

Will mir einen Blumenkranz

Noch um meine Schläfe winden,

Wo sich hin und wieder nur

Läßt ein graues Härlein finden,

Des gestiegnen Alters Spur.-

Soll mir nun mein Auge brechen,

Ehe noch ein Jahr entschlüpft

Und von dir viel Christen sprechen,

Daß du dreimal aufgehüpft

An des Ostertages Morgen,

Dann hab' ich den Engel lieb,

Der aus einer Welt voll Sorgen

Mich in eine beßre trieb –
[272]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 270-273.
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