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[121] Da ist ein Buch, geschwärzt und halb verbrannt,

Wonach der Mann in Todesangst gesandt;

Ein Jüngling wagte dran sein junges Blut

Und trug's mit keckem Arme aus der Glut.


Und gierig stürzt der Mann sich auf das Buch

Und – wirft es weg mit einem derben Fluch!

Sein dickes Schuldnerbuch hatt er gemeint!

Nun liegt – die Bibel vor dem guten Freund.


Wie arg und undankbar ist diese Welt!

Wie schmählich nun der alte Mann sich stellt![121]

Erinnert ihn die Bibel nicht mehr dran,

Wie gütlich er sich oft an ihr getan?


Wenn er am Sonntagabend vor ihr saß

Und schmunzelnd dann von dem Kamele las,

Dem Nadelöhre und dem Himmelreich,

Wie ward ihm das Gemüt da froh und weich!


Wie manchen Bettler, hungerig und matt,

Macht' er mit schönen Bibelsprüchen satt,

Beteurend hoch und feierlich dabei,

Daß dies sein reichster Trost und Hausschatz sei!


Nun liegt das alte Buch zertreten hier,

Im Feuer blieb der Ecken Silberzier;

Zerrißnen Angesichtes liegt im Kot

Das einst so hoch gepriesne Lebensbrot.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 121-122.
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