Abendlied an die Natur

[7] Hüll mich in deine grünen Decken

Und lulle mich mit Liedern ein!

Bei guter Zeit magst du mich wecken

Mit eines jungen Tages Schein!

Ich hab mich müd in dir ergangen,

Mein Aug ist matt von deiner Pracht;

Nun ist mein einziges Verlangen,

Im Traum zu ruhn durch deine Nacht.


Der Kindesaugen freudig Leuchten

Schon fingest du mit Blumen auf,

Und wollte junger Gram sie feuchten,

Du legtest weiche Lindrung drauf.

Ob wildes Hassen, maßlos Lieben

Mich seither auch gefangen nahm,

Bin ich doch immer Kind geblieben,

Wenn ich zu dir ins Freie kam!


Geliebte, die mit ew'ger Treue

Und ew'ger Jugend mich erquickt,

Du einz'ge Lust, die ohne Reue

Und ohne Nachweh mich entzückt!

Sollt ich dir jemals untreu werden,

Dich kalt vergessen, ohne Dank:

Dann ist mein Fall wohl nah auf Erden,

Mein Herz verdorben oder krank!
[7]

O steh mir immerdar im Rücken,

Bin ich im Feld mit meiner Zeit!

Mit deinen hellen Mutterblicken

Ruh auf mir, auch im wärmsten Streit!

Und sollte mich mein Stündlein finden,

Schnell decke mich mit Rasen zu!

O selig Sterben und Verschwinden

In deines Urgrunds tiefste Ruh!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 7-8.
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