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[84] Wie ein Fischlein in dem Netz

Hat der Dom mich eingefangen,

Und da bin ich festgebannt –

Warum bin ich hingegangen?

Ach! wie unter Kürbisblüten

Morgenfeucht ein Röslein blitzt:

Zwischen breiten Bürgersfrauen

Dort mein feines Liebchen sitzt!


Die Gemeinde schläft und schnarcht,

Wie das Laub im Walde rauschet,

Und der Bettler an der Tür

Wie ein Räuber auf sie lauschet.

Doch ein freundlich Wiesenbächlein

Murmelnd durchs Gebüsche flieht:

So die lange, dünne Predigt

Schlängelnd um die Pfeiler zieht!


Eichenbäume, alt und schlank,

All die gotischen Pfeiler ragen,

Hoch ein zierlich Blätterdach

Ihre breiten Äste tragen;

Drunter durch spielt hin und wieder

In den Dämmer der Sonnenschein –[84]

Wachend sind in dieser Stille

Nur mein Lieb und ich allein.


Zwischen uns spinnt sich ein Netz

Buntgefärbter Sonnenstrahlen,

Die den Taufstein mittendrin

Feenhaft ganz übermalen.

Rosenketten, Liebesgötter

Flattern um den alten Knauf,

Darob wacht in unsren Herzen

Eine heiße Sehnsucht auf!


Weit hinaus, ins Morgenland,

Komm, mein Schatz, und laß uns fliehen!

Wo die Palmen schwanken am Meer,

Rosen hoch wie Feuer glühen,

Flutend um die große Sonne

Grundlos tief die Himmel blaun:

Angesichts der freien Wogen

Frei und ewig uns zu traun!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 84-85.
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