19

[89] Unverhofft nach trüben Tagen

Ist der heitre Lenz erschienen,

Und die aufgewachte Erde

Überhaucht ein zartes Grünen;

Und mit bunten Sonnenschirmen

Mädchen in den Gärten gehen,

Wanderer vorüberziehend

Nach den schönen Blumen spähen.
[89]

Unter all den hellen Fenstern,

Die der Sonne offen stehen,

Ist ein einziges verschlossen

Vor dem lauen Frühlingswehen.

Eine Hyazinthe duftet

Vor den blendenden Gardinen;

Aber eine kranke Jungfrau

Atmet bange hinter ihnen.


Ihr zu Häupten sitzt die Mutter

Und die Schwester ihr zu Füßen,

So, verhaltend bittre Tränen,

Einen Dritten leis sie grüßen.

Und in ihren Blicken liest er,

Daß der Herbst hat wahr gesprochen,

Daß die Hoffnung ist vernichtet

Und die Lilie gebrochen! –


So den stillen Tod zu sehen

In den lichten, himmelblauen

Augen eines kranken Liebchens:

Wahrlich, 's ist ein seltsam Schauen,

Wenn die weißen Todesrosen

Gar so stolz und sieghaft prangen

Auf der Liebsten ausgeglühten,

Bleichen, bleichen Marmorwangen!


Blühe, milde Grabesblume!

Blühe und verblühe selig!

Noch ein kurzer, heißer Sommer,

Und auch ich bin überzählig!

Wie die linden Maienlüfte

Deine Blüte sanft entblättern,

So wird meine Krone fallen

In des Herbstes rauhen Wettern!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 89-90.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte: Eine Auswahl
Gedichte in einem Band
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Sämtliche Werke in sieben Bänden: Band 1: Gedichte
Gottfried Keller's Traumbüchlein. Aufzeichnungen, Gedichte, Prosa