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[92] Ich habe sie gesehen

Auf Blumen in einem Sarg;[92]

Das bleiche, traute Antlitz

Ein weißes Tüchlein barg.


Ich hob es in die Höhe

Und legte meine Hand

Auf ihre dunklen Augen,

Auf ihre kalte Hand!


Auf ihre verschloßnen Lippen –

Fahr wohl, du blühendes Rot! –

O weh mir, ich mußte sagen:

Nun wahrlich ist sie tot!


Da liegt die edle Rose,

Die einst so purpurn gelacht!

Es hat ein fremder Künstler

Eine weiße aus ihr gemacht.


Da liegt sie so starr und traurig,

Als hätte sie nie gelebt;

Ach Gott, es nimmt mich wunder,

Wo ihre Seele schwebt!


Kein Laut, kein Hauch, kein Ahnen,

Kein Flüstern um mich her!

Der Leib und ich in der Kammer –

Sonst alles still und leer!


Ich habe gespielt mit dem Leben

Und habe den Tod verlacht,

Nun ist er über mich kommen

Ganz höhnisch über Nacht!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 92-93.
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