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[149] Wohlan, ihr neunmal Weisen!

Ich fordre euch heraus!

Baut ihr aus Stahl und Eisen

Und Marmor euer Haus:

Bau ich aus Rosendüften

Und Mondschein mir ein Schloß;

Drin biete ich euch allen Hohn

Und eurem Schülertroß!


Die goldnen Sonnenstrahlen

Sind meine Lanzen scharf;

Die Blumen in den Talen

Sind all mein Schießbedarf!

Die Tannen auf den Bergen

Sind meine Wächtersleut,

Des Himmels Sterne allzumal

Mein glänzend Heer zum Streit.
[149]

Mein Oberstfeldzeugmeister

Ist meine Phantasie,

Denn ihre guten Geister

Verließen mich noch nie;

Und meine Kriegeskasse

Der Quellen Silberschaum,

Mein lustig säuselnd Lagerzelt

Des Waldes grüner Baum!


Und meine Siegsstandarte,

Die ist das Morgenrot!

Und meine Feldherrnkarte,

Die ist das Abendrot!

Mein Tambour ist der Donner,

Der in den Bergen rollt,

Trompeter ist der wilde Sturm,

Der auf den Meeren grollt.


Die Wolken sind Trabanten,

Die meine Stimme ruft,

Und meine Adjutanten

Die Adler in der Luft.

Die fliegen und die spähen

Hinaus in alle Welt.

Mein Dichterherz ist Feldmarschall,

Das ist ein guter Held.


Ich schicke dir entgegen,

O Feind! die Nachtigall:

Die bringt mit ihren Schlägen

Dich alsogleich zu Fall.

Ich werde lassen spielen

Mein duftendes Geschütz,

Und euer Eis vergehen soll

An meiner Waffen Blitz.
[150]

Gott hat zu seinem Zeugen

Erschaffen den Gesang,

Der wird nun nimmer schweigen

Die Ewigkeit entlang.

In seinen Zauberwellen

Versinkt der letzte Spott!

Solange noch ein Dichter singt,

So lange lebt auch Gott!


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 149-151.
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