Grillen

[172] Die Poesie ist wie ein Kind,

Das einsam Kränze windet,

Bald lacht und plaudert mit dem Wind,[172]

Bald einen Schwank erfindet

Und wunderliche Märchen spinnt,

Dann innehält und traurig sinnt.


Als ich vergangne Mitternacht

In düsterm Sinnen schwebte,

Da hab ich still und bang gedacht:

Wie, wenn nicht mehr erlebte

Ich nun den Morgenglockenschlag?

Wer weiß denn, was geschehen mag?


Da schrieb ich einen langen Brief

An alle, die mich lieben;

Was mir im Herzen wacht' und schlief,

Hab ich hineingeschrieben,

Damit beim Scheiden aus der Welt

Mein Haus, mein Herz sei wohl bestellt.


Ich schrieb mein ganzes Leben auf

Und auch mein ganzes Wissen;

Irrtümer wuchsen mir zu Hauf,

Ich zählte sie beflissen;

Folgt auch des Guten schönrer Spur,

Doch war's fast eine Nachschrift nur!


Den Lieblingsdichter legt ich hin,

Daneben aufgeschlagen,

Als wär das Fehlende darin

Für Freunde zu erfragen;

Und den und jenen guten Spruch

Bezeichnet ich in manchem Buch.


Darauf verbrannt ich viel Papier

Und räumte in den Schränken,[173]

Stürzt um mein leeres Trinkgeschirr,

Und auf den Fensterbänken,

Wo ein paar magre Sträucher blühn,

Legt ich gebrochne Knospen hin.


Drin ich in Tagen, rauh und mild,

Bald sang und wieder weinte:

Ich schuf mein Zimmer so zum Bild,

Wie ich zu sein vermeinte;

So war ich endlich konterfeit

Nach tief geheimster Eitelkeit.


Mit grauendem Gedankenspiel

Legt ich mich sodann nieder;

Doch bald versanken tief im Pfühl,

Entschlafen, Haupt und Glieder.

Die Todesphantasie, ein Schaum,

Zerfloß im trivialsten Traum.


Und auch der Traum floh vor dem Tag;

Und ich erschrak, erwachend,

Als ich da schnell besonnen lag,

Das Leben mich umlachend.

Wie war mir wunderlich und fremd

Im angemaßten Leichenhemd!


Das Zimmer war voll Sonnenschein

Und von der Drossel Schmettern,

Ein Hagel schlug zum Fenster ein

Von weißen Blütenblättern;

Der Frühlingsschimmer überflog

Den Totenkram, den ich erlog.
[174]

Und auch der Brief, den ich gemacht,

War glänzend überzogen;

Ich las nun wieder mit Bedacht

Den vollgeschriebnen Bogen;

Am Ende aber, klar und rein,

Noch ein paar Zeilen Sonnenschein:


»Du magst noch fürder unentwegt

In dieser Lenzluft hauchen:

Wie jetzt dein Leben Wogen schlägt,

Ist's drüben nicht zu brauchen.

Es bricht kein Herz so arm und klein,

Es muß dem Tod gewachsen sein.


Doch baue nicht zu sehr darauf!

Gott wird uns Tage senden,

Die mit verdoppelt schnellem Lauf

Die schwerste Arbeit enden,

Wo mancher Geist, der sinnt und schweift,

Im Sturm dem Tod entgegenreift.«


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 172-175.
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