Tagelied

[78] Du willst dich freventlich emanzipieren

Und aufstehn wider mich mit keckem Sinn,

Ein rotes Mützlein und die Zügel führen,

Du schöne kleine Jakobinerin?
[78]

Zur Politik nun auch dein Wörtlein sagen,

Die Spindel meidend in den Ratsaal fliehn?

Wohl gar mit weißer Hand die Trommel schlagen,

Wann einst wir gegen die Tyrannen ziehn?


Berufest dich auf meine eignen Lehren

Von Freiheit, Gleichheit und von Menschenrecht?

O laß, mein Kind, mit Küssen dich bekehren,

Dies eine Mal errietest du mich schlecht!


Die Ketten all, von denen ich entbinden

Die Völker möchte, o Geliebte mein!

Als Blumenketten eng dir umzuwinden

Wird einzig nur mein Tun und Trachten sein.


Ich will dir einen festen Turm erbauen

Und drin ein Kämmerlein von Seide weich;

Da sollst du nur des Himmels Sterne schauen

Und mich, den Kerkermeister, froh und reich!


Nie laß ich dich dein langes Haar beschneiden,

Damit dein Denken um so kürzer sei;

So räch ich an dem Weibe Simsons Leiden

Und bleibe ungeschoren, stark und frei!


Solang die lieben Nachtigallen schlagen,

Leb ich in dir ein Stück Unendlichkeit;

Doch flieht die Nacht und will's auf Erden tagen,

Eil ich für dich und mich zum Kampf der Zeit.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 78-79.
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