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[119] Als endlich sie den Sarg hier abgesetzt,

Den Deckel hoben noch zu guter Letzt,

In jenem Augenblick hab ich gesehn,

Wie just die Sonne schied im Untergehn.


Beleuchtet von dem abendroten Strahl

Sah ich all die Gesichter noch einmal,

Den Turmknopf oben in der goldnen Ruh –

Es war ein Blitz, sie schlossen wieder zu.


Ich sah auch zwischen Auf- und Niederschlag,

Wie Märzenschnee rings auf den Gräbern lag;

Das Wetter muß seither gebrochen sein,

Denn feucht dringt es in diesen leichten Schrein.


Ich hör ein Knistern, wie wenn sacht und leis

Sich Schollen lösen von des Winters Eis;

Ich ärmster Lenzfreund bin ja auch erwacht

Und kann nicht regen mich in dunkler Nacht!


Wie jeglich Samenkorn sich mächtig dehnt,

Der junge Halm ans warme Licht sich sehnt,

So reck ich den gefangnen, meinen Leib,

Doch ist's ein fruchtlos grimmer Zeitvertreib!


Hört man nicht klopfen laut da obenwärts

Hier mein zum Blühen so bereites Herz?

Sie wissen nicht, wie es da unten tut,

Und keine Wünschelrute zeigt dies Blut!
[119]

Käm auch geschlichen so von ungefähr

Ein alter Schatz- und Quellengräber her,

Sein Stäblein, nur auf Geld und Gut gericht,

Es spürt' das warme rote Brünnlein nicht.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 119-120.
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