Morgenwache

[294] Nun, da diese alten Herrn

Tief im Rausche sanken,

Oben auch von Stern zu Stern

Morgennebel wanken:

Rücken wir zusammen

Unterm Gartentor,

Jetzt in neuen flammen

Schlägt die Lust empor!


Daß der junge Sonnenball,

Rollt er auf den Hügeln,

Sich im funkelnden Kristall

Klärlich kann bespiegeln:

Halten wir entgegen

Becher ihm und Glas!

Fließe, goldner Regen,

Glühe, dunkles Naß!
[294]

Jungfrau! Geh und sieh mir nach

Rings in allen Gärten,

Ob die Rosen schon sind wach:

Bring die tauverklärten!

Rosen, Rosen bringe!

Rosenduft soll wehn!

Wenn ich trink und singe,

Muß ich Blumen sehn!


Horch! Der tiefe Amselschlag

Schallet aus den Gründen;

Treue Wächter soll der Tag

Heiter in uns finden.

Wer wird denn vermissen

Eine kurze Nacht,

Wenn sie sangbeflissen,

Wacker durchgewacht?


Tief ist unsrer Freude Born,

Tiefer als das Leiden,

Doch es wacht der helle Zorn

Gleich in ihnen beiden.

Darum lasset rinnen

Letztes Glas und Lied!

Zornig uns von hinnen

Nun die Freude zieht!


Und der Lüge schwarzen Molch

Tapfer anzustechen,

Dem gemeinen Höllenstrolch

Kühn das Horn zu brechen:

Ja, die Nas zu finden,

Die uns nicht gefällt,

Ziehn mit allen Winden

Fort wir in die Welt!

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 294-295.
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