[387] Erwiderung auf sein Lied »Unter dem Himmel«


Morgenblatt 1845


Laßt mich in Gras und Blumen liegen

Und schaun dem blauen Himmel zu,

Wie goldne Wolken ihn durchfliegen,

In ihm ein Falke kreist in Ruh.


Die blaue Stille stört dort oben

Kein Dampfer und kein Segelschiff,

Nicht Menschentritt, nicht Pferdetoben,

Nicht des Dampfwagens wilder Pfiff.
[387]

Laßt satt mich schaun in diese Klarheit,

In diesen stillen, sel'gen Raum:

Denn bald könnt werden ja zur Wahrheit

Das Fliegen, der unsel'ge Traum.


Dann flieht der Vogel aus den Lüften,

Wie aus dem Rhein der Salmen schon,

Und wo einst singend Lerchen schifften,

Schifft grämlich stumm Britannias Sohn.


Schau ich zum Himmel, zu gewahren,

Warum's so plötzlich dunkel sei,

Erblick ich einen Zug von Waren,

Der an der Sonne schifft vorbei.


Fühl Regen ich beim Sonnenscheine,

Such nach dem Regenbogen keck,

Ist es nicht Wasser, wie ich meine,

Wurd in der Luft ein Ölfaß leck.


Satt laßt mich schaun vom Erdgetümmel

Zum Himmel, eh es ist zu spät,

Wann, wie vom Erdball, so vom Himmel

Die Poesie still trauernd geht.


Verzeiht dies Lied des Dichters Grolle,

Träumt er von solchem Himmelsgraus,

Er, den die Zeit, die dampfestolle,

Schließt von der Erde lieblos aus.


Justinus Kerner

Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 387-388.
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