Geistergruß

[400] Ich sah ein holdes Weib im Traum

Auf rotem Laube sitzen

Wohl unter einem bereiften Baum,

Der tät wie Silber blitzen.


Er blitzte wie Silber und Kristall

In lieblicher Wintersonne;

Leis rauscht' der Wind, wie Demantenfall

Perlt's von des Baumes Krone.


Und auch der Schönen wallendes Haar

Sah weiß wie Schnee ich prangen;

Denn ach, wie manches liebe Jahr

Ist schon ins Land gegangen!
[400]

Doch blühte noch ihr Antlitz fein

Gleich weißen Rosenauen,

Im Aug der alte Sternenschein

Und rot der Mund zu schauen.


»Wo kommst du her, wo gehst du hin?«

Sprach ich mit sanftem Beben;

»Bist selig? Bist du Büßerin?

Wo lebst du nun dein Leben?«


Sie lächelte mild am selben Ort,

Auch hab ich sie nicken sehen;

Sie sprach ein halb gehauchtes Wort,

Das konnt ich nicht verstehen.


Des Reifes Flocken fing sie dann,

Die fallenden, unverdrossen

Und bot mir die Juwelen an,

Die auf der Hand zerflossen.


Drauf stieg der Nebel aus dem Tal,

Empor aus Fluß und Weihern,

Verhängend rasch des Waldes Saal

Mit seinen dichten Schleiern.


Ich sah sie zwischen die Bäume hinein

Tief in den Schatten gehen

Und ihres Haares Silberschein

In Düsternis verwehen.


Noch hat es hier, noch hat es dort

Wie Augenglanz gefunkelt;

Zuletzt war die Erscheinung fort

Und auch der Traum verdunkelt.


Quelle:
Gottfried Keller: Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 1, Berlin 1958–1961, S. 400-401.
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